Читать книгу Der Mädchenfänger - Peter Schmidt - Страница 8
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Bevor er das Haus betrat, beobachtete er immer sorgfältig die Umgebung. Hatte sich irgend etwas verändert? Er ging die Allee bis zum Kiosk entlang, kaufte bei der freundlichen alten Frau mit den Goldzähnen, einer Aussiedlerin aus Kasachstan, irgend etwas Belangloses, eine Zeitung oder eine Schachtel Zündhölzer, plauderte über Gott und die Welt mit ihr und versuchte sich ein möglichst genaues Bild zu machen.
Wer beobachtete ihn aus den umliegenden Häusern? Stand dort jemand hinter der Gardine? Welche parkenden Fahrzeuge waren auffällig?
Am auffallendsten waren die, die betont unauffällig wirken wollten. Drückte sich vielleicht sogar irgendwo ein verdammter Privatdetektiv herum, der ihm auf die Spur gekommen war?
Zwischen den Obstbäumen und alten Platanen sah das Haus mit seinen beiden Backsteinkaminen und dem provisorischen Stück Maschendraht in der Mauer immer etwas düster aus, besonders in der Dämmerung und wenn man sich noch nicht an seine altmodischen Erker und die kuriosen roten Zinnen auf den Türmen gewöhnt hatte. Daran änderte auch der großzügige Anbau mit den modernen dunkelbraun eloxierten Aluminiumfenstern nichts.
Die Baumkronen an der Straße waren so stark beschnitten, dass um diese Jahreszeit nur noch ein paar kahle schwarze Äste in den Himmel ragten. Eigentlich bevorzugte er freundliche Häuser wie das Gartenhaus auf der Insel, aber von den Häusern, die er in den letzten sechs Jahren gemietet hatten, waren ein paar noch schlimmer gewesen als dieses hier.
Vermutlich war das nur eine Art von Projektion seiner Furcht, diesmal könnte doch noch etwas schiefgehen.
Die Sache hatte zu oft geklappt, als dass er sich nicht manchmal fragte, ob er immer so ungeschoren davonkommen würde wie bisher.
Bevor er hinunter in den Keller ging, nahm er die tiefgefrorene Pizza aus dem Kühlschrank. Er wusste nicht, ob Franziska Pizza mochte. Junge Lehrerinnen hatten oft einen verrückten Geschmack und benahmen sich ganz anders, als man erwartete.
Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass sie Freigeister sein wollten und ihre Bildung einsetzten, um sich von den Konventionen zu befreien, soweit das überhaupt möglich war, ohne den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen.
Und dazu gehörte es auch, bestimmte Essensgewohnheiten abzulehnen, die gerade en vogue waren. Kein weißes Brot, weil das zu wenig Vitamine und Mineralstoffe enthielt. Keine polnischen Gänse, weil die Polen ihre Gänse stopften. Kein Kaffee aus Kolumbien, sondern lieber aus den armen Ländern Mittelamerikas – und falls doch, dann nur von unabhängigen, privaten Genossenschaften mit eigenem Vertrieb in Europa, um ein Zeichen gegen den Weltkaffeeimperialismus zu setzen.
Er hoffte, dass Franziska zu der Sorte Frauen gehörte, die lieber an ihren Körper und an ihre Gefühle dachten, als sich damit zu beschäftigen, wie man die Welt verändern konnte.
Als er die Kellertür aufgeschlossen hatte und vor seinem "Labor" stand, dem Werk- und Studioraum, in dem sich auch seine Dampfzentrifuge und die Operationsgeräte befanden, horchte er einen Moment lang auf Geräusche.
Aber im Haus war nur das Summen der neuen Ölheizung zu hören. Wenn Wasser in die Badewanne einlief und die Waschmaschine arbeitete, schlug manchmal irgendwo eine Leitung in der Wand. Oder über dem Trockenboden zwischen dem alten und dem neuen Kamin pfiff der Wind. Er hoffte inständig, dass Witzigmann nicht auf die Idee kam, den baufälligen Backsteinkamin der Koksheizung abreißen zu lassen, weil solche Arbeiten eine Menge Handwerker ins Haus bringen und alle seine Pläne mit Franziska über den Haufen werfen würden.
Das Vorhängeschloss an der Labortür sah zwar unscheinbar aus, war aber mit seinem gehärteten Bügel und dem Aufbohrschutz so ungefähr das Beste, was es auf dem Gebiet gab. Und die Beschläge an der Tür und im Rahmen hatte er gleich nach seinem Einzug von einem Schlosser austauschen lassen. Nein, um in das Labor zu kommen und den Durchgang zum Anbau zu finden, musste man schon professionelle Geräte einsetzen und genau wissen, wonach man suchte.
Quant schob die Garderobe beiseite – sie lief ganz leicht auf den neuen Schienen – und warf einen Blick durch den Türspion in Franziskas Keller.
Er hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, um die beiden Räume so gemütlich wie ein kleines Apartment wirken zu lassen. Nur das Badezimmer machte einen etwas provisorischen Eindruck mit der eingebauten Dusche aus Leichtmetall und Kunststoffscheiben. Die Toilette dagegen war zwar genauso alt wie das Haus, aber von der gediegenen Art, die heutzutage ein Vermögen kostete.
Er nahm an, dass hier unten früher ein Partykeller gewesen war und dass man die anderen Räume als provisorische Gästewohnung benutzt hatte, obwohl sie keine Fenster besaßen, denn im Keller nebenan stand eine Theke mit Barhockern, und die Decken und Wände waren wie bei einer Heimsauna mit Fichtenholz verschalt.
Sonst wäre es auch ganz unverständlich gewesen, warum die Toilette schwarz gekachelt war. Die Kacheln hatten feine Goldränder, und die Deckenlampe aus Muschelpatt verbreitete anheimelndes gelbgrünes Licht.
Franziska saß auf der Couch und las in seinem "Tagebuch", die langen Beine übereinandergeschlagen. Ihr Rock war hochgerutscht, und darüber sah man etwas von ihrem hellen Slip. Er spürte ein Kribbeln in der Leistengegend, als sein Blick zu ihrem Gesicht hinaufglitt. Es war feucht von den Nachwirkungen des Compremols. Genauso feucht wie ihr Haar …
Sie war schön. Er hätte sich selbst die Hand geben können vor Begeisterung. Die Sache nahm sich wirklich gut aus. Als er damals damit angefangen hatte, vor etwa sechs Jahren, war alles viel schwieriger gewesen. Plötzlich musste man tausend Dinge berücksichtigen: Essen, Hygiene, Kleidung, Unterhaltung. Frauen bekamen die Tage, und dann waren keine Tampons im Haus. Oder sie hatten Migräne. Manche Frauen reagierten auf Kopfschmerzen, als ginge die Welt unter. Schon ein einziger verschwundener Slip konnte den Untergang des Abendlandes für sie bedeuten.
Er hatte eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass man sie mit Platten und Videofilmen, mit Illustrierten und Büchern bei Laune halten musste. Es war wichtig, eine Atmosphäre des Vertrauens und der Sympathie zu schaffen. Natürlich hatten sie am Anfang immer Probleme, sich an ihre neue Situation zu gewöhnen.
Aber überraschenderweise verhielten sich die meisten Mädchen so ähnlich wie bei Geiselnahmen in Banken oder bei Flugzeugentführungen.
Das Opfer ging eine Art Komplizenschaft mit dem Täter ein. Vor die Alternative gestellt, ständig mit der Todesangst leben zu müssen oder ihm einfach zu Willen zu sein, keimte plötzlich so etwas wie Sympathie und sogar Identifikation auf.
Das war der Zustand, den er anstrebte. Jedenfalls am Anfang. Und er war nicht ganz einfach zu erreichen, weil man jedes seiner Worte genau abwägen musste.
"Hallo, Franziska", sagte er, als er aufgeschlossen hatte. "Mein Name ist Robert …"
Franziska legte Quants "Tagebuch" beiseite und sah ihn wortlos an. Ihre Augenfarbe war genauso, wie er es sich immer gewünscht hatte. Nicht einfach bloß einfarbig, weil das unweigerlich langweilig wirkte.
Ein schlankes, offenes Gesicht mit hellblauen Augen sah nach seinem Geschmack nur dann wirklich schön und nicht zu flach oder nichtssagend aus, wenn die Farbe der Pupillen leicht ins Grünliche spielte. Aber der grünliche Schimmer konnte auch von der Deckenbeleuchtung stammen. Das war nicht ganz klar.
Er blickte unschlüssig zum Lampenschirm. Vielleicht hätte er diesen verdammten Muschelpattschirm – der gleiche wie in der Toilette, nur mehr als doppelt so groß – doch lieber auswechseln sollen?
"Was ist los mit Ihnen, Franziska?“, fragte er. "Haben Sie die Sprache verloren?"
Sie lehnte sich zurück, eine Hand aufgestützt, als fühle sie sich immer noch schwach, und verfolgte misstrauisch seine Bewegungen. "Warum … warum bin ich hier?"
Nun gut, das war also ihre Stimme. Vielleicht nicht so berauschend – nicht so erotisch –, wie er gehofft hatte, aber in Ordnung. Er hatte sie nur kurz an der Buchrückgabe in der Bibliothek gehört. Da war ihm gar nicht aufgefallen, dass sie eine Tonlage zu tief lag, wie die einer wesentlich älteren Frau. Doch damit konnte man leben. Bei manchen Mädchen schlug das Compremol auf die Stimmbänder. Es enthielt eine neuartige chemische Verbindung, Zoclocyd, das einen vorübergehenden Einfluss auf den Sprechapparat hatte.
"Zur Erholung, Franziska. Um ein paar Stunden auszuspannen. Ich habe Ihnen etwas zu essen mitgebracht. Sie können's sich selbst in der Küche fertigmachen, eine tiefgefrorene Pizza." Er zeigte in den Nebenraum. "Und im Kühlschrank ist Weißwein und Schafskäse."
"Was heißt ausspannen? Wo bin ich?"
"An einem sicheren Ort. Mögen Sie Salamipizza?"
"Bitte sagen Sie mir, wo ich bin."
"Oh, natürlich, gern. Etwa fünfzig Kilometer von Ihrer Wohnung entfernt in meinem Haus an der Küste." Er ging hinüber in die Küche, um die Pizza in den elektrischen Backofen zu legen. Franziska brauchte nicht zu wissen, dass sie sich in ihrer Heimatstadt befand. Das hätte nur falsche Hoffnungen in ihr geweckt und ihr das Gefühl vermittelt, von hier aus in die Freiheit sei es lediglich ein kleiner Schritt.
"Und wie bin ich in Ihr Haus gekommen?“, fragte sie, als er in ihr Zimmer zurückgekehrt war. "Ich muss ohnmächtig geworden sein … im Treppenhaus der Bibliothek … nein, jetzt erinnere ich mich wieder, es war im Durchgang zum Parkhaus. Jemand war hinter mir. Sie haben mich …?"
"Wenn Sie auf meine unmaßgebliche Meinung Wert legen, dann sollten Sie sich nach dem Essen noch etwas ausruhen, weil Ihr Kreislauf ziemlich angeschlagen ist."
"Danke, aber ich möchte lieber gehen."
"Das wäre ziemlich unklug von Ihnen, so weit draußen, und bei Dunkelheit. Ich habe leider heute noch zu arbeiten, sonst würde ich Sie sofort wieder in die Stadt zurückbringen, in ein Krankenhaus oder in die Ambulanz, wenn es Ihnen hier bei mir nicht gefällt. Aber vielleicht sind Sie ja morgen früh schon wieder in Ordnung, dann könnten Sie den Bus nehmen."
"Im Ernst?" Sie sah ihn zweifelnd an.
"Was haben Sie denn gedacht, Franziska?"
"Ich weiß nicht. Es ist alles so merkwürdig hier", sagte sie und blickte sich voller Unbehagen um. "Nicht wirklich ungemütlich, aber irgendwie merkwürdig. Diese dunkel gekachelte Toilette und die holzverschalten Wände. Das Zimmer hat keine Fenster, nur einen Lüftungsschacht …"
"Und mein Vorname ist auch nicht Robert – sondern vielleicht Georg? Ja, mein Vater hatte einen etwas seltsamen Geschmack", bekannte er lächelnd. "Aber ich hab's nie übers Herz gebracht, das Zeug einfach herauszureißen und auf den Müll zu werfen. Das wäre mir so vorgekommen, als maßte ich mir an, über ihn und seine Lebensgewohnheiten Gericht zu halten."
"Und Sie meinen … das morgen früh mit dem Bus ginge in Ordnung?"
"Ich könnte Sie an der Landstraße absetzen. Der Bus kommt einmal am Tag, immer um eins. Wir haben also noch genügend Zeit nach dem Frühstück."
Sie schwieg und dachte nach. Er spürte, dass sie nicht recht wusste, ob sie ihm glauben sollte. Aber die Hoffnung war ein schlechter Berater. Das hätte sie in ihrem Alter eigentlich längst wissen sollen.
"Und wenn Sie sich zu schwach dazu fühlen, Franziska, dann bleiben Sie einfach noch ein oder zwei Tage länger. Mein Gästezimmer steht fast immer leer."
"Was ist denn bloß mit mir passiert … Robert, so ist doch Ihr Name?"
"Sie fielen einfach um, Franziska. Und da ich mal Medizin und Pharmakologie studiert habe, allerdings ohne Abschluss, um ganz ehrlich zu sein, dachte ich, es sei vielleicht vernünftiger, Sie für ein paar Stunden unter meine Fittiche zu nehmen."
"Sie hätten mich auch einfach im nächsten Krankenhaus abliefern können, oder?"
"Lesen Sie denn gar keine Zeitungen? Diese Pfuscher in den Notaufnahmen sind doch schon fast gemeingefährlich."
"Das wäre aber viel bequemer für Sie gewesen."
"Es gefällt mir nun mal, Menschen zu helfen. Außerdem war so ein langer Stau im Zentrum, dass ich dachte, ich nehme lieber gleich die freie Ausfallstraße und bringe Sie zu mir nach Hause." Er versuchte sein charmantestes Lächeln und sah ihr dabei offen in die Augen.
"Fünfzig Kilometer von meiner Wohnung entfernt? Finden Sie das nicht etwas weit?"
"Wie man's nimmt. Ich musste ja ohnehin nach Hause, und für Sie macht es doch eigentlich wenig Unterschied."
"Sie sind ein merkwürdiger Bursche, Robert. Sie sehen gar nicht aus, als wenn Sie so etwas Verrücktes tun würden. Was sagten Sie da vorhin über Ihren falschen Vornamen?"
"Das war nur ein kleiner Scherz. Sie werden sich schon noch an meine Art von Humor gewöhnen. Eigentlich bin ich ziemlich harmlos."
"Ich habe in Ihrem Tagebuch gelesen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es nur dort lag, damit ich Sie ein wenig kennenlernen sollte?"
"Mich kennenlernen?" Quant lachte. "Dann halten Sie die Männer aber für diplomatischer als sie sind. Obwohl – der Gedanke ist ja gar nicht mal so abwegig, einem Mädchen auf diese Weise zu zeigen, was für ein netter Kerl man ist."
"Dass Sie bis vor kurzem für einen Hungerlohn im Pflegeheim gearbeitet haben, hat mir schon imponiert. Und dann die Veranstaltungen, die Sie immer am Wochenende mit den alten Leutchen aufgezogen haben – die Tombola und die Abende, wo sie als Clown und Conférencier aufgetreten sind …"
Ja, wem imponierte das nicht? Quant ging in die Küche, nahm die Pizza aus dem Backofen – der Käse war verlaufen, die Teigkanten sahen appetitlich goldbraun aus – und legte sie auf einen großen geblümten Teller aus dem Geschirrschrank. Er hatte das Haus voll möbliert übernommen, einschließlich des Tagebuchs von Witzigmanns verstorbenem Sohn, in das er noch ein paar Seiten in der gleichen unbeholfenen Druckschrift eingefügt hatte, weil es sich gut für seine eigene "Biographie" eignete.
Die Kladde war auf dem Bücherschrank vergessen worden – neben anderen kuriosen Dingen, wie einer nicht mehr funktionsfähigen Armeepistole und einer Sammlung verblichener Aktfotos, die Witzigmanns Mutter um die Jahrhundertwende beim orientalischen Schleiertanz zeigten.
Sie posierte darauf vor einer Kulisse aus gemalten Minaretten.
Einige Einrichtungsgegenstände waren allerdings längst reif für den Sperrmüll, wie Witzigmanns Schaukelstühle aus Korbgeflecht zum Beispiel, die knarrten und bei jeder Bewegung fast auseinander fielen. Aber manche Möbel und Einrichtungsgegenstände konnten sich durchaus sehen lassen. Witzigmann hatte sich in einer umfangreichen Inventarliste bestätigen lassen, was ihm bei Quants Auszug übergeben werden musste.
"So, Franziska", sagte er und stellte den Teller vor sie hin. "Das wird Ihnen wieder auf die Beine helfen. Bis nachher. Ich werde jetzt im Garten nach den Dobermännern sehen."
Er schloss die Tür hinter sich, drehte aber nicht den Schlüssel im Schloss um, weil sie das unweigerlich misstrauisch machen würde, sondern ließ im Gang nur den versteckten Riegel hinter der Deckenverblendung der Garderobe einrasten. Franziska würde niemals entdecken, dass die Labortür abgeschlossen war. Es gab keinen anderen Ausgang aus dem Anbau.
Die meisten Frauen hatte Angst vor Hunden, auch wenn sie es nicht gern zugaben. Als er im Labor war, schaltete er das Tonbandgerät ein und ließ ein mörderisches Hundegebell erklingen, als sprängen blutrünstigen Bestien an ihm hoch, um Futter zu ergattern. Er fand, es klang so echt, dass man unwillkürlich erschauderte.