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8. Dezember, Karolinska-In­sti­tut Stock­holm

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Als sie Cesare Hollando zum ers­ten Mal sah, war es wie ein be­freien­der Ge­witter­re­gen – oder als stürz­ten Re­gen­fluten von den Ber­gen und ris­sen alles gleicher­ma­ßen in die Tiefe, Mensch und Tier, Haus und Hof, Gut und Böse – wie um end­lich reinen Tisch zu ma­chen …

Professor Hollando schrieb ge­rade Me­di­zin­ge­schich­te. Er stand am Red­ner­pult, den Zei­ge­stock auf einer Ta­bel­le aus der Hirn­for­schung. Auf der Vi­deo­lein­wand hin­ter ihm war über­le­bens­groß sein Ge­sicht zu se­hen: eine Mi­schung aus wa­chem In­tel­lektu­el­len, braun­ge­brann­tem Ski­leh­rer – und ver­schla­ge­nem Po­ker­spie­ler.

Laut Sta­tuten hielten Nobelpreis­träger vor der eigent­li­chen Preis­ver­lei­hung im Karo­lins­ka-Insti­tut eine Vor­le­sung über ihre Ar­beit.

Carolin war ihm bis nach Stock­holm ge­folgt, und sie wür­de al­les da­ran set­zen, an seinen wei­teren For­schun­gen mit­zu­ar­bei­ten, selbst wenn sie da­für den Rest ih­rer weib­li­chen Kon­kur­ren­tin­nen um­brin­gen musste.

Schon bei der An­tritts­vor­le­sung in Deutsch­land soll­te der Saal vol­ler Stu­den­tin­nen ge­we­sen sein, die ihn an­him­mel­ten wie einen neu­en Gott im Olymp der Wis­sen­schaf­ten, Ce­sare Hol­lan­do, der mit ge­ra­de ein­mal vier­und­vier­zig Jah­ren den No­bel­preis für Me­di­zin er­hielt.

Eine eigentümliche Faszination ging von ihm aus. Es war die Art, wie er sprach. Als sei ihm das In­teresse der Me­dien eher läs­tig, als gehe ihn das Thea­ter um seine Per­son nichts an. Manch­mal ver­harr­te sein Zei­ge­stock se­kun­den­lang auf den Da­ten der Ta­belle, wie ver­sun­ken in sei­ne For­schun­gen, als arbei­te er selbst hier noch wei­ter.

Komm wieder auf den Boden der Tat­sa­chen zu­rück!, er­mahn­te sie sich. Es ist auch nur ein ganz ge­wöhn­li­cher Kerl. Ver­mut­lich ist er im Bett ge­nau­so lang­wei­lig wie al­le an­de­ren …

Trotzdem konnte sie kaum den Blick von ihm las­sen. Es waren sei­ne Augen, die ihm den Ruf ein­ge­tra­gen hat­ten, ein Frau­en­ver­ste­her zu sein, was auch im­mer das ge­nau be­deu­ten sollte.

„Professor Hollando“, mel­dete sich ein Jour­na­list im Saal. „Er­lau­ben Sie vor­ab eine Frage zur Per­son?“

„Gern, wenn sie nicht zu in­tim ist?“

„Sie lehren als Deutscher an einer deut­schen Uni­versi­tät, aber Ihr Na­me klingt eher ita­lie­nisch?“

„Oh, deswegen bin ich noch kei­nes­wegs ita­lie­ni­scher Ab­stam­mung“, er­klär­te Hol­lando lä­chelnd. „Es scheint, dass einer mei­ner Groß­vä­ter in fer­ner Ver­gan­gen­heit uns die­sen Na­men ver­erbt hat. Ich spre­che üb­ri­gens we­der Ita­lie­nisch noch war ich je­mals in Ita­lien. Meine ver­stor­bene Mut­ter – eine Deut­sche – muss dann wohl ge­glaubt ha­ben, dass Ce­sa­re gut zu un­se­rem italie­ni­schen Nach­na­men pas­se.“

„Und könnten Sie uns“ – dabei blick­te sich der Jour­na­list fra­gend im Saal um – „eine auch für Lai­en ver­ständ­li­che Er­läu­te­rung ge­ben, was im Kern Ih­ren Fort­schritt in der Hirn­for­schung aus­macht?“

„Gern, dazu sind wir ja heute hier zu­sam­men­ge­kom­men?

Wie wir alle nur zu oft leid­voll er­fah­ren müs­sen, ist es vor al­lem der Schmerz, der uns zu schaf­fen macht, Schmerz im wei­tes­ten Sin­ne ver­stan­den. Denn schmerz­voll sind auch Trau­er, De­pres­sion, Trau­mata. Lan­ge Zeit glaub­te man, für ge­wöhn­lichen Schmerz sei­en al­lein die Schmerz­re­zep­to­ren des Kör­pers zu­stän­dig.

Mei­ne Ent­de­ckung be­steht nun da­rin, dass es so et­was wie einen ge­ne­ti­schen Schal­ter im Ge­hirn gibt, den sogenannten Aver­sio-Ge­ne­tic-Toggle-Switch –, der so­wohl für kör­per­li­che Schmer­zen wie auch das gan­ze Spek­trum see­li­scher Be­las­tun­gen zu­stän­dig ist. Las­sen Sie mich dazu kurz ein we­nig in Fach­chi­ne­sisch ver­fallen …

Schmerzrezeptoren, Man­del­kerne, un­ser ge­sam­tes Ge­fühls­system, wer­den oh­ne einen sol­chen ge­ne­ti­schen Schal­ter gar nicht ak­tiv. Es bie­tet sich also an, ihn durch ge­ziel­te Be­ein­flus­sung ein- oder ab­zu­schal­ten. Ver­suche im Re­search De­part­ment of Neu­ro­science (RDN) – so der Na­me mei­nes In­sti­tuts – sind äu­ßerst viel­ver­spre­chend.“

„Was dann wohl eine der preis­wür­digs­ten Ent­de­ckun­gen in der Ge­schich­te des No­bel­prei­ses wäre?

Handelt es sich bei Ihrer Ent­de­ckung um einen ähn­li­chen Me­cha­nis­mus wie beim so­ge­nann­ten Dream-Gen, das kana­di­sche For­scher un­längst bei Mäu­sen ge­fun­den ha­ben?“

„Mit dem ent­scheiden­den Un­ter­schied, dass da­bei le­dig­lich ein Gen ent­fernt wurde, wo­durch es zu er­höh­ter Dy­nor­phin-Pro­duk­tion kam. Dy­nor­phin ist ein vom Kör­per er­zeug­tes Opi­oid, ver­gleich­bar dem Opi­um. Es wur­de also nicht der eigent­li­che Schmerz ein- oder ab­ge­schal­tet, son­dern le­dig­lich ein Be­täu­bungs­mit­tel ak­ti­viert.“

„Nehmen Sie mit Ihrer Entde­ckung den Schmerz­mit­tel­produ­zenten nicht die Ge­schäfts­ba­sis?“

„In gewissem Sinne, ja. Wahr­schein­lich wird die Phar­ma­in­dust­rie dem­nächst einen Kil­ler auf mich an­set­zen, wenn ihre Ge­schäf­te in den Kel­ler ge­hen …“

„Bedeuten Ihre Forschun­gen, Pro­fes­sor Hol­lan­do, wir Men­schen wer­den dem­nächst ein völ­lig schmerz­freies Le­ben füh­ren?“

„Oh, nein …“, wehrte Hollando lä­chelnd ab. „Ganz ohne Schmer­zen dürf­ten wir auch in Zu­kunft nicht aus­kom­men. Stel­len Sie sich nur mal vor, was pas­sie­rt, wenn sich Ihre vol­le Bla­se nicht mehr mel­det?“

Lacher im Saal …

„Negative Gefühle werden für eine Viel­zahl von Le­bens­vor­gän­gen be­nö­tigt, wie Flucht und Kampf oder als Hin­weis auf Er­kran­kun­gen. Und ohne Trau­er wür­den wir uns beim Tod naher Ver­wand­ter auch nicht ganz in­takt füh­len, oder?

Da hal­ten wir es doch lie­ber mit der al­ten öst­li­chen Weis­heit: Selbst Bud­dha hat­te Schmer­zen …

Nach Hollandos Vorlesung kehrte Caro­lin oh­ne Um­weg zum Flug­ha­fen zu­rück.

Für die eigent­liche Preis­ver­lei­hung durch den schwedi­schen Kö­nig wür­de es we­gen des be­grenz­ten Plat­zes im Kon­sert­hu­set kaum freie Kar­ten ge­ben. Die meis­ten Plätze wa­ren für ehe­mali­ge Preis­trä­ger und die Mit­glie­der des No­bel­preis-Ko­mi­tees re­ser­viert.

Als sie in Düsseldorf landete, stand ihr Bru­der am Aus­gang ne­ben der Zoll­theke und wink­te ihr mit einer Zei­tung zu.

Ro­bert war über­zeug­ter Jung­ge­selle und ge­ra­de zum Haupt­kom­mis­sar be­för­dert wor­den – zur Über­ra­schung seiner Kol­le­gen, die geglaubt hat­ten es werde Paul Bro­der, für den es dann nur zum Stell­ver­treter reichte.

Nach dem Tod ihrer Eltern liebte Ro­bert es im­mer noch, sich an den ge­deck­ten Tisch zu set­zen. Viel­leicht war Carolin ja jetzt so et­was wie ein Mut­terer­satz für ihn …

So jung und schlaksig – ma­geres Ge­sicht und schel­mi­sche Au­gen – war es schwer, sich Ro­bert als Kom­mis­sar vor­zu­stel­len. Aber der harm­lose Schein trog. Eigent­lich sah er ein we­nig schwind­süch­tig aus. Viel­leicht, weil er zu vie­le Jahre in dunk­len Bü­ros ver­bracht hatte.

Draußen schien es, als wenn der Him­mel auf die Lan­de­bah­nen stürz­te. Later­nen­mas­ten wa­ckel­ten im Wind und von den fernen Hü­geln Rich­tung Rhein brei­tete sich eine dunk­le Wol­ken­de­cke aus.

„Lass uns erst mal ins Flughafen-Café ge­hen“, schlug Ro­bert vor. „Bei dem Wetter blei­ben wir noch im Stau ste­cken.“

Er bestellte wie immer nur einen Es­presso.

„Sieh dir das mal an“, sagte er und reichte ihr die Zei­tung. „Et­was Selt­sames geht mo­men­tan in der Stadt vor. Es wer­den im­mer mehr Frauen auf­ge­grif­fen, die ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren ha­ben …“

Carolin erinnerte sich, dass Ro­bert vor ihrem Ab­flug eine jun­ge Frau er­wähnt hatte, die nur mit einem blauen Unter­rock und dün­ner Bluse be­klei­det am Fluss­ufer un­ter­halb der Uni­ver­si­tät auf­gegrif­fen wor­den war – bei Frost, wäh­rend auf dem Was­ser Eis­schol­len trie­ben. Ein Poli­zei­be­am­ter hatte sie beim mor­gend­lichen Lauf­trai­ning ent­deckt.

„Schon der dritte Fall, seit du nach Stock­holm ge­flo­gen bist“, sag­te Ro­bert. “Und jetzt auch noch ein vier­ter. Grau­en­haft, diese Sa­che mit dem Auge …“

Die erste Frau war etwa zwan­zig Jahre alt. Als Ca­ro­lin ihr Bild in der Zei­tung sah, er­starrte sie. Es war Ma­nue­la, eine Kom­mi­li­to­nin …

Sie studierte Theater­wis­sen­schaf­ten und Me­di­zin – an­schei­nend, ohne sich für ein Fach ent­schei­den zu kön­nen.

Einmal hatte Manu­ela sich von Ca­rolin ein paar Euro gelie­hen, um in der Cafe­te­ria be­zah­len zu kön­nen. An­geb­lich, weil ihr Por­te­mon­naie im Hand­schuh­fach des Wa­gens lag. Caro­lin erin­ner­te sich nicht, das Geld je­mals zu­rück­be­kom­men zu ha­ben.

Auf dem Foto sah Manuela stark ab­ge­ma­gert aus. Doch das eigent­lich Ver­stö­rende war die Schlag­zeile:

JUNGE FRAU OHNE GE­DÄCHT­NIS AN

FLUSSUFER AUF­GE­FUN­DEN

Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erin­nern, wo sie wohn­te und wie sie hieß.

Amnesie, das wusste Caro­lin aus dem Stu­dium, konnte durch einen Un­fall, zum Bei­spiel ein Hirn-Schä­del-Trau­ma, aber auch durch Schlag­an­fall oder ver­schie­dene an­dere Krank­hei­ten aus­ge­löst wer­den. Manch­mal blie­ben die Ur­sa­chen auch völ­lig un­be­kannt.

Das ist Manuela Winter – nein, Win­ters“, be­rich­tigte sie. Sie hat das­selbe Se­minar be­legt wie ich.“

„Dann solltest du unbe­dingt deine Anga­ben zu Pro­tokoll ge­ben. Bis­her tap­pen wir näm­lich noch völ­lig im Dun­keln. Von Seiten ihrer Uni­ver­sität – kann sein, aus dem Uni­versi­täts­sek­reta­riat – gibt es einen Hin­weis, sie könnte sich mo­mentan ir­gend­wo in den USA aufhal­ten“

„Heißt das, man hat dir den Fall über­tra­gen, Ro­bert? Gratu­liere …“

„Nicht mir allein, ein gan­zer Stab ar­beitet daran. Also bitte kei­ne Vor­schuss­lor­bee­ren.“

„Na, wenn das kein Karrie­re­sprung ist …“

„Die Presse läuft Sturm we­gen der rät­sel­haf­ten Vor­fälle. Un­se­re Tele­fone klin­geln Tag und Nacht.“

„Dann zieh einfach den Ste­cker aus der Wand …“

„Leichter gesagt als getan. Es gibt da ein paar Politi­ker, die uns ge­nau auf die Fin­ger schau­en, schon we­gen des Echos in den Me­dien. Diese Frau­en ha­ben nicht nur ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren. Der Kör­per der einen ist vol­ler blau­er Fle­cke. Eine an­dere war bei der Ver­neh­mung kahl­köp­fig und am gan­zen Kör­per ra­siert.“

„Rasiert, wozu?“

„Keine Ahnung. Eine an­dere macht dau­ernd ob­szöne Bemer­kun­gen.“

„Vielleicht, weil sie etwas Schreckli­ches er­lebt hat?“

„Eine Vergewaltigung?“

„Oder so was Ähnliches.“

„Dafür haben wir bisher keiner­lei Hin­weise ge­fun­den. Wenn man die Frau­en an­spricht, hat man den Ein­druck, sie ver­ste­hen einen gar nicht. Es dau­ert im­mer eine Zeit­lang, bis man eine halb­wegs plau­sible Ant­wort be­kommt.“

„Aber dann reden sie wie­der nor­mal?“

„Nein. Sie wirken eher geis­tes­ab­we­send.“

Woran erinnert mich das aus mei­nen Semi­na­ren?, über­legte Ca­ro­lin. Beim Stu­dium von Kran­ken­be­rich­ten hatte sie schon viel mit selt­sa­mem Ver­hal­ten zu tun ge­habt. Das ge­hör­te zur Aus­bil­dung. Aber was be­deu­te­ten in der Neu­rologie ver­zö­gerte Reak­ti­onen beim Spre­chen?

„Wir haben jetzt vier Fälle ohne jeden An­halts­punkt“, sagte Ro­bert.

Sie sah sich noch einmal die Fo­tos in der Zei­tung an.

„Was ist mit der vierten Frau? Sieht aus, als wenn ihr … ein Auge fehlt?“

Carolin hob die Zeitung ins Licht, um bes­ser se­hen zu kön­nen. Oder lag es nur am schlech­ten Druck? Nein, es war kein Feh­ler. Es war ein­deu­tig eine leere Au­gen­höhle.

„Robert …?“

Keine Antwort.

„Gibt es etwas, über das du nicht mit mir re­den willst?“

„Ihr fehlt ein Auge, ja …“

„Was bedeutet das?“

„Ich glaube nicht, dass jetzt der rich­tige Zeit­punkt ist, darüber zu reden – so kurz nach dei­ner Rück­kehr.“

„Heißt das, du willst mich scho­nen? Schon mal was von Resi­lienz ge­hört?“

„Mentale Abhärtung … oder so ähn­lich.“

„Resilienz ist in unserem Fach be­son­ders wich­tig, weil stän­dig ziem­lich üble Dinge auf uns zu­kom­men. Einige bre­chen des­we­gen so­gar ihr Stu­dium ab. Und ein ge­öff­ne­tes Ge­hirn, wenn wir im Lim­bi­schen Sys­tem mit dem Skal­pell Teile des Ce­re­brums oder des For­nix cere­bri freile­gen, ist auch nicht ge­ra­de ap­pe­tit­lich.“

Robert nickte nur unmerklich und schwieg.

„Irgendwas nicht in Ord­nung?“

„Ihr rechtes Auge hängt an einer An­gel­schnur – Mi­nia­tur­ha­ken Größe 24, so die Be­zeich­nung im Ka­talog für Zu­be­hör – über einem Kirchenal­tar.“

„Ihr Auge hängt … wo?“, fragte sie.

Ihr Bruder gab keine Antwort.

„Robert …?

„Spielt es denn eine Rolle, wo?“

„Ja, wieso nicht …“

„Es hängt über dem Kru­zi­fix am Altar St. Ma­ria Mag­da­lena, das ist eine Kirche hier in der Nähe. Das Auge darf erst nach der Spu­ren­si­che­rung ab­genom­men wer­den. Die Siche­rung von ge­neti­schem Ma­teri­al erfordert im­mer be­son­dere Vor­keh­run­gen, des­halb ist der Zutritt bis auf Weite­res ge­sperrt.“

„Aber wer hängt denn ein Auge über einen Kir­chen­al­tar – und wozu?“

„Keine Ahnung.“

„Hört sich das nicht nach durch­ge­knall­tem Psy­cho­pa­then an?“

„Wir haben noch nicht den ge­rings­ten Hin­weis, was da­hin­ter­steckt.“

Als sie das Café verließen, wink­te Ro­bert ei­nem vor­über­fah­ren­den Wa­gen zu …

Carolin konnte nicht erken­nen, wer am Steuer saß – viel­leicht eine sei­ner zahllo­sen Freun­din­nen. Ihr Bru­der war trotz seines schwächli­chen Aus­se­hens eine Art Frau­en­held. Was denn auch sonst bei ei­nem Kerl, der jede Nacht mit einer groß­kalibri­gen Waffe ins Bett ging?

Auf dem Park­platz öff­nete er das Hand­schuh­fach und nahm ein Farb­foto her­aus.

„Sind deine Nerven stark ge­nug, dir das hier anzu­se­hen?“

„Was?“, fragte sie argwöh­nisch.

„Na, das Auge …“

Sie musste sich übergeben, als sie das Foto sah. Es kam so plötz­lich und war ein so star­ker Re­flex, dass sie nur noch die Wa­gen­tür auf­sto­ßen konn­te und sich auf den Park­plat­z er­brach. Robert reich­te ihr ein Ta­schen­tuch …

Aber da stol­perte sie auch schon mit wei­chen Kni­en auf ein Ge­sträuch nahe der Lan­de­bahn zu. Sie streckte tas­tend ihre Arme aus, als sei sie plötz­lich er­blin­det …

Der Sturm hatte nach­gelassen, doch die röh­ren­för­mi­gen Wind­an­zei­ger aus rot-wei­ßen Stoff­hül­len flat­ter­ten im­mer noch waa­ge­recht in der Luft. Hin­ter dem Draht­zaun weit drau­ßen lan­dete mit wie­gen­den Trag­flä­chen ein Lang­strecken­flie­ger.

Großer Gott! – das Bild mit dem am Per­lon­fa­den hän­gen­den Auge war so­fort wie­der da, als sie die Augen schloss …

Aus der Pupille bog sich die win­zige Spitze eines An­gel­ha­kens bis in den wei­ßen Aug­apfel hin­ein, ohne ir­gend­eine Blut­spur zu hin­terlas­sen, chi­rur­gisch sau­ber durch­trennt. Und da­hinter – un­scharf we­gen der Ein­stel­lung des Ob­jek­tivs und wie male­risch ar­ran­giert – war sche­men­haft das Bild­nis des Ge­kreu­zig­ten zu er­ken­nen.

Sie kannte die Kir­che von frü­her, weil dort ein his­tori­scher Pil­ger­weg ver­lief und sie oft mit ih­ren El­tern hier ge­we­sen war. Das Kreuz im Chor­raum von St. Ma­ria Mag­da­lena war um 1300 in den Pyre­näen ent­stan­den.

Robert stieg aus und legte den Arm um ihre Schul­tern.

„Geht’s wieder …?“, fragte er.

„Professor Hollando gründet einen Ar­beits­kreis aus­ge­wähl­ter Stu­den­ten“, sagte Caro­lin wäh­rend der Rück­fahrt. Sie war froh, das Thema wech­seln zu können. „In den muss ich un­be­dingt auf­ge­nom­men wer­den.“

„Deshalb bist du zur Preis­verlei­hung nach Stock­holm ge­flo­gen?“, fragte Ro­bert. „Um ihn darauf anzu­spre­chen?“

Sie hatte kaum Zeit, zu antwor­ten …

Er be­schleunigte so stark, dass sie den Rah­men der Rü­cken­leh­ne im Schaum­stoff spürte. Ihr Bru­der liebte schnel­les Fah­ren. Der An­trieb sei­nes Zwei­sit­zers war mit 12-Zylin­dern und 800 PS kein nor­ma­ler Mo­tor, son­dern eher ein Ra­ke­ten­trieb­werk.

Dann kam eine enge Kurve und sie holte tief Luft …

„Nein, man hat mir schon vor Ab­flug ei­nen Vor­stel­lungs­termin ge­ge­ben. Ich wollte ein­fach da­bei sein und se­hen, wie Hol­lan­do auf mich wirkt.“

„Und – wie wirkt er auf dich?“

Sie gab keine Antwort.

„Carolin …?“

„Geht dich das was an?“

„Na, ich will doch, dass meine klei­ne Schwes­ter glück­lich wird.“

„Beeindruckend, mehr oder weni­ger.“

„Du willst einen No­bel­preis­trä­ger, hab ich recht?“

„Und du wirst bald Polizei­präsi­dent.“

„Ausgezeichnete Idee …“ Ro­bert lachte. „Glaubst du denn, dass dein Charme aus­reicht, ihn um den Fin­ger zu wi­ckeln?“

„Hollando ist ziemlich schwie­rig, ein har­ter Bro­cken. Intel­lek­tuell und in je­der Hin­sicht. Kei­ne Ah­nung, ob er mich ak­zep­tiert.“

„Akzeptiert als Studentin? Oder als Frau?“

„Kommt drauf an.“

„Du bist gerade dabei, das he­rauszu­fin­den?“

„Ich habe noch keinen Men­schen ken­nen­ge­lernt, der ihm in­tel­lek­tu­ell das Was­ser rei­chen könnte, Robert. Mit so einem Mann ins Bett zu ge­hen, ist noch mal eine völ­lig an­dere Sa­che. Darü­ber den­ke ich erst gar nicht nach. Ich muss höl­lisch auf­pas­sen, dass ich bei mei­nem Vor­stel­lungs­ge­spräch kein dum­mes Zeug rede.“

„War der Kerl nicht ur­sprüng­lich Domi­ni­ka­ner? Und ist erst neu­er­dings zu den Zis­ter­zien­sern über­ge­lau­fen?“

„Er ist immer noch Mönch und Do­mini­ka­ner und zu nie­man­dem über­ge­lau­fen. Ce­sare wohnt nur vo­rüber­ge­hend in der Zis­ter­zien­ser­abtei, wo er übri­gens sehr gast­freund­lich auf­ge­nom­men wur­de. Da­vor lebte er im Do­mini­kaner­klos­ter St. Al­bert in Leip­zig.“

„Im Kloster, aha. Das heißt, ohne Frauen? Und Ce­sare … du nennst ihn also schon beim Vor­na­men?“

„Es ist wichtig für mich, den Job zu be­kom­men.“

„Wird doch wohl nicht wieder eine dei­ner be­rüch­tigten Schick­sals­phan­ta­sien sein?“

Carolin winkte verächtlich ab. „Mach dich ru­hig lus­tig über mich. Ich se­he eben manch­mal Zei­chen und Hin­weise – echte An­zei­chen als Rat­schlä­ge für mein künf­tiges Le­ben, kei­ne Hirn­ge­spinste.“

„So? Welche Zeichen sind es denn dies­mal?“, fragte Ro­bert und legte grin­send sei­nen Arm um ihre Schul­tern.

„Ein Dreieck zwi­schen den Hoch­haus­tür­men der Uni­versi­tät, dem al­ten Zis­ter­zien­ser­kloster einen Hü­gel wei­ter und dem Haus un­serer El­tern.“

„Das meinst du nicht im Ernst?“

„Es ist ein Dreieck“, wieder­holte sie. „Luft­linie we­nige hun­dert Me­ter. Sieh es dir mal auf der Kar­te an. Die Schen­kel al­ler Li­ni­en sind gleich lang. Glaubst du, so was ist Zu­fall?“

„Lieber Himmel …“ Robert schüt­telte un­gläu­big den Kopf. „Bei dei­ner Nei­gung zum Aber­glau­ben könn­test du auch im Kaf­fee­satz lesen.“

Er stoppte an einer dunklen Haus­fas­sade, über deren Schau­fens­ter eine de­fekte Neon­reklame fla­ckerte.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Du sprichst doch fließend Italie­nisch. Geh mal in die Piz­ze­ria und besorg uns was zum Abend­es­sen.“

„Wieso, weil es besser schmeckt, wenn man auf Italie­nisch be­stellt?“

„Wäre ja möglich, dass der Piz­zabä­cker dei­nem Charme erliegt…“

„Du meinst das Lokal da drü­ben? Sieh dir die Bruch­bude doch mal an. Die Schau­fens­ter­scheibe ist mit einem Tuch ver­hängt.

„Vielleicht heißt der Pizzabäcker ja Ce­sare wie dein Pro­fessor …“

Das Haus ihrer verstorbenen El­tern war ein mas­si­ver Fels­stein­bau aus dem sieb­zehnten Jahr­hun­dert. Im Gar­ten stan­den alte Apfel­bäume.

Sie liebten diesen Ort über alles, auch wenn sie aus einem un­be­stimm­ten Ge­fühl un­gern da­rüber spra­chen. Viel­leicht war es so et­was wie Res­pekt vor der Ver­gan­gen­heit.

Durch die Dach­fenster sah man den Stau­see und et­was wei­ter seit­lich auf den Hü­geln die Hoch­haus­tür­me der Uni­ver­si­tät. Kurze Zeit vor dem Tod ih­rer El­tern hatte man das Ge­bäude un­ter Denk­mal­schutz ge­stellt.

Aber Ro­bert wusste, wie man sich über Vor­schrif­ten hin­weg­setzte. An­ders als sein Stell­ver­treter Paul Bro­der, der so et­was kaum ge­wagt hätte, ließ er es ein­fach in Nacht- und Ne­bel­ak­tio­nen von einem be­freun­de­ten Bau­un­ter­neh­mer sa­nie­ren.

Das hätte ihn zwar sei­ne Be­för­de­rung zum Haupt­kom­mis­sar kos­ten können, doch in der Be­zie­hung war er kaum we­ni­ger skru­pel­los als die Ver­bre­cher, die er jagte.

Eine Studentin

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