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Doktor Wargas sah prüfend zum Schachteingang hinauf. Er führte den Zahnstocher zwischen die Zähne. Es war einer der Gegenstände, die sie Relikte nannten und jetzt kaum noch zu finden …

Wie bei den meisten Dingen des täglichen Lebens musste man lange in den ausgeplünderten Geschäften danach suchen. Die warme Mittagssonne schob sich über den Dachfirst und schien ihm ins Gesicht. Abgehängt, dachte er zufrieden. Keine Spur von seinen Verfolgern …

Er musterte die obersten Leitersprossen. Manchmal machte das Spiel ihm sogar Spaß. Alter Fuchs, du hast sie wieder mal abgehängt! Diese Halbsynthetischen – so nannte er sie scherzhaft für sich selbst – haben nicht halb soviel Grips wie wir Relikte aus der Vorzeit.

Der Schacht endete oben in einer schmalen Betonbrücke mit rostigem Geländer. Verrostet wie alles aus Eisen, das so lange Zeit ohne Anstrich überdauert hatte. Sie spannte sich zwischen den grauen Wänden eines höher gelegenen Wohnblocks. Ihr Ende war von der Straße aus sichtbar, und es gab keinen anderen Weg hinunter – keinen, den er kannte …

Er würde jeden Verfolger auf der Brücke oder am Schachteinstieg entdecken. Spätestens aber, wenn er die Leiter herabstieg …

Dann hatte er noch immer genügend Zeit, um durch die Seitenstraßen zu verschwinden, wo es zahllose aufgebrochene Läden und Warenhäuser gab, ein Labyrinth, in dem sie ihn niemals finden würden. Niemals

Trotzdem war es sicherer, noch eine Weile abzuwarten. Außerdem übertrieb er. Ihre Intelligenz unterschied sich nicht von der früherer Generationen; eher im Gegenteil. Sie kontrollierten die Stadtruinen in Dreiergruppen, und manchmal kehrten sie unerwartet zurück und nahmen einen in die Zange.

Wargas setzte sich auf eine Mülltonne an der Häuserwand und betrachtete seine gedrungene, kurzbeinige Gestalt in der zerbrochenen Schaufensterscheibe. Dies hier war einmal die lichtumstrahlte Fassade eines Supermarktes gewesen: jetzt spross aus den Wandritzen gelbes Gras, und durch die leeren Fensteröffnungen pfiff der Wind.

Sein kahler Schädel glänzte vor Schweiß. Sie hatten ihn morgens in den Ruinen der Ruhr-Universität aufgestöbert, wo er sich gerade über die wissenschaftliche Videothek hermachte, und dann treppauf, treppab gejagt, wie schon so oft.

Dabei verlor er mindestens zwei Kilo. Nicht nur aus Angst, sondern weil sie zäh und ausdauernd waren, trainiert bis in jede Muskelfaser, obwohl sie mit ihren gewöhnlichen grauen Straßenanzügen, den altmodischen Hüten oder blauen Schirmmützen wenig sportlich wirkten.

Eher wie alternde Agenten aus der Vorzeit; was daran lag, dass sie meist die Erfahreneren, die alten gewieften Hasen für die Jagd in den gesperrten Bezirken einsetzten.

Sonnenlicht fiel durch eine eingebrochene Decke ins Innere des Ladens, als das Gewölk wieder aufriss, und brachte ihn und das Bild der gegenüberliegenden Straßenzeile zum Verschwinden.

Eine graue Fassadenreihe mit Wohnungen, die sehr abgewohnt und wie vieles in dieser zusammengewachsenen Industriemetropolis schon nach dem zweiten Kriege erbaut worden waren: einförmige Hauswände, verschmutzt von der Patina der Abgase, mit ebenso einförmigen Fenstern, in denen jetzt nur noch vereinzelte, zerrissene Gardinen hingen. Fensteröffnungen wie tote Augen – wie leere Blicke, die der Vergangenheit nachtrauerten.

Wargas Gedanken kehrten zu seiner Gestalt in der Schaufensterscheibe zurück, dem untersetzten Mann auf der Mülltonne, der plötzlich wieder erschien, als sich Wolken vor die Sonne schoben.

Obwohl er dreiundfünfzig Jahre alt war und einen deutlichen Bauchansatz besaß, fühlte er sich ihnen körperlich noch immer gewachsen. Er benötigte nicht einmal eine Brille.

Er hatte viel von seinem Übergewicht verloren, seit er sich vor ihnen auf der Flucht befand, und wenn ihm nicht gerade wieder einmal die Silberoxidbatterien ausgingen (er fand jetzt nur noch überlagerte Batterien, wenn er die Bestände der Geschäfte durchstöberte), fühlte er sich sogar wohler als zur alten Zeit, bevor hier alles durch einen Abkömmling der Meningokokken vor die Hunde gegangen war.

Damals, geraume Zeit, bevor er sich ganz seinem Lieblingsgebiet, der Neurochirurgie am örtlichen Krankenhaus gewidmet hatte, er betrieb noch eine gutgehende Praxis, war ihm im täglichen Umgang mit seinen Patienten immer deutlicher geworden, wie wenig sich mit seiner ärztlichen Kunst ausrichten ließ, wenn man keine stärkeren Mittel gegen den chemischen Schmerz einsetzte als jene, die ihnen gewöhnlich auf Rezept zur Verfügung standen.

Er tastete nach dem kleinen silbernen Gefühlsabschalter im Schädelknochen über seinem rechten Ohr.

Es war ein kaum acht Millimeter dicker Stift, der gerade so weit herausragte, dass man seinen Schalter mit den Fingerspitzen bequem drehen konnte; seine Kappe war geriffelt. „Optisch garantiert nicht störend“, hatte es auf den Reklameplakaten geheißen (manchmal stieß er an den Anschlagsäulen noch auf solche Plakate). Vorausgesetzt, man besaß genügend Haare über den Ohren.

Wenn er die passende Silberoxidbatterie fand, ließ es sich auch für einen der alten Generation aushalten, weil es weniger eine Frage der Verträglichkeit als der unangenehmen Empfindungen war: der Gerüche vor allem.

Man setzte der Nahrung schon seit langer Zeit chemische Neutralisatoren zu. WEDAs „neuer Mensch“ empfand die atmosphärischen Belastungen als normal; er hätte für all das nichts weiter als ein verständnisloses Lächeln aufgebracht, nahm Doktor Wargas an.

Wenn er dem, was er über die Neuen herausgefunden hatte, glauben durfte. Sie wussten nichts von der Vergangenheit, jedenfalls nicht viel. Man hielt sie sorgsam vor ihnen geheim.

Für Wargas war das Ding eine Notwendigkeit; er würde sich nie an den Gestank gewöhnen können, nicht in hundert Jahren, davon war er überzeugt. Und er hätte diese Ruinenstadt sogar verlassen und sich ins freie Land gewagt, wo sie ihre neuen Gartenstädte, ihre „Blumenorte“ bauten, um irgend jemandem aus der alten Generation, dessen Leiche er aufstöberte oder ausgrub, seinen Apparat aus dem Schädel zu operieren, wenn es darauf ankam.

Schon früher war es nur eine Erleichterung für die Besserverdienenden gewesen, das sogenannte gemeine Volk hatte sich den Luxus eines Gefühlsabschalters nie leisten können, vorausgesetzt, es wollte nicht für viele Jahre auf Dinge des täglichen Gebrauchs verzichten, von Luxusgütern ganz zu schweigen.

Allerdings hatten kurz vor dem Dritten Weltkrieg einige Leasing-Firmen damit begonnen, gegen langfristige Verträge Geräte zu vermieten; zu horrenden Mietgebühren, versteht sich.

Selbst die Kommunisten waren schließlich auf den Geschmack gekommen: nach anfänglicher Skepsis, und sie hatten ihre wertvollen Devisen für den Kauf der neuen Technologie geopfert, denn es war ein Ausweg, und es schien ihnen sogar der einzig gangbare Weg, die Fehler der Planerfüllung zu überspielen, ohne sofort eine Subkultur abhängig machender Tranquilizer und bewusstseinsaufhellender Drogen zu riskieren, wie in den westlichen Großstädten.

Anfangs hatte es Schwierigkeiten mit den feinen Silberdrähten gegeben, die vom Bereich des Ohrknochens in das limbische System, den Sitz der Emotionen, und von dort weiter in die höheren Zentren des Kortex führten, weil sie bei heftigen Bewegungen rissen.

Schon bei der zweiten Generation gab es diese Schwierigkeiten nicht mehr, von der Energiequelle abgesehen, auf die solche Geräte immer angewiesen sein würden. Sie erzeugten auch keine Apathie oder Müdigkeit wie die Vorgängermodelle. Das alles hatte man längst mit Bravour aus der Welt geschafft – ebenso, wie sich ihre Erfinder samt ihrer revolutionären Entdeckung gegen alle unangenehmen Einflüsse der Zivilisation schließlich aus der Welt geschafft hatten.

Alter Spötter, dachte er. Du solltest dich hier nicht über die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit lustig machen.

Es war eine üble Angewohnheit und während der langen einsamen Abende in den verlassenen Häusern der Riesenstadt sein einziger Zeitvertreib; er kannte die Filme der Videotheken jetzt auswendig; außerdem gab es kaum noch brauchbare Zwölf-Volt-Batterien.

P-Meningokokkus – eine in der DNS vom natürlichen Bakterienstamm weiterentwickelte Art –‚ sie besaß damals für die Strategen der bakteriologischen Kriegsführung den unschätzbaren Vorteil, durch eine Synthese aus Pneumokokken und Meningokokken Gehirnhaut- und Lungenentzündung gleichzeitig zu übertragen (eine Super-Super-Infektion) – „P-Meningokkos“, wie er ihn fast liebevoll nannte, hatte nicht mehr als einige wenige Resistente übriggelassen, und angesichts dieser neuen Spezies war es völlig unangebracht, sarkastisch zu sein.

Kein Zweifel, dass man in Lyon jetzt endlich die fehlerbehaftete Phase A mit ihren lächerlichen dreiundzwanzig Klon-Typen überwunden hatte und ein ganz respektables menschliches Wesen produzierte: harmonisch, friedlich, intelligent, kreativ – vor allen Dingen aber differenziert.

Es war ihnen gelungen, durch geringfügige Veränderung der Erbmasse immer verschiedenartigere Menschentypen zu erzeugen, die in ihrer Vielfalt fast den früheren glichen. Allerdings, ohne ihre Fehler und Schwächen zu besitzen.

Jeder Erzieher, jeder Lehrer oder Psychologe, jeder Politiker oder Friedensforscher der alten Zeit wäre an dem Vorsatz gescheitert, sei es durch Erziehung und Umerziehung, durch gesellschaftliche Normen oder Appelle auch nur ein halbwegs so intaktes Wesen wie das gegenwärtige zu schaffen.

Erst durch einige recht simple Einsichten in den Zusammenhang von Charakteranlagen und Gen-Chirurgie (für die WEDA in Lyon als erste Firma der Medizingeschichte den Nobelpreis in Biologie erhalten hatte), war es gelungen, den alten Evolutionstraum zu verwirklichen.

Wargas bezweifelte keinen Moment, dass es der richtige, der einzige Weg war, eine neue Phase in der Evolution, die sich der Mittel der Technik und der modernen Medizin bediente, um das zu erreichen, was durch freien Willen, durch Einsicht, Aufklärung und Appelle nie möglich gewesen wäre.

Er hatte einige Zeit gebraucht, bis er begriff, wie ungewöhnlich die Entwicklung in der Tat verlief – Wächter und Melanchton im ehemaligen Debattierklub des Krankenhauses, vor allem Melanchton, hätten ihre helle Freude daran gehabt, ihn zu widerlegen, aber sie waren tot, der eine von einer schnell verlaufenden Lungenentzündung hinweggerafft, der andere ein Opfer seiner entzündeten Gehirnhaut.

Es war auch nicht ganz einfach zu verstehen, auf den ersten Blick in den Augen der Alten recht zweifelhaft wenn nicht sogar obskur:

Nach all den Zwischenstufen biologischer und geistiger Art, über die tierische Existenz, über Moral und Religion (erbärmlicher Krücken, wenn man sah, was sie angerichtet hatten), schließlich über das Zeitalter der Aufklärung, den neuzeitlichen Atheismus und die Periode liberaler Rechtsstaaten, sollte sich die Natur nun plötzlich der ärztlichen Kunst und medizinischen Technik bedienen?

Gewiss war das vorausgegangene Stadium an seinen eigenen Schwächen zugrunde gegangen. Es hatte an den letzten Zielen scheitern müssen wie alle vorhergegangenen Entwicklungsstufen, weil es von Anfang an nur Durchgang war – und weil es den alten Werten nicht mehr über den Weg traute.

Nach all diesen Phasen was das Unfassliche geschehen und ein Wachstum eingeleitet worden, das den gewöhnlichen Mitteln der Mutation und Selektion niemals offengestanden hätte.

Man bewegte sich auf den Trümmern der Vergangenheit, für die man nur Verachtung übrig hatte, aber sie bildeten das Fundament.

Wargas interessierten die geschichtsphilosophischen Hintergründe brennend; leider gab es niemanden außer dem imaginären Partner seiner Selbstgespräche, den er von ihrer Wichtigkeit hätte überzeugen können.

Er glaubte den ganzen scheinbar wirren und hilflos tastenden Evolutionsstrang plötzlich überschauen zu können. Schon das allein, diese Einsicht, rechtfertigte es, zu überleben. Er nahm an, dass WEDA in Lyon, dass die führenden Köpfe dort, die „Eierköpfe“, die man niemals oder nur ganz selten zu Gesicht bekam, sich über das alles im klaren waren wie er selbst. Er hoffte es. Er setzte es voraus.

„Wir leben in einer uneinigen, verstörten, verwirrten Welt“, hatte es noch vor zwei Jahren geheißen; nun war sie offensichtlich auf dem besten Wege, die Fehler der Vergangenheit abzuwerfen.

Das Prinzip von Hell und Dunkel

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