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Vorstellungsgespräch

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Genau genommen war sie Ce­sare Hol­lando gar nicht zum ersten Mal bei sei­nem Vor­trag in Stock­holm be­geg­net, son­dern schon frü­her in ei­nem voll­ge­stopf­ten Fahr­stuhl der Uni­ver­si­tät, wenn auch nur flüch­tig, für we­nige Se­kun­den.

Stu­denten stiegen ein und aus und es war die plötzli­che Nähe zu einem dun­kelhaa­ri­gen Hü­nen, die sie völ­lig un­vor­be­rei­tet traf. Als ge­rate man in ir­gend­et­was Myste­ri­öse – wie ein rät­sel­haf­tes Mag­net­feld …

„Das ist Professor Hol­lando“, hörte sie einen Stu­den­ten hin­ter sich flüs­tern. „Un­ser kom­men­der No­bel­preis­trä­ger und künf­ti­ger Lehr­stuh­linha­ber für Neu­ro­wis­sen­schaf­ten.“

Obwohl Carolin im Gedränge so gut wie nichts von ihm sah, war es, als ste­he auf ein­mal ihr Herz still. Und einen Mo­ment spä­ter, als sich in der zwei­ten Eta­ge die Fahr­stuhl­tür öff­nete, flüch­tete sie – wie um ihr Le­ben zu ret­ten – ins Trep­pen­haus und lehnte sich auf­at­mend an die Wand.

Was war das denn? Doch nicht etwa ein An­fall von Klaus­tro­phobie?

Jetzt im selben Fahr­stuhl, kurz vor ihrem Vor­stel­lungs­ge­spräch, fühl­te sie plötz­lich wie­der die glei­che Be­klem­mung. Als wür­de sie, sobald sie Hol­lando erst einmal ge­gen­über­saß, kein Wort he­r­aus­brin­gen.

Dabei war sie immer stolz darauf gewe­sen, nicht be­son­ders ängst­lich zu sein. Ro­bert nann­te sie gern – wenn auch mit ironi­schem Unter­ton – „mei­nen un­be­sieg­ba­ren weib­li­chen Ge­fechts­stand“ und lobte ihre Furcht­lo­sig­keit und dass sie durch kaum et­was aus der Fas­sung zu brin­gen war.

Gib dir selbst einen Tritt in den Hin­tern, er­mahn­te sie sich. Das ist die Chan­ce deines Le­bens!

Du stehst schon fast im Vor­zim­mer. Und da sitzt auch nur ir­gend­eine be­brill­te Schleier­eule, die sich nach dei­nem Ter­min er­kun­digt …

Doch in Cesare Hollandos Insti­tut gab es gar kein Vor­zim­mer. Als sie oh­ne an­zu­klop­fen die Tür öff­nete, saß er kaum fünf Me­ter ent­fernt am Schreib­tisch, ver­sun­ken in das Stu­di­um von Pa­pie­ren. Der Raum war über­ra­schend karg einge­rich­tet. An der einen Wand ein schwarz-wei­ßes Wap­pen mit Do­mi­nika­ner­kreuz, an der an­de­ren eine Ko­pie des Heili­gen Do­mi­ni­kus von Ti­zian.

„Nein, nein, Sie sind nicht falsch“, mur­melte Hol­lando, ohne auf­zubli­cken – als kön­ne er ihre Ge­dan­ken le­sen. „Ich richte mich ge­rade erst ein. An­de­rer­seits schät­ze ich auch die Ein­fach­heit, wie es sich für einen Do­mi­nika­ner ge­hört.“

„Man sagt, Sie bewohnten nur ein win­zi­ges Zim­mer­chen drü­ben im Klos­ter?“

„Obwohl man bei einem Pro­fes­sor mei­ner Besol­dungs­stufe eher an eine opu­lente Dienst­vil­la den­ken würde? Ja, ich lebe bei den Zis­ter­zien­sern, al­ler­dings nur vor­über­gehend.“

„Carolin Meyers, wenn ich mich vor­stel­len darf?“

Hollando sah prüfend in eine Liste und nickte.

„Und nun sind Sie hier we­gen der Ar­beits­gruppe? Ihr Ge­sicht kommt mir übri­gens be­kannt vor. Wa­ren sie im Ka­ro­linska-In­sti­tut?“

Carolin erstarrte … Großer Gott, sie war ihm dort aufge­fallen …

„Hab im Univer­sitäts­se­kreta­riat einen der letz­ten Stu­dien­plätze für Ihre Semi­nare er­gat­tert, weil das An­ge­bot we­gen zu großer Nach­frage be­grenzt wer­den musste. In Ihre Ar­beits­grup­pe auf­ge­nom­men zu wer­den, wür­de mir einen Traum er­fül­len.“

„Einen Traum, aha. Und was, glau­ben Sie, befä­higt Sie in mei­nem Ar­beits­kreis mit­zuar­bei­ten? Un­ter so vie­len hoch qua­lifi­zierten Stu­den­ten?“

Ir­gend­etwas war in sei­nen Augen, das sie nicht ein­ord­nen konnte.

„Nehmen Sie doch Platz, Caro­lin ….“

„Ja, gern.“

„Also …? Warum sollte ich Sie in meine Ar­beits­gruppe auf­neh­men?“

„Weil ich besser bin als alle ande­ren.“

Ihre Antwort schien ihn zu amü­sie­ren. Hol­lando lehnte sich im Ses­sel zu­rück und fal­tete die Hände über dem Bauch.

„Sie glauben also nach zwei Se­mes­tern Neu­ro­wis­sen­schaf­ten, Sie seien ande­ren Stu­den­ten überle­gen? Was macht Sie so si­cher?“

„Stellen Sie mir eine Frage, Pro­fes­sor.“

Er nickte versonnen und blät­terte in sei­nen Noti­zen. Aber nichts ge­schah. Als exis­tie­re sie plötz­lich nicht mehr für ihn …

Hol­lando schien mit sei­nen Ge­dan­ken an ir­gend­ei­nem fer­nen Ort zu wei­len. Doch was viel schlim­mer war – sie hatte nicht die ge­ring­ste Ah­nung, mit wel­cher Frage er sie gleich auf die Pro­be stel­len würde.

Carolin schob langsam ihr rech­tes Bein übers linke Knie – ihr hel­ler Kat­tun­rock be­wegte sich ein paar Zenti­meter in Rich­tung Ober­schen­kel – und dabei be­merkte sie, dass sein Blick ih­rer Be­we­gung folg­te und kurz auf ih­ren Bei­nen ruhte.

Also schwul ist er schon mal nicht, dach­te sie. Al­les halb so schlimm …

„Wenn Sie jemand fragte, wel­che gene­relle In­ten­tion wir Men­schen im Le­ben ha­ben, Ca­rolin, was wür­den Sie dar­auf ant­wor­ten? Gleich­gül­tig, ob wir uns des­sen im­mer be­wusst sind oder nicht. Un­ge­wöhn­liche Frage, zu­gege­ben. Aber ver­su­chen Sie Ihre Ant­wort mög­lichst auf den Punkt zu brin­gen.“

„Sie meinen einen generel­len Nen­ner? Et­was, dass auf alle Akti­vi­tä­ten im Le­ben zu­trifft? Nur einen Nen­ner oder meh­rere?“

„Was auch immer Sie als Ant­wort für rich­tig hal­ten …“

„Dann würde ich mich für das Posi­tiv- und Ne­ga­tiv­sein des Le­bens ent­schei­den, im wei­testen Sinne. Auch wenn es ziem­lich philo­so­phisch klingt und als Defi­nition noch et­was vage wirkt. Man müsste ge­nauer erläu­tern, worum es sich dabei han­delt.“

Hollando lehnte sich zu­rück – und nickte.

„Aus­ge­zeich­net, Ihre Ant­wort über­rascht mich …“

„Was nicht weiter schwie­rig war, weil ich weiß, dass Sie als Vor­sit­zen­der die Ethik­kom­mis­sion lei­ten. Da es mich in­ter­es­siert, habe ich Ihre Pu­bli­kat­ionen zum The­ma stu­diert.“

„Inzwischen hat jemand anders den Vor­sitz. Hab’s auf­gege­ben, weil es zu viel Zeit kos­tet. Und Posi­tiv- und Ne­ga­tiv­sein ha­ben auch mit Mo­ral zu tun?“

„Als Gut und Böse, laut Ihrer Defi­ni­tion. Aber Posi­tiv- und Ne­ga­tivsein im Le­ben sind na­tür­lich viel mehr, als sol­che abstrak­ten Beg­rif­fe aus­drü­cken kön­nen – eben auch Glück, Lust, Spaß und Freude, Le­bensqua­lität, Lei­den, Schmerz, Trau­er und De­pres­sion.“

„Und das lernt man an unserer Uni­versi­tät in den Neu­ro­wis­sen­schaf­ten?“, fragte er.

„Nein, nur wenn man umfassend infor­miert sein will.“

„Seltsam vielseitige Neugier bei einer jun­gen Frau wie Ih­nen, oder?“

„Finden Sie? Nicht jedem Gesicht sieht man so­fort an, ob es ein Dum­mer­chen ist.“

Hol­lando wiegte nach­denk­lich den Kopf. Es sah aus, als ver­su­che er ein Grin­sen zu un­ter­drücken.

„Ich be­ginne zu ver­ste­hen, was Sie da­mit mein­ten, Sie seien bes­ser als alle an­de­ren Kan­dida­ten …“

„Für einen Domi­ni­ka­ner­mönch ist die kri­ti­sche Ana­lyse un­se­rer ge­sell­schaftli­chen Prob­leme si­cher eines der wich­tig­s­ten An­lie­gen über­haupt. Es war also nicht all­zu schwie­rig, mich da­rauf vor­zu­be­rei­ten.“

Hollando lehnte sich mit ver­schränk­ten Ar­men im Dreh­stuhl zu­rück – an­schei­nend be­saß das Ding einen Wipp­me­cha­nis­mus – und beug­te sich gleich dar­auf un­er­war­tet nach vorn, die rech­te Hand über den Schreib­tisch ­aus­ge­streckt …

„Nennen Sie mich ab jetzt doch ein­fach Ce­sare, Ca­rolin! Auf gute Zu­sam­men­ar­beit in mei­ner Ar­beits­gruppe …“

Sie ver­spür­te ein leich­tes Zit­tern im rech­ten Arm, als sie kurz mit den Fin­ger­spit­zen seine Hand­flä­che be­rührte.

„Übrigens liegen Sie ganz rich­tig und ich bin wei­ter­hin Do­mi­nika­ner­mönch und kei­nes­wegs ab­trün­nig ge­wor­den“, sagte er. „Auch wenn die Zister­zien­ser mich freund­lich auf­ge­nom­men ha­ben, weil ihr Klos­ter so nahe bei der Uni­ver­si­tät liegt.“

Ja, ich weiß, dachte sie. Aber nett von dir, das noch mal zu er­wäh­nen. Ganz so, als wä­ren wir bald beste Freunde …

Carolin fand es faszinierend, wie ihr Bru­der an sei­nen Job heran­ging. Er schien ein wirk­lich be­gab­ter Er­mitt­ler zu sein. Falls man es nicht als zwang­hafte De­tail- und Spu­ren­ver­liebt­heit be­zeich­nen wollte. Von sei­nem Hang, alle nur denk­baren Theo­ri­en über einen Tat­her­gang zu ent­wi­ckeln, ganz ab­ge­se­hen. Er nann­te es Mög­lich­kei­ten­ana­lyse, ein Be­griff, den er in der Wis­sen­schafts­the­orie auf­ge­schnappt hatte. Und der er­folg­reichs­te Er­mitt­ler war im­mer je­ner, der früh­zei­tig alle mög­li­chen Ab­läu­fe und Mo­ti­va­tio­nen er­wog.

Wenn sie beim Frühstück waren, be­richte­te er ihr manch­mal über den letz­ten Stand sei­ner Er­mitt­lun­gen. Er saß nicht etwa in sei­ner eige­nen Woh­nung eine Etage tie­fer, son­dern lieber bei ihr im Halb­dun­kel un­ter der Dach­schrä­ge.

Seine Hände umklammerten eine Kaf­fee­tasse und von sei­nem Platz aus, einem Tisch aus der Zeit Mar­tin Lut­hers, konnte man un­ten das See­ufer mit der Stau­mau­er und Al's Do­ra­do See-Ki­osk se­hen. Die Sonne schob sich ge­mäch­lich über den Hü­gel, als ar­bei­te sie alle Par­zellen aus Wie­sen und Laub­wald nach einem fest­leg­ten Plan ab.

Eine der vier Frauen ohne Ge­dächt­nis war in­zwi­schen ver­stor­ben. Man hatte ihr Auge ge­ne­tisch ab­ge­gli­chen. Der Ge­richts­medi­zi­ner ver­mu­tete eine In­fek­tion, die von der Augen­höhle ins Ge­hirn ge­langt war. Die Art, wie das Auge ent­fernt wor­den war, deu­tete da­ge­gen eher auf Gewal­tein­wir­kung hin.

Allerdings schien Roberts Vor­gehen gar nicht er­laubt zu sein. Er lud die überleben­den Frau­en ohne Ge­dächt­nis der Reihe nach in den Ver­hör­raum – und jag­te den Rest des Kom­mis­sariats in die Mit­tags­pau­se, damit es kei­ne Zeu­gen für seine Ver­höre gab.

„Gönnt euch mal ein gutes Es­sen auf meine Kos­ten. Wir haben in den letz­ten Ta­gen vergeblich Da­ten ge­sam­melt wie Kö­ter, die an jedem La­ter­nen­pfahl schnüf­feln. Und was ist da­bei her­aus­ge­kom­men?“

Es gab zwar Videoaufnah­men von den Ver­hören der Frau­en. Doch die Fil­me wur­den un­ter Ver­schluss ge­hal­ten und Ro­bert be­hielt sei­ne Ge­heim­nisse für sich, falls es wel­che gab. Nur bei ihr woll­te er eine Aus­nah­me ma­chen.

„Aber du sagst nie­man­dem et­was da­von, Ca­ro­lin?“

„Und warum erzählst du es ausge­rech­net mir?“

„Weil ich mit ­jeman­dem dar­ü­ber re­den muss.“

„Was passiert denn, wenn man von dei­nen – na ja, Ver­hör­me­tho­den er­fährt?“

„Es könnte mich in Schwie­rig­kei­ten brin­gen.“

Robert zündete sich eine Ziga­rette an. Er inha­lierte tief den Rauch und blies ihn ge­dan­ken­verlo­ren zur De­cke.

„Großer Gott …“

„Sag nicht dauernd ‚großer Gott’, Ca­ro­lin. Sag zwi­schen­durch ein­fach mal ‚lie­ber Him­mel’ …“

„Hast du nicht kürzlich mit dem Rau­chen auf­ge­hört?“

„Diese Frauen reden nur, wenn man sie un­ter Druck setzt. Es ist, als sei­en sie blo­ckiert – ir­gend­wie um­pro­gram­miert.“

Robert schob seine Kaffeetasse bei­seite und ging hin­über zum Schrank.

Das un­tere Fach war abge­schlos­sen und er zog einen Schlüs­sel­bund aus der Ho­senta­sche. Hin­ter der Schrank­tür be­fand sich – wie Caro­lin jetzt erst ent­deck­te – ein Schließ­fach.

„Schau dir das mal an“, sagte er und legte ein Vi­deo in das Ab­spiel­gerät auf der An­richte.

„Was denn, du hast Beweis­mate­rial aus dem Büro mit­ge­nom­men? Ist das denn ge­stat­tet?“

Robert gab keine Antwort. Er drückte die Taste und drehte am Laut­stär­ke­reg­ler. Dann wand­te er sich lä­chelnd nach ihr um … und so wur­de sie seine ein­zi­ge Ver­trau­te bei den Er­mitt­lun­gen.

Eine Studentin

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