Читать книгу Eine Studentin - Peter Schmidt - Страница 7
Vorlesung
ОглавлениеDie erste Seminarstunde nach Hollandos Rückkehr war enttäuschend. In der Menge der Studenten schien er Carolin gar nicht wahrzunehmen …
Das Seminar glich wegen des Andrangs eher einer Vorlesung. Man saß in einem theaterähnlichen Raum mit Bühne und abfallenden Stufen und Hollando schrieb Thesen auf eine altmodische Kreidetafel. Es ging darum, die engen Verbindungen von Neurologie und Hirnforschung mit Motivationen und gesellschaftlichen Missständen zu analysieren.
„Menschliche Verrohung ist allgegenwärtig in der Gesellschaft. Habgier, Egoismus, Hass und Aggressivität sind an der Tagesordnung. Dazu Folter, Vergewaltigung, Unterdrückung, Amokläufer, Selbstmordattentäter, Sprengstoffanschläge – und die Prognose bleibt weiter ungünstig. Oder zweifelt das jemand an?“, erkundigte sich Hollando.
„Steinzeit in der Gegenwart …“, meldete sich die Stimme eines Studenten.
Lacher und Beifall im Publikum.
„Ein britischer Historiker hat einmal die Kriegstoten der bisherigen Menschheitsgeschichte hochgerechnet. Bis zu dreieinhalb Milliarden Tote, also etwa die halbe gegenwärtige Weltbevölkerung.
Eigentlich hätte schon ein zehnjähriges Kind mit durchschnittlicher Intelligenz erkennen können, dass die Juden zur Zeit des Nationalsozialismus gar kein gemeinsames Merkmal hatten wie minderwertige Rasse, Weltverschwörer oder Ausbeuter. Dazu musste man sich nur irgendein jüdisches Schulkind, den arbeitslosen jüdischen Arbeiter oder die alte jüdische Gemüsehändlerin an der Ecke ansehen.“
Hollando machte eine Pause und blickte sich fragend im Auditorium um.
„Und was ist Ihrer Meinung nach dafür verantwortlich? Sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse? Unsere Gene? Mangelnder guter Wille? Oder Gleichgültigkeit, Egoismus und Bequemlichkeit?“
„Oder Dummheit?“, ergänzte eine Frauenstimme.
Carolin hob zögernd die Hand und Hollando nickte ihr aufmunternd zu.
„Man könnte auch die Frage stellen, die ja gegenwärtig in der Hirnforschung diskutiert wird, ob der Mensch überhaupt über Willensfreiheit verfügt.“
„Ausgezeichnet, Fräulein Meyers … das ist der Hinweis, den ich erwartet habe.“
Er hat sich wahrhaftig meinen Namen gemerkt!, dachte Carolin. Er hat mich wiedererkannt in diesem Saal voller Studenten …
„Illusionär könnte die menschliche Willensfreiheit sein, wenn in allen Bereichen der Welt das Prinzip von ausnahmslosem Determinismus herrscht“, fuhr Carolin fort. „In der materiellen Welt gleichermaßen wie in der geistigen, in der neurologischen ebenso wie in der Quantenphysik.“
„Und wie denken Sie persönlich darüber, Kommilitonin Meyers?“
„Wenn jede Veränderung im Universum eine Ursache hat, wenn es also nirgends ursacheloses Geschehen gibt und wenn in einem gleichen Bedingungszusammenhang eine Veränderung eintritt, dann ist diese nach Maß und Qualität im Ergebnis notwendig immer die gleiche.“
„In der Tat, ja. Das ist genau der gegenwärtige Stand der Hirnforschung“, bestätigte Hollando. „Unser Problem liegt im naiven Alltagsglauben, es gebe so etwas wie echte Handlungsfreiheit. Auch die Überzeugung, jetzt freie Wahl zu haben, Kaffee oder Tee zu trinken, ist ohne versteckte Kausalfaktoren als Bedingung der jeweiligen Motivation kaum zu verstehen.
Deshalb erklärte schon Immanuel Kant – wohl einer der scharfsinnigsten Köpfe der Weltgeschichte –, echte Willensfreiheit sei eigentlich nur denkbar durch den Beginn einer Kausalreihe aus dem Nichts. Und was genau, Carolin Meyers, sollte die Instanz hinter der Entscheidung sein, Kaffee oder Tee zu wählen, falls Kant sich hier irrt?“
„Alternativ bleiben nur unbekannte Kausalfaktoren, die ihrerseits durch immer weiter zurückgehende Kausalketten bedingt sind.“
„Ausgezeichnet, Carolin … können das alle hier im Saal nachvollziehen?“, erkundigte sich Hollando und blickte verhalten grinsend in die Runde.
„Aber die Quantenphysik – so eine immer noch geltende These von Heisenberg und Bohr – geht doch auf der Ebene der elementarsten Vorgänge vom Indeterminismus aus, von ursachelosem Geschehen“, meldete sich ein bebrillter Student in der zweiten Reihe.
„Danke für den Hinweis, Karlsbach – Ihre Antwort, Carolin?“
„Gern. Ich versuche das Problem mit wenigen Worten auf den Punkt zu bringen. In der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, besonders der sogenannten Unschärferelation, die für indeterministisches Geschehen herangezogen wird, kann Heisenberg gar kein wirklich ursacheloses Geschehen nachweisen, sondern lediglich eine Grenze des Erkennbaren.
Es geht dabei um das Beobachtbare, nicht um das An-und-für-sich der Materie und Energie, wie sie wirklich ist.“
„Das bedeutet für unser Thema der Willensfreiheit, Fräulein Meyers?“
„Wir tappen weiter im Dunkeln.“
„Und dabei wird es auch bleiben?“
„Selbst manche Wissenschaftstheoretiker, wie Karl Popper, plädieren für den Indeterminismus, also ursacheloses Geschehen. Oder argumentieren, dass Determinismus ebenso wenig beweisbar ist wie Indeterminismus.“
„Und sehen Sie da eine Lösung, Carolin?“
„Mir ist noch nicht ganz klar, ob Popper und Kant überhaupt bemerkt haben, dass zwischen dem Satz des Widerspruchs, wie ihn die Logik voraussetzt, und dem Wechsel eines Zustands, der angeblich nicht determiniert sein soll, nur eine leere Zeitspanne der Aufeinanderfolge steht.“
„Heißt das, dann verstößt die These vom Indeterminismus gegen den Satz des Widerspruchs?“
„Nein, gemäß der klassischen Logik nicht, weil der Satz des Widerspruchs, es sei unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukommt und nicht zukommt, ja keine Aufeinanderfolge einschließt.
Aber diese Zeit ist leer, ein Nichts außer Aufeinanderfolge. Was macht es eigentlich plausibel, den Satz des Widerspruchs nicht auch auf solche bloße Aufeinanderfolge zu erweitern?“
„Brillante Analyse, Carolin. Ihr Argument werden wir heute Nachmittag im internen Arbeitskreis anhand der neurologischen und hirnanatomischen Aspekte noch einmal genauer untersuchen.“
„Ist der Kerl nicht eigentlich ein arrogantes Arschloch?“, fragte einer der Studenten, als sie den Saal verließen. „Ganz gleich, ob nun berühmter Nobelpreisträger oder bloß einfacher Latzhosenträger.“
Er bemühte sich gar nicht erst, zu flüstern.
Einige Kommilitonen lachten. Carolin sah ihn in dieser Gruppe zum ersten Mal.
„Na ja“, sagte sie. „Kommt darauf an, ob man die Brisanz des Themas verstanden hat.“
Sie wusste, dass sie einen glänzenden Sieg verbucht hatte. Niemand im Seminar wäre in der Lage gewesen, auf ähnlich hohem Niveau über Willensfreiheit zu diskutieren. Damit hatte sie alle potentiellen Verfolger – vor allem Verfolgerinnen – weit hinter sich gelassen.
Der Arbeitskreis tagte in Hollandos Institut, dem Research Department of Neuroscience (RDN), das sich nach der Verleihung des Nobelpreises zu einer Art Pilgerstätte der Hirnforschung entwickelte. Es bestand aus drei durchgehenden Räumen, man konnte sie schon als kleine Säle bezeichnen.
Im hintersten befand sich der neue 7-Tesla-Magnetresonanz-Tomograph. Er wog über fünf Tonnen, man hatte ihn per Kran durch eine provisorische Öffnung in der Außenwand hieven müssen.
Im hintersten befand sich der neue 7-Tesla-Magnetresonanz-Tomograph. Er wog über fünf Tonnen und sah so bedrohlich aus, als sei es ein aus fremden Galaxien stammendes Raumschiff, ferngesteuert und ohne Insassen.
Am runden Tisch im Arbeitskreis glaubte Carolin plötzlich ihre eigentliche Konkurrentin auszumachen. Ein junges Ding mit hellblonden Haaren und dem Blick einer Schlange …
Professor Hollando legte zweimal betont intim den Arm um ihre Hüfte und lachte aufgedreht, als sie das Institut betraten. Nach Carolins Gefühl strahlte sie ihn dabei an wie eine Vierjährige den Weihnachtsmann.
Auf dem Tisch vor ihr stand ein Namensschild: Anna Schwartz.
Hollando stellte Anna als seine Assistentin vor.
„Schön, Sie alle in unserem Arbeitskreis begrüßen zu dürfen. In den kommenden Tagen werden wir uns dem Thema widmen, wie sich unser Wissensstand über den neu entdeckten genetischen Schalter A-GTS – als Abkürzung für Aversio-Genetic-Toggle-Switch –, der für das ganze Spektrum unserer Schmerzen und negativen Befindlichkeiten zuständig ist, auf eine wissenschaftliche Basis stellen lässt.
Dabei wird es auch um die biochemische Funktion von Rezeptoren gehen, die über Signalmoleküle Prozesse im Zellinneren auszulösen vermögen. Ein wesentlicher Grund für meine Entdeckung. Dazu erwarte ich Ihre aktive Teilnahme, besonders von Studenten im Fach Biochemie.
Aber zunächst noch einmal zum Thema unseres heutigen Seminars. Welche Alternativen bieten sich in der freien Willensbildung, falls wir vollständig determiniert sind, wie es die Hirnforschung nahelegt?“
Hollando blickte fragend in die Runde.
Anscheinend schien niemand etwas dazu sagen zu wollen.
Wenn das hier im engeren Arbeitskreis schon die versammelte Intelligenz ist, dachte Carolin, dann hatte sie womöglich leichtes Spiel …
„Keine Antwort ist auch eine Antwort“, sagte Professor Hollando. „Bedenken Sie dabei – die Hirnforschung behauptet ja nichts Geringeres, als dass unser gesamtes Rechtssystem auf einer grundlegenden Illusion beruht.
Der Mörder ist dann nämlich nicht wirklich verantwortlich für seine Tat. Sadisten, Betrüger, Vergewaltiger sind nur Opfer ihrer eingebildeten Wahlmöglichkeit, alternativ auch gesetzeskonform handeln zu können.“
Noch immer keine Meldung …
„Carolin?“, fragte Hollando. „Haben Sie darauf angesichts Ihres ja nimmermüden Wissensvorsprungs womöglich eine plausible Antwort?“
Carolin zuckte die Achseln und starrte Anna Schwartz herausfordern an.
„Ich glaube, Kommilitonin Schwartz hat sich gemeldet und möchte etwas dazu sagen …“
„Anna?“, fragte Professor Hollando.
„Oh, ich … nein …“, stammelte Anna errötend.
„In dem Fall – wenn es keine weiteren Wortmeldungen gibt – würde ich hier wieder unseren großen deutschen Philosophen Immanuel Kant bemühen wollen“, sagte Carolin.
Hollando nickte ihr aufmunternd zu.
„Wir wissen nicht, wie die Welt an und für sich beschaffen ist – das sogenannte ‚Ding an sich’“, fuhr sie fort. „Wir befinden uns laut Karl Jaspers – dem berühmten Existenzphilosophen und Psychiater –, sogar in einer unaufhebbaren Subjekt-Objekt-Spaltung.“
„Das ist ein Fachterminus des Philosophen, oder?“
„Damit ist gemeint, Gegenstand und Beobachtung können hinsichtlich ihrer tatsächlichen Übereinstimmung niemals wirklich verifiziert werden. Es ist prinzipiell unmöglich, aus der Beobachterposition herauszutreten und hinter den Vorhang zu schauen, denn wahrnehmen können immer nur Beobachter.“
„Ausgezeichnet, Carolin. Und weiter?“
„So bleibt nur noch die Möglichkeit, dass wir uns aus praktischen Gründen so verhalten, als besäßen wir Willensfreiheit.
Die Idee der Freiheit, die in Kants Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft für die theoretische Vernunft nicht beweisbar war, wird nun als fundamentales und notwendiges Postulat der praktischen Vernunft angesehen.
Kant drückt das in seiner Kritik der praktischen Vernunft so aus: Der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, das heißt, als gut, erkennt.“
„Oder etwas einfacher ausgedrückt? Für den Alltagsverstand?“, fragte Hollando.
„Wir tun gut daran, im wohlverstandenen Eigeninteresse alle Vorbehalte der neueren Hirnforschung gegen menschliche Willensfreiheit aus praktischen Gründen ad acta zu legen“, sagte Carolin. „Weil sonst unser ganzes gegenwärtiges Rechtssystem zusammenbricht.
Dem Mörder kann man dann nicht mehr vorwerfen, er sei verantwortlich für seine Tat. Er ist lediglich ein Opfer der Umstände, die er nicht selbst zu verantworten hat.“
„Inwiefern, Carolin?“
„Wegen unbekannter neuronaler Prozesse. Es scheint ihm nur so, als habe er Wahlfreiheit, weil er ja beide Möglichkeiten sieht – zu morden oder nicht zu morden. Der Ursprung der Motivation, die jeweilige Neigung, bleibt immer in gewissem Sinne mysteriös und lässt sich nicht weiter hinterfragen.“
„Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Klarstellung, Carolin. Sie zeigt allen unser ganzes theoretisches Dilemma und den einzig denkbaren Ausweg daraus …“
Carolin lehnte sich zufrieden zurück. Sieg nach Punkten!, dachte sie. Damit ist Anna aus dem Spiel und als kleines Dummerchen ausgeknockt …
Nach diesem Kraftakt gönnte sie sich erst einmal eine Auszeit.
Sie atmete tief durch und ging den Weg zwischen den Hochhaustürmen der Universität, dem Zisterzienserkloster und dem Haus ihrer Eltern hinunter zum Fluss.
Das Wetter war winterlich, aber ein seltsam flirrendes Licht wie sonst nur im späten Frühjahr schob sich von den Hügelkämmen über den Stausee zum Flussufer. Darüber die unwirkliche Bläue des Himmels.
Carolin war froh, wieder draußen in der Natur zu sein und ihren geistigen Kraftakt erst einmal hinter sich gebracht zu haben. Das alles war zwar wichtig, aber auch anstrengend, und es erforderte viel Energie, die sie jetzt eigentlich eher dafür brauchte, C. H. dazu zu bringen, genau das zu tun, was sie wollte …
Unten an der Brücke fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, ihn danach zu fragen, ob er Robert bei seinem rätselhaften Fall mit den Frauen ohne Gedächtnis als Profiler helfen könnte.
Sie wählte Hollandos Nummer und er nahm sofort ab.