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Als Wargas gefunden hatte, was er suchte, drei bauschige Seidenblumen, rot und blau schillernd, je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtete (so schillernd wie Veras Charakter) – er glättete sie sorgfältig und rollte sie in Seidenpapier ein, das er aus einem der Kartons zog, dann steckte er sie in die Innentasche seiner Jacke –‚ hörte er plötzlich Motorgeräusch von der Straße.

Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen! Es war das vertraute Geräusch, das ihn an eine ferne Zeit voller straßenverstopfender Blechlawinen erinnerte, die sich im Schneckentempo vorwärts bewegten. Ein Gedanke, der ihn elektrisierte …

Das Geräusch kam näher. Dem Klang nach offenkundig ein Personenkraftwagen.

Wie ist das möglich?, dachte er. Es gab keinen Tropfen Sprit mehr in der Stadt. In den ersten Monaten, als alles umgestellt wurde, hatte man jede Energiequelle ausnutzen müssen, und selbst die großen Raffinerielager in der ehemaligen nördlichen Industriezone waren ein Opfer der Aufbauphase geworden.

Wargas näherte sich dem Fenster; er sah auf die Straße. Voller Unbehagen stellte er sich vor, dass die Purificateurs jetzt auch schon Fahrzeuge benutzen könnten, um ihn zu jagen. Ihre kleinen Elektromobile zum Beispiel.

Aber nein, es war ausgeschlossen. Das Geräusch stammte von einem Benzinmotor. Außerdem wäre es unpraktisch gewesen, sie benutzten eine der Magnetbahnen bis zum Stadtrand und nahmen sich ihre Bezirke zu Fuß vor, weil sie ohnehin zahllose Treppen steigen und Gänge und Zimmer durchsuchen mussten. Während er noch darüber nachdachte, argwöhnisch und auf der Hut wie immer, sah er den Wagen auch schon um die Verkehrsinsel biegen.

Es war eine offene, viersitzige Limousine, silbergrau und verbeult, voller Rostflecken an den Kotflügeln, und sie sah aus, als habe ihr früherer Besitzer das Verdeck mit dem Schneidbrenner abgetrennt, um sie als Kabriolett benutzen zu können.

Der junge Mann am Steuer war hellblond, von nordfriesischem Typ und mager, sein Hemd flatterte im Fahrtwind. Das Mädchen daneben trug ein glänzendes Stirnband über dem brünetten, glatt zurückgekämmten Haar, und der Junge legte lachend den freien Arm um ihre Schultern, während sie mit quietschenden Reifen am Metropol-Kaufhaus vorüber nach rechts einbogen und verkehrt herum in eine schmale Einbahnstraße rollten.

Ihr Wagen schaukelte stark, die Stoßdämpfer schienen beschädigt zu sein; seine Vorderräder hüpften an der Bordsteinkante hoch und kamen mitten auf dem Bürgersteig vor einem Schaufenster zum Stehen.

Wargas kannte das Geschäft, eine verwinkelte kleine Buchhandlung, in der er sich früher mit wissenschaftlicher Literatur versorgt hatte. Seine Scheibe war zwar heil geblieben, die Auslage aber schon lange ausgeräumt.

Der Inhaber, ein jüdischer Emigrant, hatte Wert auf individuelle Bedienung gelegt. Aber das war lange her.

Er nahm an, dass seine Leiche längst irgendwo mit Kalk bestreut unter der Tonerde ruhte – oder als Staubwolke über die Stadt wehte.

Die Purificateurs hatten sich um alles Lesbare besonders gründlich gekümmert. Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen waren angezündet worden, ihre Magnetbandarchive und Textspeicher gelöscht. Die Lager der Buchhandlungen hatte man geräumt und an für die Öffentlichkeit unzugänglichen Stellen deponiert, vermutlich hinter dicken Mauern.

Doch es gab immer noch Bücher, die übersehen worden waren. Ein ungewöhnlicher Glücksfall hatte ihn den Schlüssel zur Universitätsbibliothek finden lassen.

Wargas war eingefallen, dass sich in der ehemaligen Wohnung des Hausmeisters wahrscheinlich ein Notschlüssel befand, in einem roten Kästchen mit Glasscheibe, wie vorgeschrieben. Tatsächlich hatte damals bei der allgemeinen „Bestandsaufnahme“ niemand daran gedacht, und es war ihm gelungen, drei Tage lang in der Bibliothek unbemerkt ein und aus zu gehen, ehe sie ihn schließlich doch entdeckten.

Sicher keine Purificateurs, überlegte er. Dazu waren sie zu jung. Und zu unbekümmert. Auch keine aus der alten Generation. Von ihnen sah man gewöhnlich nur die Schatten. Er schätzte das Mädchen auf höchstens fünfundzwanzig Jahre (allerdings konnte er sich auf diese Distanz und vom Fenster aus nur schwer ein Bild machen). Der Junge mochte erst um die Zwanzig sein.

„Halbsynthetische“ also, dachte er (obwohl sie so wenig synthetisch waren wie er). Geschöpfe WEDAs. Aber was hatten sie hier zu suchen? Im allgemeinen hielten sie sich streng an die Anweisung, der verbotenen Zone nicht einmal bis auf Sichtweite nahe zu kommen.

Ihr Begleiter winkte ihr zu, als er ausstieg. Das Mädchen schien zwar willens zu sein, sonst wäre es wohl nicht mitgefahren, nun, so dicht vor dem Ziel, aber doch zu zögern.

Wargas wusste aus den Nachrichtensendungen, dass es keine wirkliche Strafe für sogenannte Vergehen gab, mit einer, allerdings sehr seltenen Ausnahme. Man appellierte an Einsicht und Vernunft und setzte darauf, dass die Meinung der anderen einen schnell zur Räson bringen würde, weil sie, als nicht „abweichlerisch“ Empfindende, wegen ihrer Sensibilität und Feinfühligkeit (die manchmal, vor allem, was grundsätzlich moralische Fragen anbelangte, fast an Rührseligkeit grenzte), besonders empfindlich auf jeden Verstoß reagieren würden.

Es war jedenfalls das Bild, das sich der Doktor gegenwärtig von ihnen machte. Moralität nicht so sehr aus freiem Willen, der seine Trägheit und seine angeborenen oder erlernten Schwächen überwand, sondern weil man dazu eine Neigung verspürte.

Der Junge nahm die Stufen des Buchladens mit einem Sprung und war gleich darauf verschwunden. Das Mädchen folgte ihm langsamer – und sah zögernd in den dunklen Innenraum …

Er besaß keine Türen mehr, damit die Purificateurs ungehindert ein und aus gehen konnten.

An solchen Stellen vermuteten sie immer Flüchtlinge – als ziehe es die Alten unwiderstehlich zum Ort ihrer früheren Verbrechen zurück, dorthin, wo man ihre kulturellen Verranntheiten nachlesen konnte.

Dabei hatte sich schon in der Zeit vor der Jahrtausendwende außer Wissenschaftlern oder Studenten und den ewig unverbesserlichen Bücherwürmern kaum noch jemand für Literatur interessiert.

Ein Schritt, ein winziger Anstoß, der sie in den Zeitungen und Magazinsendungen als ein trockenes und viel anstrengenderes Vergnügen abwertete, verglichen mit den flimmernden bunten Bildern, und das Lesen wäre völlig aus der Mode gekommen, da es die meisten ohnehin so empfanden.

Seiner Überzeugung nach war es nur deshalb nicht ganz entbehrlich geworden, weil man sonst keine Straßenschilder, Digitaluhren, die Etiketten der Schnapsflaschen oder seine Gehaltsabrechnung hätte entziffern können. Das alles hatte sich erst in der Weda-Zeit gebessert, nachdem Lyons Eierköpfe dazu übergegangen waren, den Genen ihre eigenen literarischen und feingeistigen Vorlieben einzupflanzen.

Seit man mit Hilfe von elektronischen Schablonen und elektronenmikroskopischen Feinstlasern kleinste Einheiten aus dem genetischen Material herauslösen und durch das „Finder“-Verfahren beliebig wieder einsetzen konnte, hatte sich die Technik bis an die Grenze des überhaupt Denkbaren verfeinert, weit entfernt vom vorsintflutlichen Zellkernaustausch mit Mikropipette und Hohlnadel.

Es war möglich, Interessen, Vorlieben, Neigungen zu kombinieren, soweit sie überhaupt kombinierbar waren und solange sie nicht zu mit einander im Streit liegenden Interessen oder Gefühlsspannungen führten.

Im Grunde gab es nur eine einzige ernst zu nehmende Strafe für ein Vergehen wie das des jungen Pärchens, wenn sie auch äußerst selten angewandt wurde:

Unter WEDAs Seelenaustauschern zu enden, diesem Ding, das in Wirklichkeit, davon war er überzeugt, ein simpler Gehirnwellenblockierer war; nur etwas stärker als das Gerät, das er zur Unterdrückung von Theta-Wellen am Krankenhaus benutzt hatte. Bei schlechtgelaunten Erwachsenen, vor allem jenen mit einer starken Neigung zu zerstörerischem Verhalten, überwogen die Theta-Wellen und konnten sich über weite Hirnbezirke verbreiten.

D. Hill hatte schon vor langer Zeit, im Jahre 1950, als Wargas noch nicht einmal geboren war, entdeckt, dass es eine Gruppe von Psychopathen mit einer sehr speziellen, charakteristischen Theta-Entladung gab, die er „dysrhythmisches aggressives Verhalten“ nannte.

Indem sie mit den Geräten der neuen Generation an seinem Krankenhaus unterdrückt wurden, unterdrückte man auch ihr physisches und psychisches Korrelat: man unterdrückte die bösen oder verrückten Gedanken und beeinflusste das im Körper, was sie hervorbrachte, auf welche Weise auch immer.

WEDA schien sich dieses Effektes nun zu bedienen, um in einem technisch weiterentwickelten Verfahren die Aktivität des Gehirns auf schmerzlose Weise ganz einfach einzustellen – das Böse – oder was ihre alten Männer für das Böse hielten – abzuschalten.

Gewiss hatte er in seiner eigenen Arbeit, die auf etwas ganz Ähnliches abzielte, einige Erfolge aufzuweisen gehabt, auch in der Neurochirurgie. Seit ihre Methoden verfeinert waren, beschränkte sie sich nicht mehr auf steinzeitliche Schädelöffnungen, Operationen, wie man sie schon bei Ausgrabungen gefunden hatte. Viel Leid, zahllose spätere Fehlentwicklungen und persönliche Katastrophen ließen sich mit ein paar Schnitten vermeiden, wenn sie nur fachgerecht ausgeführt wurden.

Aber es blieb der verhängnisvolle Einfluss der Umwelt. Das tausendfache Beispiel von Gewalt, Mord und Korruption, von Eigensucht, Eskapismus und Unfrieden. Aus der persönlichen Katastrophe wurde leicht die gesellschaftliche. Während sein eigenes Bemühen in all den Jahren nicht viel mehr eingebracht hatte, als einige Symptome zu unterdrücken (Flickschusterei am Bewusstsein, das alles) und, im günstigsten Fall, eine Neuorientierung des Patienten einzuleiten, schaffte WEDA die Probleme durch eine Änderung der angeborenen Voraussetzungen aus der Welt …

Sie riskieren es, dachte er mit einer eigenartigen Mischung aus Erstaunen und Irritation und sah wieder auf die Straße und den parkenden Wagen hinaus.

Sie riskieren den Tod im Gehirnwellenblockierer. Das war noch nie vorgekommen.

Er hatte nicht ein einziges Mal beobachten können, dass außer den Säuberern jemand die alte Stadt betrat. Wenn er sie überhaupt zu Gesicht bekommen wollte, musste er sich mit einem guten Fernglas auf einen Hochhausturm der ehemaligen Universität legen (er befürchtete nur, das Blitzen der Gläser in der Sonne könnte ihn verraten); von dort aus, vom Stadtrand, sah man in die grünen Täler jenseits des Flusses, der eine inoffizielle Grenze darstellte.

Niemand verbot ihnen, das andere Ufer zu betreten, keine der drei Brücken war gesperrt.

Doch es brachte einen nur allzu leicht in den Verdacht, Interessen zu hegen, die jeder Einsichtige missbilligen musste. Man hätte beobachtet werden können.

Von dort aus waren es nur wenige Schritte bis zur Straße mit den ersten beiden Häuserzeilen, hinter denen, am gegenüberliegenden Hang jenseits des botanischen Gartens, die Gebäude des Observatoriums und die Kuppel des Auditorium maximum folgten.

Doktor Wargas konnte vom Dach der alten soziologischen Fakultät aus (er saß manchmal bei klarem Wetter dort) Teile ihrer neuen Wohnanlagen erkennen: terrassenförmig angeordnete acht- bis zwölfstöckige Gebäude, die sich in Farbe und Form der Landschaft einpassten, und weiter südlich, entlang des Rheins und nach Frankreich hinein, sah es nicht anders aus, wie er aus den allerdings zu seltenen Bildern im Fernsehen wusste. Der hervorstechende Eindruck dieser Orte war ein beinahe subtropisches Grün.

Da sich das Klima durch Umwelteinflüsse in den letzten fünfzig Jahren um einige Grad erhöht hatte, gediehen Pflanzen, die man früher vor allem in südlicheren Regionen angetroffen hatte, im Mittelmeerraum und in Südamerika: der Flamboynat mit seinen scharlachroten, gelbgestreiften Blüten oder der Drachenbaum; Tajenastren, meterhohe, dickfleischige Agaven und kaktusähnliche Euphorbien vermischten sich mit alteingesessenen Eichen und Ulmen.

WEDA in Lyon förderte diesen Vegetationsreichtum, man war bestrebt, aus allen Weltregionen, soweit sie die atomare Katastrophe und den Fallout überstanden hatten, Pflanzen anzusiedeln.

Bei guter Sicht erkannte er, dass fast sämtliche Steinwände von Ranken überwuchert waren – ein idealer Schmuck, und zugleich Kälte- und Wärmeschutz.

Da Waren und Lebensmittel über unterirdische Transportbänder und Magnetbahnen angeliefert wurden, trübte nichts den Eindruck einer Gartenstadt, und Doktor Wargas konnte halbe Tage damit zubringen, auf den Dächern der Randzone liegend das Leben und Treiben zwischen Bänken und Brunnen zu beobachten, den öffentlichen „Malwänden, an denen man seine bildnerische Gestaltungskraft erprobte, den literarischen Lesungen, den Musik- und Pantomimegruppen.

Ein beliebter Zeitvertreib war das „Gen-Spiel“, bei dem man anhand farbiger Tafeln, auf denen die DNS mit ihren charakteristischen Ketten von spiralig angeordneten Nukleotiden und verbundenen Basen, deren Folge den genetischen Code bestimmte, ähnlich einem Schachspiel neue Kombinationen erfand und sie mit den der geltenden Lehre entsprechenden physiologischen und charakterlichen Anlagen verglich.

Sieger war, wer die meisten Treffer zu einer Neuschöpfung erzielte; solche Kombinationen hatten Aussicht, von WEDA in Lyon als Modelle verwendet zu werden – und eines Tages würde man ihnen vielleicht als leibhaftige Menschen begegnen.

Er fand das alles höchst interessant und überzeugend. Doktor Wargas erinnerte sich dann der alten Zeiten, als der Gestank der Schlote über das Land wehte und sich nach Norden, zum Rhein hin, Hochöfen und Fördertürme aus dem ewigen Dunst von Schwefeldioxid und anderen Abgasen erhoben, für den diese Gegend berüchtigt gewesen war; der Baumbestand war dezimiert, die Durchschnittstemperatur erhöht, die oberen Schichten der Atmosphäre waren verseucht und die Ozeane um einen knappen halben Meter angestiegen; seit der Abholzung der Amazonas-Urwälder hatte die Verkarstung, Versteppung und Verwüstung zugenommen, die Sauerstoffdichte sich vermindert; der Dünnsäurepegel der Weltmeere hatte küstennahe Fische ungenießbar gemacht; Knochenleiden und Hauterkrankungen nahmen zu; Nierenschäden waren an der Tagesordnung; Missbildungen bei Neugeborenen die Regel, soweit WEDA (er fasste instinktiv nach der silbernen Kappe über seinem Ohr, wenn ihn die Erinnerung überkam) sich nicht bereits ihrer Erbanlagen angenommen hatte

Falls die beiden es darauf anlegten, den Purificateurs in die Arme zu laufen, hatten sie alles Erforderliche dazu getan: sie waren lärmend die Straße mit einem altmodischen Benzinmotor entlanggefahren, parkten auffällig auf dem Bordstein, und jetzt schepperte im Inneren des Ladens sogar ein Fenster, oder eine Glastür schien in tausend Splitter zu zerfallen, weil der Junge sie einschlug.

Er hatte keine Ahnung, wie weit die Befugnisse der Säuberer in einem solchen Fall gingen, ob es ein Verfahren gab oder Aburteilung auf der Stelle.

Dass sie die Seele des Schuldigen ihrer Seelenbank zuleiteten, erschien ihm eher wie die Mär vom Geist jenes Ahnen, der in den Bäumen lebte. Immerhin verfehlte die Drohung ihre Wirkung diesmal, denn das Mädchen folgte dem Jungen trotz des Lärms hinein, und Wargas beeilte sich, durch das stockfinstere Treppenhaus ohne sich den Hals zu brechen auf die Straße zu gelangen, weil er neugierig war, was sie wohl dort trieben.

Er erinnerte sich, dass der Laden in der Mitte des Verkaufsraums eine Wendeltreppe besaß, die zur ersten Etage führte – und dass man von dem Vorbau eines höher liegenden Parkhauses gut durch seine Fenster sehen konnte

Es wird doch kein Schäferstündchen sein?, überlegt er. Dazu brach man keine Scheiben entzwei. Nach allem, was er wusste, paarten sie sich nicht mehr. Die Sexualität, Quelle der Lust und des Leidens zugleich, war ihnen auf immer genommen worden.

Eine Erleichterung, wie er vermutete, wenn er an seine eigenen, nicht selten unerfreulichen Erfahrungen mit Vera dachte. Sie gebaren zwar noch, aber die Einpflanzung der Erbanlagen erfolgte mit Hilfe elektronischer Schablonen; nur eine winzige Operation, ein Eingriff wie das Plombieren von Zähnen. Auf die Verschmelzung des männlichen und des weiblichen Kerns nach gewöhnlicher Manier konnte man inzwischen verzichten.

Doktor Wargas hatte erfahren, dass eine außerordentliche Verfeinerung der platonischen Liebe die Folge war (was niemanden daran hinderte, zärtlich zu sein; es war weniger die Austreibung der Sinnlichkeit als das Ende der exzessiven Fleischeslust, die nur in die Versklavung heftiger Gefühle führte). Wenn man bedachte, dass einige Perversionen wie Nekrophilie, Sodomie, Sadomasochismus damit auf der Strecke blieben, stimmte das nicht gerade unversöhnlich.

Lust und Hebung des Selbstwertgefühls, wie sie die Sexualität vermittelte, schienen von WEDA auf überzeugende Weise durch andere, letztlich bekömmlichere Freuden ersetzt worden zu sein: Ausgeglichenheit, Harmonie, Toleranz, Wohlwollen, Freundlichkeit, Erfüllung.

Da Sexualität in fast allen Religionen als notwendiges Übel, eigentlich aber als Selbstbefleckung angesehen worden war (von der Manie zur Katastrophe nur ein kleiner Schritt, wenn man an das Elend dachte, das sie, ebenso wie Religion und Politik, verursacht hatte), war es nicht schwer gewesen, diese Abneigung und Enthaltsamkeit, die sonst vor allem alte Leute und Priester heimsuchte, für den neuen Zweck zu verstärken und sie zu einem standardisierten Wesenszug werden zu lassen.

Im Grunde war, seit man das „Finder“-Verfahren beherrschte und die neue Laser- und Schablonentechnik besaß, nicht viel mehr dazu notwendig gewesen, als den genetischen Code noch weiter zu entschlüsseln und sie in der Erbmasse als diese bestimmte Kombination von Basenfolgen zu identifizieren. Jedenfalls sah es nach den Diagrammen und Schaubildern, die man gelegentlich im Fernsehen zeigte, ganz einfach aus. Jeder aufgeweckte Schuljunge hätte ihre Technik beherrschen können.

Er überzeugte sich mit einem schnellem Blick, dass die Straße sicher war und lief geduckt zur anderen Seite. Ganz sicher konnte man allerdings nie sein, weil die Purificateurs manchmal irgendwo hinter den offenen Fenstern auf dem Fußboden zu sitzen pflegten, um abzuwarten und bei dem geringsten Geräusch ihren Kopf über die Fensterbank zu schieben.

Sie waren einen Großteil ihrer Zeit zur Untätigkeit verdammt: das frustrierte, machte zornig und schärfte ihr Gehör wie bei einer Fledermaus (der Doktor war ohnehin überzeugt, dass sie die Flöhe husten hörten, weil man ihre Hörfähigkeit genetisch der Empfindlichkeit von Hunden angeglichen hatte; auch ihre übergroßen, beweglichen Ohren sprachen dafür).

Wie schon so oft, erschrak er deshalb vom Geräusch seiner eigenen Schritte, als er, am Geländer einer Kellerbar entlang, deren Reklameschild „Intime Massagen“ versprach, über ein leeres Tankstellengelände hastete und dann, nach etwa dreißig Metern, die schützende Auffahrt der Großgarage erreichte.

Er nahm mit einem Anlauf die Schräge. In den Einstellplätzen standen noch Fahrzeuge, als seien sie von ihren Besitzern zum Einkauf zurückgelassen worden: chromglänzend und nur mäßig verschmutzt.

Die Betongewölbe hatten sie vor Staub und Witterungseinflüssen bewahrt. Ein Palmzweig aus Kunststoff lag auf dem Fußboden. Der Doktor stolperte darüber hinweg.

Wo kommt das Zeug her?, dachte er, sich ungläubig umblickend. Wahrscheinlich auch noch geweiht!

Früher hatten solche Zweige, über dem Stubenkreuz oder der Türschwelle, als Schutzmittel gedient. Seit die Kirchen vernagelt waren, gab es das Anbeten eines höheren Wesens nicht mehr, dieses demütigende Herr-Knecht-Verhältnis. Es hätte ein Gefühl der Unterlegenheit erzeugt. Aber der neue Mensch hatte nach WEDAs Überzeugung keinen Anlass dazu.

Das Prinzip von Hell und Dunkel

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