Читать книгу Das Prinzip von Hell und Dunkel - Peter Schmidt - Страница 12
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ОглавлениеEs war beschwerlich, in der Dunkelheit den Weg zu finden. Das Depot lag in einem Kellergewölbe – einem ehemaligen Weinausschank. Jetzt standen auf den Holzböcken nur noch ein paar armselige Fässer ohne Deckel, von den Decken hing eine ramponierte Karnevalsdekoration, und wo einmal die Theke mit ihren Zapfhähnen und Spülbecken gewesen war, gähnte nur ein schwarzes Loch im Beton.
An der Stirnwand des schmalen Aufenthaltsraumes der Kellner, eher Korridor als Zimmer, standen zwei geräumige Kühltruhen mit chemischer Kühlung, wie sie um 1990 eingeführt worden waren.
In ihnen bewahrte er seine Sachen auf. Sie war vollgestopft mit Konserven, Rasierklingen, Seife, Schnürsenkeln, Kerzen, Trockenbrennstoff aus Armeebeständen und zahllosen anderen Kleinigkeiten für den täglichen Bedarf.
Ein Stück tiefgefrorenes Rindfleisch, ein Lendenstück, das er in der einen der beiden Truhen lagerte, deren Kühlung noch funktionierte und die deshalb nur verderbliche Lebensmittel enthielt, war sein ganzer Stolz.
Wie bei einem Gourmet, dem es fast mehr auf das Wissen und seine Wissenschaft vom Essen ankam als auf das Essen selbst, regte es immer aufs Neue seine Phantasie an.
Er nahm es manchmal heraus, hielt es sekundenlang in der Hand und stellte sich vor, wie ein Teil davon in der Pfanne brutzelte – steckte es dann aber wieder sorgfältig zurück, damit es nicht antaute und verdarb. Die Neuen lebten fleischlos und rein vegetarisch. Es gab jedoch Fleischersatz, wie die Wurst aus der neugezüchteten Tschaukapflanze, einem dickblättrigen Gewächs mit klebrigen gelblichen Knollen, das ebenso nahrhaft war und ganz ähnlich schmeckte.
Andere Lebewesen zu verspeisen, die kaum anders fühlten als sie und den gleichen Schmerz empfanden, wenn sie starben, wäre ihnen unmöglich gewesen.
Erst WEDA hatte die alte Erkenntnis ernstgenommen, dass landwirtschaftliche Nutzung ökonomischer war als Tierhaltung im großen Stil.
Ein anderer Teil der Truhe enthielt zwei Maschinenpistolen mit der dazugehörigen Munition. Es waren Waffen aus einer Polizeistation. Der Doktor hatte sie sich beschafft, als plündernde Banden in den ersten Tagen nach der Katastrophe durch die Stadt gezogen waren, Resistente oder jene, die dem P-Meningokokkus etwas länger widerstanden als normal.
Die Tür des Raumes verdeckte eine geschnitzte spanische Wand. Bisher war ihm noch niemand auf die Schliche gekommen. Er hatte sich ein Klappbett besorgt, ein Militärbett, das aus einem dünnen Rohrgestell mit Leinenbespannung bestand.
Es war nicht bequem, aber sein Kreuz gewöhnte sich mittlerweile an alle möglichen und unmöglichen Unterlagen. Im Sommer war es, als plötzlich ein Unwetter hereinbrach, der Steinfußboden einer Metzgerei gewesen, und einmal sogar eine kurze Holzbank in den Gängen des Sozialgerichts.
Auf dem Schemel am Kopfende stand ein altertümlicher Wecker zum Aufziehen, der ihn morgens mit blechernem Läuten weckte.
Wargas braute sich einen starken schwarzen Tee auf (er schmeckte bereits muffig), süßte ihn mit viel Zucker und trank ihn in kleinen Schlucken, weil er noch etwas lesen wollte, aber sich eigentlich schon zu müde dazu fühlte.
Er drehte das Licht der Petroleumlampe größer und nahm den alten Bericht über die Folter heraus, ein dickes Handbuch, das vom „Komitee zur Abschaffung politischer Verfolgung“ verfasst worden war. Es wurde damals bereits in der dreiundzwanzigsten, ergänzten Ausgabe aufgelegt.
Manchmal las er darin, um seine melancholischen Anwandlungen über das Ende der alten Zeit im Zaume zu halten (er hätte den Gefühlsabschalter dazu benutzen können, obwohl seine Silberoxidbatterie schon schwach war, aber manchmal fühlte er sich herausgefordert, es ohne das Ding zu schaffen – Jahrtausende lang hatte man Leid und Schmerz ohne solche Hilfen ertragen, das brachte ihn sich selbst gegenüber und jenen schattenhaften Gestalten der Vergangenheit, die ihn in der Einbildung umstanden, in Verlegenheit).
Auch wenn er selbst ein Verfolgter war, erschien ihm doch das gegenwärtige System – bei allen Schwächen, die ihm in der Übergangsphase anhafteten – unendlich viel besser als das alte.
Damals hatte es allein in einem Jahr an vierzig Fronten der Welt Kriege gegeben (eine Zahl, die nicht einmal einen Rekord darstellte), kleine und große Zwiste, die verbalen Drohungen und Streitereien über Bodenschätze, Grenzziehungen, Einmischungen in innere Angelegenheiten und ideologische Fragen nicht eingerechnet. Das Ringen um Einflusssphären und Rohstoffquellen war nie zur Ruhe gekommen, und bei den Abrüstungsverhandlungen hatte ein Schritt vorwärts drei Schritte rückwärts eingebracht.
Nach dem begrenzten Atomkrieg in Vorderasien schien es, als sei angesichts von Millionen Toten für lange Zeit Friede eingekehrt. Doch es war nicht mehr als eine kurze Atempause.
Die letzten Gräueltaten in den südamerikanischen Ländern hatten jeden Optimisten eines Besseren belehrt. Wenn in einem einzigen Jahrhundert zweihundertzwanzig Millionen Menschen durch Kriege sterben konnten, dann durfte man an der Schwelle zur Jahrtausendwende nicht erwarten, dass sich daran etwas Grundlegendes ändern würde, es sei denn, ein paar beherzte Männer wie jene in den Laboratorien von WEDA sannen auf Abhilfe. Dabei nahmen die Verfasser des Handbuchs an, dass der „heimliche Krieg“, jener politischer wie auch privater Art, was seine Opfer anbelangte, noch ausschweifender gewesen war.
Niemand zählte die Geschlagenen und Gedemütigten. Und wie viele waren Hungers gestorben? Wie viele in Gefängnissen und Konzentrationslagern als politisch Verfolgte umgekommen? Es gab keine verlässlichen Statistiken, nur Schätzungen. Vermutlich lagen sie eher zu hoch als zu niedrig.
Man hätte glauben können, eine hochtechnisierte Gesellschaft verwende auch hochtechnisierte Folterwerkzeuge (was keine Entschuldigung gewesen wäre). Gelegentlich war das der Fall. Aber in aller Regel wandte man jene Methoden an, die schon im frühen Mittelalter beliebt gewesen waren.
Ein immer wieder wirksames Foltermittel war, den Kopf des politischen Gefangenen so lange in eine Tonne mit Wasser zu drücken, bis er – kurz vor dem Ertrinkenstod – mit beiden Händen wild gegen den Rand schlug: ein Zeichen gab, dass er bereit war, sein Geständnis zu unterschreiben, den Hungerstreik abzubrechen oder auf andere Weise seine Gesinnung zu ändern.
Solche Einzelheiten aus dem Handbuch des Komitees zur Abschaffung politischer Verfolgung machten es ihm leicht, seine melancholischen Anwandlungen im Zaume zu halten. Nein, er trauerte der Vergangenheit nicht nach. Sie schien vor allem aus Gräueltaten bestanden zu haben. Hexenverfolgungen, Religionskriege und Pogrome hatten einander abgelöst. Es gab keine Kriege, sei es der einen oder der anderen Art, aus denen man seine Lehre zog.
Er ließ das Buch zu Boden sinken, starrte noch eine Weile zur Decke und fiel dann in einen bleiernen Schlaf.