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Der Doktor blickte zum Himmel. Es würde bald dunkel sein. Er brauchte noch Plastikblumen.

Nachts durch die Treppenhäuser einer leeren Stadt zu steigen, eine Taschenlampe in der Hand, Korridore voller offener Türen entlang, hinter denen sich diese Kerle mit ihren altmodischen Hüten und Schirmmützen verbargen, zerrte zwar nur an seinen Nerven, wenn er den Gefühlsabschalter zurückdrehte oder auf Null stellte, aber es machte auch blind für alles Schöne auf dem Weg.

So weit war die Technik dieser Dinger nie fortgeschritten, dass sie negative Gefühle, Stimmungen oder Emotionen ausfilterten, die positiven aber zuließen.

Es gab nur ein Entweder-Oder. Man beraubte sich aller Gefühle oder schaltete ihre Intensität herunter.

Doch die Welt, sowohl jene der Sinneswahrnehmungen wie auch die der Gedanken und Erinnerungen, verlor dann jeden Reiz. Man war noch in der Lage, die Zweckmäßigkeit oder den Sinn seines Handelns abzuschätzen; doch es blieb eine bloß intellektuelle Einsicht. Ein kalter Gedanke.

Wahrnehmung, als fotografiere man die Dinge ab; Gerüche ohne Reiz oder Abstoßung; Laute nicht mehr als geordnete Folgen von Tönen; selbst Schmerzempfindungen verloren ihre negative Gefühlstönung und wurden zu bloßen Empfindungen dieser oder jener Art: Von Druck, Spitzigkeit, Kontakt. Kälte zum Beispiel blieb eine „kalte“ Empfindung, aber man fror nicht, litt nicht darunter.

Ein Zustand, der leichtsinnig machte. Man riskierte mehr.

Das Bewusstsein war nicht getrübt, ganz im Gegenteil: weil die Emotionen fehlten – Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Trauer oder Eifersucht, befand man sich in jenem Zustand klarer, reiner Bewusstheit, der das Ziel vieler Religionen gewesen war.

Doktor Wargas dachte voller Resignation daran, dass Vera Melanchton von alledem eine überreichliche Portion besessen hatte. Bei aller Verliebtheit, die ihn jetzt noch manchmal plagte: es war realistischer, sich das einzugestehen.

Daran änderte auch der Umstand nichts, dass ihr Tod ihn tief getroffen hatte. Sicher bedauerte er wie niemand sonst auf der Welt, dass sie auf diese makabere Weise getrennt worden waren – durch einen winzigen Unterschied in der Abwehrkraft, eine simple Verschiedenheit in der Basenfolge der DNS, die nur unter dem Elektronenmikroskop sichtbar gewesen wäre.

Vielleicht waren ihre offenkundigen Schwächen der Grund dafür, dass sie sich wie er als Ärztin am Krankenhaus für Zellbiologie interessiert hatte und nach Lyon gefahren war, um sich über WEDAs Zukunftsprognosen zu informieren und als eine der ersten für eine Genuntersuchung zur Verfügung zu stellen.

Nicht, weil sie die Absicht gehabt hätte, sich zu verändern, was nicht möglich war, sondern um dem Geheimnis ihrer „bösen“ Neigungen auf die Spur zu kommen, ihren Launen, Sprunghaftigkeiten, ihrem Hang zur Eifersucht und Kleinlichkeit.

Doktor Melanchton, ihr Vater, hatte diese Besessenheit, die er einen „pseudowissenschaftlichen Spleen“ nannte, im Debattierklub des Krankenhauses gründlich kritisiert; er pflegte kein gutes Haar daran zu lassen.

Wie er denn auch in seiner Tochter nie viel mehr als eine etwas bessere Operationsschwester gesehen hatte, die ihm mit den Instrumenten nur deshalb so geschickt zur Hand ging, weil sie seine Arbeitsweise und seine Gewohnheiten von Jugend auf kannte.

Melanchton, ein heller, blässlicher Typ, dünn und hoch wie eine Bohnenstange, war schon in jungen Jahren faltig wie ein Sechzigjähriger gewesen. Eher das Äußere eines leptosomen Mathematikers als eines Arztes.

Sein schmales Gesicht sah wenig vertrauenerweckend aus, es strahlte mit seinem verbissenen Zug um den Mund nicht gerade jene Zuversicht aus, die Patienten in eine der Heilung förderliche Stimmung versetzte. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass er und seine ebenso blässliche Frau eine so dunkelhäutige sinnliche, kleine Person hätten zeugen können. Spiel der Gene, dachte Wargas seufzend.

Ein Mädchen von dieser Agilität! Alles, was sie tat, verfolgte sie mit brennendem Interesse, vereinnahmend und immer in Gefahr, die Beherrschung zu verlieren, wenn man ihr widersprach. Es gab keine Halbheiten, weder im Guten noch im Bösen. Und jedes Scheitern, auch das geringste, bedeutete eine Katastrophe. Der Doktor hatte den Eindruck, ihr hervorstechendster Zug sei gewesen, dass sie sich nie zu einer gelasseneren Haltung hatte durchringen können.

Er betrat den Hauseingang, vor dem so viel Bauschutt lag, dass er ihn mit zwei großen Schritten umrunden musste und dabei eine blecherne Tonne streifte, deren Deckel scheppernd gegen die Hauswand schlug. Lärm, dachte er ärgerlich. Überall Lärm und Getöse. Jedes Geräusch bedeutete Gefahr.

Nach einem raschen Blick an der Fassade hinauf wandte er sich der Tür zu. Sie hing in einer Angel. Er stieß dagegen, und sie bewegte sich und schlug innen gegen die Flurwand – kam jedoch sofort wieder zurück. Ein trocken quietschendes Geräusch, als mahle der Rost des Scharniers auf Stein

Wargas stieß noch einmal mit dem Fuß dagegen, behielt ihn aber jetzt auf dem Boden, damit sie nicht zurückschlagen konnte, und sah in den dunklen Flur. Er erinnerte sich, dass es oben ein ganzes Lager asiatischer Stoffblumen gab, weitaus besser als Plastikblumen; irgendeine vergessene Lieferung. Im ersten Stock. Ein Raum voller Kartons mit japanischen Schriftzeichen, Waren, die noch niemand entdeckt hatte oder die für wertlos befunden worden waren.

Er ging bis zur nächsten Tür – vorsichtig, jeder Schritt ein zögerndes Tasten durch die Finsternis –‚ sie war nur angelehnt, und drückte sie auf.

Licht flutete durch ein großes Bürofenster an der Stirnwand herein und erhellte auch den Flur und das Geländer mit einem Teil des Treppenabsatzes. Das Büro selbst war bis auf einige nackte Möbel aus hellem Holz leer.

Er wandte sich wieder dem Flur zu. Eine ausgeräumte Holzkiste stand im Weg; daneben lagen Kleider ausgebreitet: wertloses Zeug. Lumpen, vor Schmutz starrend.

Anscheinend war jemand nach seinem letzten Besuch hier gewesen und hatte sich im Schutze des Hausflurs neu eingekleidet. Gegenüber, zwischen dem eingestürzten Autosalon und der Wäscherei, gab es ein Bekleidungsgeschäft. Neben den Lumpen – einer roten Strickjacke und dunklen Flanellhosen, wie sie Frauen trugen – lagen zwei zerbrochene Taschenspiegel. Gleich zwei ... dachte er. Muss eine sehr eitle Person gewesen sein.

Er dachte in der Vergangenheitsform. Vielleicht war sie längst tot. Ja, das war wahrscheinlich.

An der Wand gegenüber hing eines der alten grünen Plakate (sie hatten Grün dazu gewählt, eine Farbe, die Beruhigung ausstrahlen sollte!). Es war der Aufruf, sich zur Untersuchung seiner Gene im Laborzentrum einzufinden. Er lautete:

Letzter Aufruf an alle Personen unter 26 Jahren, die sich noch in der Stadt versteckt halten!

Es besteht der begründete Verdacht, dass Sie die bakteriologische Katastrophe überlebt haben, weil Ihre Erbanlagen von den WEDA-Laboratorien bereits auf eine erhöhte Widerstandskraft gegen die Erregerart P-Neiseria meningitidis (P-Meningokokken) eingestellt wurden. In diesem Fall beglückwünschen wir Sie. Sie haben nichts zu befürchten. Ältere Anwohner werden gebeten, sich zwecks Bestimmung ihrer Charaktereigenschaften (DNS-Test) unverzüglich in der Abteilung Seelenaustausch einzufinden. Zuwiderhandlung wird mit schweren Strafen geahndet.

Wargas griff schnaufend nach der abstehenden Ecke am oberen rechten Rand des Plakates und riss es herunter

Trockener Verputz rieselte auf seine Schuhe. Es roch nach verschimmeltem Kleister.

WEDA hatte bereits vor Jahren als „Angebot gegen die fortschreitenden Umweltbelastungen „ eine Gen-Behandlung befürwortet, die Erbanlagen von Ungeborenen in einem sehr frühen embryonalen Stadium so zu verändern vermochte, dass sie eine erhöhte Widerstandskraft besaßen. Schwangere Frauen waren nach anfänglichem Zögern in Scharen zu WEDAs aus dem Boden schießenden Laboratorien gekommen, um ihre ungeborenen Kinder behandeln zu lassen.

Sie waren dann auch deutlich weniger krankheitsanfällig – was das Stockholmer Nobelpreiskomitee zu der ungewöhnlichen Entscheidung veranlasst hatte, WEDA als Gemeinschaftsleistung für seine bahnbrechende Entdeckung den Nobelpreis in Zellbiologie zu verleihen. Er ging zum ersten Mal in der Medizingeschichte an eine Firmengruppe.

Als der Krieg ausbrach, waren über drei Millionen unter fünfundzwanzig Jahre alte Menschen gegen den bakteriologischen Angriff gefeit gewesen; entlang der wie mit einem Lineal schräg durch Mitteleuropa gezogenen Linie von WEDA-Laboratorien. Es bewies, was einzelne Firmen, wenn sie die wirtschaftliche Macht und Überlegenheit eines bedeutenden Konzerns besaßen, erreichen konnten. WEDAs Eierköpfe hatten Europa vor dem Untergang gerettet.

Geruch von verwestem Fleisch hing in der Luft, als er auf dem Treppenabsatz anlangte. Sicher eine Ratte, die man bei der großen Säuberungsaktion einige Monate nach Kriegsende übersehen hatte.

Hinter der hölzernen Wandverkleidung, nahm er an.

Sie waren gezwungen gewesen, Leichen und Tierkadaver wegen des Gestanks einzusammeln, sie in dichte Lehmgruben zu werfen und mit Kalk zu bestreuen. Später, als das zu mühselig wurde, war man dazu übergegangen, alles zu verbrennen.

Doktor Wargas hielt es für sicher, dass ein großer Teil des Staubs, der jetzt noch auf die Stadt herunterrieselte, von diesen Leichenverbrennungen stammte. Die Schwerkraft brachte ihn herunter und Sturm und Wind jagten ihn wieder in die Atmosphäre hinauf – und so fort in unaufhörlichem Kreislauf.

Früher waren es Autos, Hauskamine, Werksschlote und Kokereien gewesen, jetzt besorgten das die Leichen. Denn die automatischen Werke im Norden produzierten mit ausgeklügelten Filtersystemen.

WEDA in Lyon hatte strenge Richtlinien erlassen; aber wie Wargas aus den Nachrichten wusste, hätten sich die Konstrukteure der Neuen ohnehin an das Gebot der Reinerhaltung von Luft, Wasser und Boden gehalten. Es lag in ihrer Natur. (Was sich allerdings bei den Flussläufen nahe der Werke nur selten durchhalten ließ.) Sie besaßen zwar eine weitaus größere Widerstandsfähigkeit gegen chemische Einflüsse als der alte Mensch – in dieser Beziehung übertrafen sie sogar alle Erwartungen –‚ doch ihr angeborenes Ordnungs- und Sauberkeitsbedürfnis hinderte sie daran, etwas zu entwerfen oder zu konstruieren, das irgendwann unabsehbare Folgen haben könnte.

Es war eine fremde, neue Welt. Doktor Wargas interessierte sich brennend für sie. Er hatte es aber nie gewagt, die neuen Blumenorte zu betreten, um sich das Wunder aus nächster Nähe zu besehen. Leider verbreiteten sein Armee-Empfänger und der kleine Fernsehapparat, die er in einem sicheren Versteck aufbewahrte, viel zu wenig Nachrichten aus dem Alltag der Neuen.

Es verwunderte nicht weiter, da sie ihn selbst am besten kannten und nicht noch einmal vorgeführt bekommen wollten, was sie ohnehin schon wussten. So beschäftigten sich denn auch die Nachrichten hauptsächlich mit Fragen der „genetischen Stabilität“, mit dem Vergleich der Charaktereigenschaften von

„Bruderpaaren“ oder dem „Einfluss des Lebensweges und persönlichen Schicksals auf ererbte Eigenschaften“.

Eher vorsorglich behandelte man die Vergangenheit mit ausgewählten Einzelheiten, vor allen Dingen hinsichtlich der Umstände, die zur Entwicklung von WEDA geführt hatten. Er empfand es als wohltuend, dass man keinerlei Personenkult trieb. Nie erschien einer von WEDAs Eierköpfen auf dem Bildschirm und präsentierte sich als Retter der Welt, etwa der oberste Eierkopf (Wargas bezweifelte, dass es überhaupt einen obersten Eierkopf gab, sie schienen sich demokratisch zu einigen, ihr Vorstand besaß nur die Weisung, den äußeren Ablauf der Beratungen zu leiten). Freundliche, meist kahlköpfige Gesichter aus der alten Zeit, jeder ein Spezialist in seinem Fach, eine Kapazität, eine Koryphäe. Er erinnerte sich, dass der Älteste, ein rosiger und offenbar sehr alter Mann, seine Hände zitterten beim Sprechen, einmal während einer Studiosendung geäußert hatte, das Leben unter ihnen spiele sich wie in einem Kloster ab: in äußerster Bescheidenheit und innerer Einkehr. Sie besäßen kein persönliches Eigentum und strebten es auch nicht an.

Er beteuerte mit wissendem Lächeln (in dem schon der Argwohn lag, man könnte ihm nicht glauben), dass er, obwohl der alten „fehlerhaften Generation“ angehörend, ganz seinen Ideen lebe. Das sei Erfüllung genug.

Danach wurde das Bild WEDAs eingeblendet. Ein vierzig Stockwerke hohes, dunkles Backsteingebäude. Endlose Reihen kleiner Fenster, hinter denen ihre Denkerzellen lagen, nur unterbrochen von den größeren Fenstern der Zentrallabors; und über und unter ihnen in der ganzen Breite verlaufende Simse, ebenfalls aus dunkel patiniertem Backstein, die ihm von weitem den Eindruck eines gigantischen geriffelten Blocks verliehen.

In seiner Düsternis besaß es tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Klosterburg früherer Zeit, und man malte sich leicht aus, obwohl das Innere nie gezeigt wurde, wie ihre Geistesarbeiter sich in den Wandelgängen bewegten, die Arme auf dem Rücken verschränkt, tief in Gedanken versunken, ihre Köpfe grüblerisch vorgebeugt, wissenschaftliche Formeln wie lateinische Litaneien murmelnd ...

Und über alledem, über der dunklen Steinburg und ihren wandelnden Bewohnern, wie ein Regenbogen der erlauchte Glanz des Nobelpreises.

Es gab keine Ermahnungen oder Ratschläge in den Sendungen. Lediglich Richtlinien, deren Nutzen jedermann einsah, und an die man sich hielt, weil man sie einsah. Ein Umstand, der den Doktor immer wieder verblüffte. Es waren eher Informationen als Appelle.

Ein Teil der Nachrichten betraf Erkundungsreisen nach Australien, Afrika und Asien. Aber sie ergaben selten Neues. Das Ergebnis war immer das gleiche: die Radioaktivität verminderte sich nur geringfügig, sie lag ähnlich hoch wie in den Staaten. Der günstigste Platz für eine Neubesiedlung war Neuseeland.

Wäre Europa nicht von den Raketen verschont geblieben, weil einige Militärstrategen – man wusste bis heute nicht, von wem, jede Seite beschuldigte die andere – es angesichts der Weltkrise für wünschenswert gehalten hatten, einen sogenannten „bakteriologischen Zwischenfall“ zu provozieren, der es ihnen erlaubte, sich hinter der Version vom „Angriff der Gegenseite“ zu verschanzen und „zurückzuschlagen“ (ein Minutenspiel der Raketen, es würde auf immer das Geheimnis jener Leute an den Frühwarnschirmen bleiben, wo die ersten Startsignale aufgeblitzt waren), dann gäbe es heute nicht einmal mehr dieses armselige Völkchen von vier Millionen zwischen Bremen und Marseille, zwölf über das Land zwischen der Nordseeküste und dem Mittelmeer verstreuten Zentren von etwas mehr als dreihunderttausend Einwohnern, dachte er.

Nichts weiter als ein besiedelter Streifen, vierzig Kilometer breit, wie ein über den Atlas gelegtes Lineal schräg durch Mitteleuropa, der sich die großen Flussläufe zunutze machte: Teile des unteren Rheins, der Mosel, Saone und Rhone und die Einzugsgebiete ihrer Nebenflüsse, weil ihr Wasser jetzt rein von jeder Nutzung durch Fabriken war.

Allerdings ließ es sich auch bei ausgeklügelter Filtertechnik in den Industriezonen nicht vermeiden, Flüsse und Seen wie bisher in Kloaken zu verwandeln.

Das alte Problem. Tribut an den Fortschritt. Aber es schadete niemandem, nicht einmal der Fauna: man begann jetzt sogar, Kaninchen und andere Kleinsäuger in den Genen anzupassen, um ihre Widerstandskraft gegen chemische Belastungen zu erhöhen.

Er hielt sich die Nase wegen des penetranten Kadavergestanks zu und drückte die Klinke des Lagerraums.

Das Prinzip von Hell und Dunkel

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