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Angela hatte nachmittags angerufen und eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen. Es lief kein Film, der sie interessierte, erst recht keiner mit Tom Sighcore, aber wenn er wolle, könne er sie abends auf die Kirmes begleiten. Ihre Stimme klang übertrieben selbstbewusst – wie die eines Teenagers, der sich bemühte, seine Verlegenheit zu überspielen.

Eine richtige kleine Frau, dachte er lächelnd. So verschlagen und diplomatisch wie alle. Sie hatte sich wahrscheinlich vorher genau zurechtgelegt, was sie sagen würde und wie es klingen sollte. Kirmes war genau das Richtige für sie, dort wurden sie beide von einer Menge Leuten gesehen. Quant nahm nicht an, dass Angela sich wirklich in ihn verknallt hatte.

Aber da Tom Sighcore momentan verhindert war, blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich mit den Unzulänglichkeiten des Schicksals abzufinden.

Er bedauerte es, dass Franziska noch ein paar Tage brauchen würde, um sich einzuleben und mit ihrer neuen Situation fertig zu werden. Im Moment war es fast so, als existiere sie gar nicht für ihn, als lebe er allein im Haus.

Man musste sich streng an die Regeln halten, um sie in die richtige Verfassung zu bringen. Er beherrschte das jetzt schon aus dem Stegreif. Obwohl die Reaktionen der Mädchen immer unterschiedlich waren, gab es in dieser Phase selten große Überraschungen. Es kam sogar vor, dass er sich fürchterlich langweilte und dem Augenblick entgegenfieberte, an dem er endlich die Katze aus dem Sack lassen konnte. Dann versuchte er sich mit Büchern und Magazinen über die Runden zu helfen. Aber oft erzeugte das auch nicht mehr als gähnende Langeweile bei ihm, weil er sich ständig fragte, wie es wohl mit ihnen sein würde. Deshalb war er dankbar für jede Abwechslung. Angelas Einladung kam ihm gerade recht.

Als es an der Haustür läutete, ging er hinunter und nahm seine pharmakologischen Fachzeitschriften entgegen, ein drei Kilogramm schweres Paket. Es war nicht der Fahrer des Postwagens, den er kannte. Die alte Plaudertasche mit dem Menjoubärtchen und den etwas zu weiten Hosen war Quant schon fast ans Herz gewachsen, aber wenigstens versuchte er ihm nicht zu erklären, wer kürzlich in der Nachbarschaft überfahren worden war. Quant war gerade dabei, es sich mit seinen Zeitschriften im Liegesessel bequem zu machen (das würde hoffentlich für den langweiligen Rest des Nachmittags reichen), als es zum zweiten Mal läutete. Vom Salon im Anbau durch das Haus und über die Treppen war es ein ziemlich langes Stück, deshalb schob er erst einmal den Vorhang beiseite und sah in den Garten hinunter.

An der Treppe stand ein seltsames weibliches Wesen in dunkelblauem Kostüm mit der Mütze der Heilsarmee. Die Sammelbüchse und die Informationshefte in ihrer Hand hätten ihn normalerweise davon abgehalten, überhaupt die Tür zu öffnen. Aber die junge Frau erinnerte ihn verblüffend an seine verstorbene Schwester …

Sie war sehr groß und schlank und sah irgendwie leidend oder verhärmt aus. Wie jemand, der tapfer gegen die Widrigkeiten des Schicksals ankämpfte, das allen so übel mitspielte, und bereit war, sein Leben in den Dienst des anderen zu stellen. Es gab wohl keinen Menschen auf der Welt, außer vielleicht seiner Mutter, der ihm ein ähnlich großes Rätsel gewesen war wie seine Schwester. Und die junge Frau an der Haustür hatte sogar die gleiche Kopfhaltung, scheinbar verständnisvoll zur Seite geneigt, als habe sie etwas nicht richtig verstanden – eine Antwort, die sie ihm abverlangte – als sei der ganze verdammte Weiberhaushalt seit dem Tode seines Vaters plötzlich wiedererstanden.

Je länger er sie betrachtete, desto stärker wurde sein Interesse an ihr. Wie konnte jemand, der so gut aussah wie sie, sich einer so lächerlichen Beschäftigung widmen, bei der nie mehr heraussprang, als ein paar sabbernde Obdachlose mit Suppe und Schokoladenprinten zu bewirten und ihnen von Gottes unendlicher Gnade zu erzählen? Er zog seinen Morgenmantel aus schwarzem Satin über, den er kürzlich in London gekauft hatte, weil ihn das auf Frauen interessanter wirken ließ, und ging hinunter. Als er öffnete, war sie schon ein paar Schritte entfernt und wandte sich mit der Sammelbüchse nach ihm um.

"Ich würde gern etwas in Ihre Büchse werfen", sagte er. "Kommen Sie doch herein, ja?"

"Danke, aber wenn Sie nichts dagegen haben, warte ich lieber an der Tür." Ihre Stimme hatte einen leicht skandinavischen Akzent, er tippte auf Dänin. Das passte auch zu ihren nordischen Gesichtszügen.

"Drinnen ist es gemütlicher …"

Sie zögerte und senkte verlegen die Sammelbüchse. "Wir machen eigentlich keine Hausbesuche."

"Auch nicht, wenn ich gern etwas über Ihre Organisation erfahren würde?"

"Was Sie wissen müssen, steht alles in diesen Heften." Dabei hielt sie ihm eines ihrer Magazine hin, auf dessen Titelseite ein hungerndes Kind in der Dritten Welt abgebildet war. "Sie können auch dienstags und samstags zu unseren Informationsabenden kommen."

"Soll das etwa heißen, Sie sind gar nicht kompetent, um mir eine Auskunft zu geben?"

"Doch, schon …"

"Ist es, weil ich ein Mann bin? Befürchten Sie, dass ich Sie in meinem Haus vergewaltigen oder ihnen unzüchtige Filme vorführen will?"

"Nein, ich …"

"Also bitte", sagte er und trat beiseite, um die Haustür offen zu halten und sie durchzulassen.

Während sie an ihm vorbeiging, drehte er unauffällig den Schlüssel im Schloss und ließ ihn blitzschnell in ihrer Manteltasche verschwinden.

Er positionierte sie so im Vorraum, wo das Sofa und ein paar Sessel um einen kleinen Rauchtisch standen, dass er ihr Gesicht bei Tageslicht sehen konnte. Sie saß kerzengerade da, die Schultern leicht hochgezogen und ihre Hände ineinandergehakt, dass man glauben konnte, die Wände, Decken und Möbel seien mit ansteckenden Krankheitskeimen verseucht. Ihr hageres Kinn sprang ein wenig zu weit vor, als recke es sich voller Trotz in die Welt.

"Also gut – darf ich?" Quant griff in die Tasche seines Morgenmantels und warf ein paar Münzen in den Schlitz der Sammelbüchse.

"Vielen Dank. Sie sind sehr großzügig."

"Davon kann man sich nicht einmal eine Zeitung kaufen."

"Jede Münze zählt. Viele Münzen ergeben eine warme Mahlzeit."

"Da haben Sie natürlich recht. Darf ich nach Ihrem Namen fragen?"

"Ortrud."

"Also gut, Ortrud, etwas zu trinken? Vielleicht griechischen Aprikosenlikör? Ich habe ihn gerade als Originalabfüllung aus Piräus bezogen. Ein Freund von mir betreibt dort einen kleinen Spirituosenhandel."

"O nein, ich trinke niemals Alkohol."

"Hab' ich mir schon gedacht", sagte er und drehte nachdenklich den schweren silbernen Ring an seinem Finger. "Ihr frommen Betschwestern wisst wohl noch gar nicht, dass der liebe Gott dort oben über den Wolken ganz bewusst zwischen Reinigungs- und Trinkalkohol unterschieden hat?"

"Bitte, was meinen Sie?“, fragte sie vorgebeugt und sah ihn unsicher an.

"Was steckt wirklich hinter Ihrer biederen Fassade, Ortrud? Eigentlich sind Sie doch ganz hübsch. Uns Kerlen sagt man ja nach, dass die meisten als Panther springen, wenn sie heiraten, und als Bettvorleger ankommen. Waren Sie schon mal wie ein wildes Raubtier in Ihrem Leben?"

"Sie stellen mir Fragen, die ich kaum …"

"Ach lassen wir das lieber. Wann haben Sie zum letzten Mal mit einem Mann geschlafen? Und träumen Sie manchmal davon? Gestehen Sie sich Ihre Gefühle ein, oder möchten Sie das alles lieber verdrängen? Finden Sie es unanständig, solche Gefühle zu haben? Was halten Sie von diesem neuen Typ emanzipierter Frauen, die über ihre Menstruation, über Kondome und die Besiedlung ihrer Vagina mit Hefepilzen reden, als handele es sich um die Konstruktion ihrer Waschmaschine?"

Man sah, dass sie einen Moment lang aus der Fassung geriet. Ihre Nasenflügel waren leichenblass geworden, und ihre zusammengepressten Beine wirkten, als wollten sie mit den Unterarmen und geballten Fäusten eine Art Barriere bilden. Doch sie hatte sich überraschend schnell wieder gefangen.

"Empfinden Sie etwas dabei, Frauen solche Fragen zu stellen?"

"Ich denke, man empfindet immer etwas dabei. Selbst wenn es nur Langeweile ist."

"Es macht Ihnen Vergnügen, oder? Sie sind wirklich zu bedauern. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob Gott Ihnen mit solchen Gefühlen vielleicht eine schwere Prüfung auferlegen will? Die Würde der Frau bedeutet Ihnen nichts, es ist nur ein Wort, eine hohle Phrase, nicht wahr? Kommen Sie ins unseren Gesprächskreis, dort kann man über alles reden."

Donnerwetter, dachte Quant. Sie kam regelrecht in Fahrt bei diesen Worten. Keine Spur mehr von leichenblasser Haut, ihr Gesicht war leicht gerötet wie das Angelas, wenn sie plötzlich im Mittelpunkt des Gesprächs stand. Er fand, es gab keine anregenderen Entdeckungsfahrten, als in die Seelen von Frauen einzudringen, sie zu Antworten zu provozieren und Gefühle hervorzurufen, die sie sich selbst vielleicht nicht eingestehen wollten. Fahrten über die Dschungelflüsse des brasilianischen Urwaldes waren passé. Die wirklichen Abenteuer fanden im Kopf statt.

"Wäre es nicht Ihre Aufgabe als Soldat Gottes, das gleich an Ort und Stelle zu tun?“, fragte er. "Also keine Vertröstungen auf Gesprächskreise. Sie werden doch nicht fahnenflüchtig? Ich frage mich zum Beispiel, ob die Nerven Ihrer Vagina noch voll funktionsfähig sind. Ich meine, haben Sie keine Sorge, sie könnten mehr und mehr aus der Übung geraten bei Ihrem Lebenswandel? Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass Nerven genau wie Muskeln ständige Übung brauchen … Sie haben doch keinen Freund, oder? Und Sie sind auch nicht verheiratet, Ortrud, das sehe ich Ihren Händen an. Die Hände verheirateter Frauen sind selten so gepflegt, und das nicht nur wegen des Hausarbeit, sondern weil es ihnen an Motivation mangelt.

Sie dagegen haben Ihre Hände zum Fetisch Ihrer Schönheit erhoben, weg, bloß weg von den schmutzigen Gedanken, wie Ihr Gesicht und Ihr Busen auf die Kerle wirken könnten, und lieber hin zu etwas, das man bequem den Blicken entziehen kann, indem man es einfach in die Tasche steckt …"

"Ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen." Sie erhob sich, die Sammelbüchse in der Hand. Quant sah ihr ungerührt zu; er lehnte sich amüsiert auf dem Sofa zurück und schlug seine Beine übereinander.

Nach weniger als einer halben Minute stand sie wieder im Vorraum.

"Was soll das bedeuten?"

"Was soll was bedeuten, Ortrud?"

"Sie haben die Haustür abgeschlossen!"

Quant klopfte kopfschüttelnd die Taschen seines Morgenmantels ab. Er stand auf und sah unter den Tisch, schob die Tischdecke beiseite und hob die Kissen auf dem Sofa an. "Ehrlich gesagt, ich habe den Schlüssel gar nicht. Hm … das ist verrückt." Er ging bis zur Tür und warf einen Blick in den Flur. "Auch nichts … Sind Sie ganz sicher, dass Sie ihn nicht versehentlich selbst abgezogen haben? Ich lasse ihn nämlich immer stecken, wenn ich im Haus bin, weil man sonst leicht mit einem Stahldraht oder einer Plastikkarte das Schloss öffnen kann. Hab' ich mir mal von einem Experten beim Schlüsseldienst vorführen lassen. Wenn die meisten Leute wüssten, wie leicht das ist, würden sie …"

"Bitte", sagte Ortrud. "Bitte spielen Sie jetzt nicht mit mir. Sie bringen sich nur in Schwierigkeiten, wenn Sie mich hier festhalten wollen."

"Sie festhalten?" Quant machte abrupt auf dem Absatz kehrt, um eines der beiden Fenster zu öffnen. Das Wetter schien umgeschlagen zu sein, es war überraschend mild draußen, am Himmel trieben hoch aufgetürmte gelbe Wolken. "Keine Unterstellungen, wenn ich bitten darf. Hier, sehen Sie selbst. Wir befinden uns im Parterre", sagte er, während er auch den anderen Fensterflügel öffnete. "Wenn Sie wirklich glauben, ich wollte Sie Ihrer Freiheit berauben, dann muss ich Sie jetzt bitten, ausnahmsweise den Weg durchs Fenster zu nehmen, bis sich mein Haustürschlüssel wieder eingefunden hat."

"Ist das Ihr Ernst? Aber wo sollte der Schlüssel denn stecken?"

"Keine Ahnung. Vielleicht hat ihn jemand verschluckt."

"Ich finde, Sie haben eine gemeine Art zu antworten", sagte Ortrud. Ihr Gesicht hatte wieder zu glühen begonnen. Sie sah unschlüssig zum offenen Fenster.

Quant versenkte spöttisch seine Hände in den Taschen des Morgenmantels und gab den Weg frei, um sie vorbeizulassen. "Glauben Sie ja nicht", sagte er – dabei zog er seine Hände wieder heraus und hob sie abwehrend, die Finger weit gespreizt –, "ich würde auch nur den Versuch machen, eine prüde kranke Schönheit wie Sie anzufassen. Das liegt mir völlig fern."

"Ich bin nicht krank."

"Ein Soldat Gottes geht niemals zum Arzt, oder? Ein Soldat Gottes steht in seinen Stiefeln, bis er umfällt."

"Sie sollten keine Scherze über Gott und unsere Arbeit machen. Wenn auch nur zehn Prozent der Menschen so wie wir ihre Pflicht tun würden, sähe dieser Erdball anders aus, das kann ich Ihnen versichern."

"Noch langweiliger, meinen Sie?"

"Würden Sie jetzt bitte einen Ersatzschlüssel für die Haustür holen? Sie haben doch einen? Es ist mir zu dumm, wegen Ihrer Spielchen durch das Fenster zu klettern."

"Na also, Ortrud. Das ist der Tonfall, mit dem man es in der Welt zu etwas bringt. Nicht dieses lammfromme Gefasel über arme alte Obdachlose, die von der Armee Gottes eine warme Suppe verabreicht bekommen. Bitte sehen Sie doch mal in Ihren Manteltaschen nach. Irgendwo muss mein Schlüssel ja schließlich sein. Wahrscheinlich haben Sie ihn unbewusst eingesteckt, als er auf dem Tisch lag. Das würde mich nicht wundern – bei Ihrer verdrängten Libido."

Sie hörte ihm wortlos zu, den Mund leicht geöffnet, als sei das alles nur ein schlechter Traum für sie, und versenkte beide Hände in den Außentaschen. Als ihre Fingerspitzen auf den Schlüssel stießen, zog ein ungläubiges Staunen über ihr Gesicht.

Er genoss den Augenblick, selbst wenn es weniger als eine Hundertstelsekunde war, bei dem sie sich fragte, ob ihr Unterbewusstsein ihr wirklich diesen Streich gespielt haben konnte. Es war lehrreich, sich selbst in Frage zu stellen. Man begriff plötzlich, was man sich alles zutraute. Man gewann ein neues, wahreres Bild von sich.

"Sie haben mir den Schlüssel …?"

"Vorsicht, Ortrud, keine falschen Anschuldigungen! Darauf legt Ihre Gemeinde doch soviel Wert? Hat Ihnen denn Ihre Armeeführung nicht beigebracht, den Fehler immer erst bei sich selbst zu suchen?"

Er begleitete sie zur Haustür. Als sie aufschloss, blieb er hinter ihr stehen, um sie nicht noch weiter zu verunsichern. "Besuchen Sie mich bald wieder, Ortrud. Mein Haus steht Ihnen immer für ein interessantes Gespräch offen."

Quant sah ihr von der Treppe aus nach, wie sie durch den Garten zur Pforte ging. Eine wackere, etwas zu groß geratene Streiterin Gottes auf flachen Absätzen, die an diesem trüben Nachmittag ein ganze Menge dazugelernt hatte. Vielleicht würde sie sich ja sogar während des nächsten Gebets bei Gott über ihn beklagen. Aber das war völlig aussichtslos. Gott, falls er überhaupt existierte, war niemand, vor dem man sich immer ein wenig zu klein, zu schlecht oder böswillig vorkommen musste, sondern eine Instanz, die Verständnis für die menschlichen Schwächen aufbrachte, weil er schließlich selbst dies alles – die Schwäche und die Böswilligkeit – geschaffen hatte.

Gegen Abend war es so warm geworden, dass man keinen Mantel mehr brauchte. Der Wetterbericht meldete, es würde noch bis zum Wochenende so weitergehen.

Er sah sogar zwei offene Kabrioletts auf dem Weg in die Stadt. Am Steuer des einen saß ein Mädchen mit wehenden roten Haaren und neben ihm ein braungebrannter Knabe, der eine dunkle Sonnenbrille trug.

Im anderen Wagen rauschten drei Halbstarke vorüber, die Fahnen des örtlichen Fußballklubs schwenkten. Die Stadt schien durch die Wärme völlig außer Rand und Band geraten zu sein. Selbst die Straßenköter jagten hinter den Tauben an der Kathedrale her, als wenn sie ihnen lieber nachfliegen würden.

Fast alle Passanten trugen ihre Mäntel über dem Arm, und das Kaufhaus an der Bushaltestelle hatte beide Eingangstüren geöffnet.

Wenn man die Frauen auf dem Weg zählte, die attraktiv waren, kam man zu einem erstaunlichen Ergebnis. Obwohl die Gesichter älterer Menschen meist hässlich, ja sogar bizarr wirkten und eher an die Malerei Bruegels und Honoré Daumiers erinnerten – Doppelkinn, Warzen, scharfe Nasenfalten, dunkle Ringe unter den Augen, abstehende Ohren und Muttermale – schien es beinahe so, als habe die Natur diese versammelte Hässlichkeit mit einzelnen Glanzlichtern weiblicher Schönheit durchsetzen wollen.

Junge Mädchen oder Frauen verstanden es fast immer, sich ansprechend zu kleiden und das Beste aus ihrem Typ zu machen.

An der großen Uhr im Zentrum fegte ein ceylonesischer Asylant den Gehsteig: ein dunkelbrauner Mann mit europäischen Gesichtszügen und einer grünen Seidenschärpe um die Hüften. Quant hatte sein Foto kürzlich in der Zeitung gesehen. Seine Familie war bei einem Bombenanschlag in Colombo umgekommen. Es hieß, er sei Vorsitzender der Oppositionspartei gewesen; der Kommentator hatte spöttisch angemerkt, es handele sich um den einzigen politischen Flüchtling mit einer Arbeitserlaubnis in der Stadt.

Er sah ungeduldig die Straße hinunter. Von Angelas Bus weit und breit keine Spur …

Eine Windbö zerrte an seinen Hosenaufschlägen, während er gelangweilt auf einem der Kunststoffsitze unter der Uhr Platz nahm. Schräg vor ihm ragte der Hochhausturm der Allgemeinen Europäischen über der Häuserzeile auf.

Der Anblick des gläsernen Turms versetzte ihm immer einen Stich. Wenn er daran dachte, wie man dort mit ihm umgesprungen war, drehte sich ihm noch heute der Magen um, obwohl der Unfall auf der nassen Landstraße schon einige Jahre zurücklag. Wahrscheinlich wäre ein psychopathischer Krimineller von ihnen mit mehr Respekt behandelt worden als er. Man hatte ihn gefragt, warum er über eine halbe Stunde bei seiner verletzten Freundin verbracht habe, ohne irgend etwas zu unternehmen, und es war schwierig gewesen, darauf eine angemessene Antwort zu geben.

"Es hat geregnet", hatte der Direktor erklärt und sich noch einmal die Mappe mit dem Polizeibericht vorgenommen. "Sie saßen im Regen auf dem Asphalt und sahen sich das Mädchen an, Robert. Sie war nicht tot, sondern nur grässlich zugerichtet, blutüberströmt. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, wie ein Mensch diesen Anblick überhaupt ertragen kann. So etwas nennt man unterlassene Hilfeleistung – vorsichtig ausgedrückt.

Standen Sie etwa unter Schock? Nein, davon erwähnt der ärztliche Untersuchungsbericht nichts.

Ganz im Gegenteil, Sie waren in blendender Form. Sie waren betroffen über den Unfall, nun gut, und ich würde niemals so weit gehen, zu behaupten, dass Sie sich keine Sorgen um das Leben und die Gesundheit Ihrer Schulfreundin machten. Aber was war es dann?"

Wie kam er jetzt bloß darauf? Diese alte Geschichte hatte noch immer eine erschreckende Lebendigkeit in seiner Erinnerung. War man erst einmal damit beschäftigt, konnte man sie genauso wenig wieder loswerden wie seinen eigenen Schatten. Er wäre fast gegen die Tür des Taxis am Straßenrand gelaufen, als er Angela auf dem Rücksitz entdeckte, so deutlich stand das Bild des Büros mit den schwarzen Ledersesseln und schweren Palisandermöbeln wieder vor seinem inneren Auge …

"Tut mir leid, dass ich etwas zu spät dran bin", sagte Angela. "Der Bus war gerade weg, und dann gab's auch noch eine Demonstration am Kreisverkehr."

"Kein Problem." Er küsste sie auf die Wange und nahm ihre Hand. "Jetzt denken wir nicht mehr an die Schattenseiten des Lebens. Auf ins Vergnügen."

Die Kirmes lag gleich hinter der Bibliothek. Aber von hier aus sah man nicht viel mehr als ihre Lichter gegen den Himmel strahlen. Weiter hinten ragte ein Teil des Riesenrads über die Häuserdächer.

Er steuerte mit Angela auf den Durchgang im Bibliotheksgebäude zu, weil das der kürzeste Weg war, und als sie am Eingang des Parkhauses vorüberkamen, bemerkte er, dass die Frau im Glaskasten aufgestanden war und ihm aufgeregt zuwinkte.

"Moment", sagte er zu Angela. "Bin gleich wieder zurück, anscheinend will da jemand etwas von mir …"

Er ging ihr zögernd entgegen. Es hatte keinen Zweck, jetzt einfach wegzulaufen. Damit hätte er sich nur verdächtig gemacht. Franziska war ohne Wagen gekommen, deshalb konnte sie im Parkhaus auch nicht wegen ihres stehengebliebenen Fahrzeugs vermisst werden …

Die Frau trat aus der Pförtnerloge. "Haben Sie nicht am Montag Ihren Lieferwagen bei uns geparkt?“, fragte sie und sah ihn so gespannt an dabei, dass er unwillkürlich mit der Antwort zögerte.

"Am Montag? Lassen Sie mich nachdenken. Nein, bestimmt nicht. Ich glaube, ich war schon am Samstag bei Ihnen."

"Aber ich bin ganz sicher, dass es Montag war."

"So? Spielt das denn eine Rolle?"

"Kann man wohl sagen. Dann möchte die Polizei nämlich gern ein Wörtchen mit Ihnen reden. Alle Kunden, die an diesem Tag im Parkhaus waren, werden gebeten, auf der Polizeiwache vorzusprechen."

"Und wozu, wenn ich fragen darf?"

"Weil eine junge Frau vermisst wird. Haben Sie denn noch nichts in der Zeitung darüber gelesen? Die Polizei glaubt, dass sie mit dem Wagen herausgebracht wurde."

"Mit dem Wagen, aha … unglaublich. Dann allerdings."

"Vielleicht haben Sie ja beim Herausfahren irgend etwas Verdächtiges bemerkt?"

"Nein, nicht dass ich wüsste. Aber, vielen Dank für den Hinweis. Ich werde gleich morgen auf dem Kommissariat anrufen." Er nickte verbindlich und machte auf dem Absatz kehrt. Wenn es nicht zu riskant gewesen wäre, hätte er sie gern gefragt, wie man auf diese Vermutung gekommen war – denn mehr als eine Vermutung konnte es eigentlich nicht sein.

Soweit er wusste, ging Franziska oft durch das Parkhaus, weil das von der Bibliothek aus der kürzeste Weg war, um auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Was sollte die Polizei eigentlich darauf bringen, sie sei ausgerechnet im Parkhaus entführt worden? Warum nicht auf dem Markt oder in der Bibliothek mit ihrem schlecht beleuchteten Treppenhaus? Franziska hatte genau wie er keine Familie mehr, nur ein paar Freundinnen aus dem Kollegenkreis, die sie hin und wieder traf, und einen Freund auf Montage in den Arabischen Emiraten.

Dann gab es da noch ein paar flüchtige Männerbekanntschaften im Theatercafé. Das Café war ihr bevorzugter Ort, wenn sie ausging, weil man dort ungestört sitzen konnte, ohne von den Männern gleich als Freiwild betrachtet zu werden. Es kam ihm unwahrscheinlich vor, dass sie schon vermisst wurde.

Nein, es gab keinen Freund, der sich um sie kümmerte, außer diesem Kerl in den Arabischen Emiraten. Da war er ziemlich sicher.

"Was ist denn passiert?“, fragte Angela. "Du bist ja ganz blass geworden."

"Es scheint jemand im Parkhaus überfallen worden zu sein. So was schlägt mir immer auf den Magen."

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Angela ihn geduzt hatte. Na, um so besser. Eine Freundin, ein "Alibi", war in dieser Situation genau das Richtige. Warum sollte jemand in dunklen Parkhäusern fremde Frauen anfallen, wenn er eine so hübsche Freundin wie Angela besaß? Trotzdem ärgerte er sich darüber, dass er vor Schreck blass geworden war. In solchen Situationen blieb er gewöhnlich ruhig und gefasst.

Er versuchte sich nie von Fehlern, die er gemacht hatte, negativ beeinflussen zu lassen. Der Gedanke daran durfte keine Rolle spielen – wie bei einem guten Fußballspieler, der zwar schon zweimal neben das Tor geschossen hatte, aber beim drittenmal, weil er die Nerven behielt, einen bombenstarken Schuss ins Netz setzte.

"Lass uns erst mal einen kleinen Rundgang machen", schlug er vor. "Nicht auszudenken, dass dir das gleiche wie der jungen Frau im Parkhaus passieren könnte.

"Oh, mir passiert nie was. Außer dem verdammten kleinen Italiener ist noch nie jemand zudringlich geworden."

"Welchem Italiener?"

"Ein Bursche, der immer vor unserem Haus herumlungert. Er verfolgt mich bis zur Schule. So ein Kleiner mit glattem schwarzem Haar und schmalen Schultern, der aussieht wie ein Neapolitaner. Einmal hat er sogar versucht, mir vor der Damentoilette Hefte zu zeigen."

"Er hat was?" Quant blieb stehen und warf ihr einen ungläubigen Blick zu.

"Pornomagazine", sagte sie ungerührt. "Er wollte mir seine Magazine zeigen."

"Und er hat dich belästigt, sagst du?"

"Angelo ist schon sehr lästig. Aber im Moment macht er mir eigentlich nur schöne Augen. Trotzdem hab' ich ein wenig Angst vor ihm. Meine Eltern sind noch für zwei Wochen zur Kur, und weil er das in der Nachbarschaft herausbekommen hat, wirft er manchmal Steinchen gegen mein Fenster."

"Vielleicht sollte ich mich mal um ihn kümmern?"

"Du willst ihn dir vorknöpfen …?" Ihre Augen leuchteten geschmeichelt. "Nein, dazu ist er doch zu harmlos."

"Sag diesem Angelo, er soll sich zum Teufel scheren. Sonst gibt's Ärger. Wenn ich ihn vor deinem Fenster entdecke, setzt es ein paar saftige Ohrfeigen."

"Werd' ich ihm ausrichten."

"Angela und Angelo", meinte er kopfschüttelnd und legte wie selbstverständlich seinen Arm um ihre Schultern.

Angela trug eine Jacke aus schwarzem Rindsleder, deren Ärmel etwas zu lang waren. Sie musste sie billig in einem Secondhandshop oder auf dem Trödelmarkt erstanden haben, denn für ein so teures Stück hätte ihr Taschengeld sicher nicht gereicht. Ihre Wangen waren leicht gerötet.

Er war sehr zufrieden mit seiner Neuerwerbung.

"Komm, lass uns ins Bayernzelt gehen, da ist das Bier am besten."

Der Mädchenfänger

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