Читать книгу Eine Studentin - Peter Schmidt - Страница 8
Stelldichein
Оглавление„Wenn Sie mit mir heute Abend essen gehen?“, fragte Hollando. „Zum Beispiel ins Parea? Liegt ganz in der Nähe oben auf dem Hügel … vielleicht ein Surf ’n’ Turf, das ist eine Spezialität mit Scampi und Kapern?“
„Hört sich verlockend an“, sagte Carolin. „Und wie komme ich zu der unverhofften Ehre?“
„Sie wissen, dass ich schon lange kein operativer Fallanalytiker mehr bin. Keine Ahnung, ob ich Ihnen helfen kann. Aber Sie haben mich während unserer Diskussion im Seminar neugierig gemacht …“
„Mein Bruder Robert sagt, dass der polizeiliche Meldedienst alter Art so gut wie tot ist und durch neue Analyseverfahren wie Täterprofiling und Täterprognosen ergänzt werden muss. Und genau auf dem Gebiet sollen Sie ja mal führend gewesen sein? In Roberts Fall geht es um vier Frauen, die auf rätselhafte Weise ihr Gedächtnis verloren haben. Eine ist inzwischen verstorben.“
„Und Sie glauben, das wäre das richtige Thema für einen kurzweiligen Abend im Parea?“
„Der Täter hat der Verstorbenen ein Auge herausoperiert und es an einer dünnen Kunststoffschnur über den Altar von St. Maria Magdalena gehängt. Ziemlich abgedreht, oder? So etwas passiert doch nicht ohne besonderen Grund?“
„Oh, dieser Fall, ja … ich habe davon in den Zeitungen gelesen.“
„Glauben Sie, dass durch Profiling Schlussfolgerungen möglich wären, in irgendeiner Weise auf den Täter zu schließen? Auf seine Schwächen und Motive? Auf seine Sicht des Lebens? Vielleicht sogar auf seine Identität?“
„Sie meinen, auch für Prognosen, wie er sich weiter verhalten wird?“
„Zum Beispiel, ja.“
„Seltsamer Zufall, das Parea liegt von St. Maria Magdalena gar nicht weit entfernt …“
„Auch die Frauen wurden alle in der näheren Umgebung aufgegriffen, unten am Fluss oder Stausee. Als gäbe es da irgendeine seltsame Affinität zum Wasser. Das macht es alles nur noch mysteriöser …“
„Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihrem Bruder helfen kann. Versprechen Sie sich also nicht zu viel. Aber sei’s drum. Darf ich Sie mit dem Taxi abholen lassen?“
Carolin war nervös wie ein Teenager beim ersten Date, als seine Taxe vor dem Restaurant hielt …
C. H. musste sie durch die Scheiben gesehen haben, denn er kam eilig aus dem Lokal und zahlte beim Fahrer, ehe sie widersprechen konnte.
„Das war doch nicht nötig …“
„Einladung ist Einladung. Ich bin leider momentan nicht motorisiert und für einen eigenen Dienstwagen nicht mobil genug. Wahrscheinlich wirkt da immer noch das karge Leben in der Klosterzelle nach …“
Hollando lachte und legte vorsichtig seinen Arm um ihre Hüften.
Dann steuerte er zielstrebig auf einen Tisch nahe der Veranda zu, dessen Blick in Richtung Tal ging.
„Ich liebe Palisanderholz“, sagte er und strich mit der Handfläche über die rötliche Tischplatte. „Möglichst massiv.“
Während des Essens war er ausgesprochen charmant. Ein richtiger Dampfplauderer, dachte Carolin. Was für ein Mann! Gebildet, zuvorkommend, aufmerksam, einfühlsam. Falls die Frauen bei ihm Schlange standen, dann ließ er sich das nicht anmerken.
„Haben Sie eigentlich nie daran gedacht zu heiraten, Professor?“
„Die Ehe ist wohl eher so etwas wie ein Trick, eine Irreführung der Natur, um Nachkommen zu zeugen, indem sie uns über nette Beziehungsgefühle motiviert. Die nutzen sich allerdings schnell ab – anders als Angst vor Einsamkeit …
Aber je nachdem, wie Sie als Mensch emotional gestrickt sind, lenkt die Tandem- statt Single-Variante uns leicht von wichtigen Zielen ab, erst recht, wenn man einen interessanten Job hat. Stattdessen müssen wir ständig Auskunft geben, ob Sauerbraten oder Nudeln, Meer oder Berge, Mallorca oder Bayern. Das verbraucht Energie und kostet Kraft.“
„Es gibt bisher vier Opfer“, sagte Carolin, als ihnen der Wirt Grappa zum Nachtisch reichte, und breitete ein paar Fotos auf dem Tisch aus. „Elisabeth Herschel, Nonne, inzwischen verstorben, Vanessa Roth, Mannequin, Erika Haard, Frauenrechtlerin und Manuela Winters, eine Kommilitonin – alle ohne Gedächtnis. Doch so weit ich mich auch in der einschlägigen Literatur umsehe, finde ich keinen Hinweis darauf, wie man gezielt das Gedächtnis auslöschen kann, ohne dabei auch die Sprachfähigkeit und andere kognitive Funktionen zu beeinträchtigen.“
Professor Hollando nahm jedes Bild einzeln zur Hand.
„Nicht besonders aussagekräftig“, sagte er. „Besser wäre es, wenn ich die Opfer mal persönlich in Augenschein nehmen könnte.“
„Das würden Sie für Robert tun?“, fragte Carolin. „Seine Ermittlungen treten nämlich auf der Stelle.“
„Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, entweder physisch auf das Gedächtnis einzuwirken – das setzt spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten voraus – oder mental.
Bei einer professionellen Gehirnwäsche wird die Identität des Opfers ausgelöscht, es soll jede Erinnerung an sein früheres Leben vergessen. Das geschieht durch Isolation, fehlende Reize der Außenwelt, Dunkelheit, ständige Folter und Demütigungen. Das Krankheitsbild entspricht danach einer dissoziativen Störung.“
„Forscht man nicht inzwischen auch daran, durch Stimulation bestimmter Hirnbereiche völlig neue Erinnerungen zu schaffen?“
„Richtig, ja. Aber bisher ist das erst bei Mäusen gelungen. Die hatten danach Vorlieben für einen bestimmten Ort. Und solche künstlich geschaffenen Erinnerungen blieben ebenso stabil wie echte Erfahrungen.“
„Glauben Sie, dass der Täter den Frauen nur deshalb ihr Gedächtnis genommen haben könnte, um sie nicht töten zu müssen?“, fragte Carolin.
„Damit es keine Zeugen für seine Tat gibt? Ja, das wäre denkbar, ungewöhnlich zwar, aber möglich.“
„Und warum sollte er Skrupel haben, sie zu töten?“
„Keine Ahnung, gute Frage …“
Carolin nahm Erika Haards Foto zur Hand. „Schauen Sie mal, wenn man das Bild schräg ins Licht hält, sieht man an der Haut über ihrem rechten Ohr einen schwachen bläulichen Streifen. Könnte der von einer Schädelöffnung herrühren?“
„Möglicherweise, ja. In der Vertiefung hinter dem Ohr ist ein leichterer Zugang zum Gehirn.“
Professor Hollando winkte dem Kellner und zahlte. Wenig später kam der Chef des Restaurants mit zwei in Geschenkpapier eingeschlagenen Flaschen Grappa an ihren Tisch.
„Sonderabfüllung als kleines Dankeschön, dass wir heute einen so berühmten Gast bei uns begrüßen durften …“
Draußen am Wagen öffnete Hollando die Tür, verbeugte sich und küsste galant Carolins Hand – nur so leicht, dass seine Lippen gerade ihren Handrücken berührten. Beim Einsteigen beugte er sich zum Fahrer hinüber und flüsterte ihm etwas zu, das sie nicht verstand.
Fahren wir zu dir oder zu mir, Cesare?, dachte sie. Mal sehen, was er sich einfallen lässt …
Während der Fahrt saß er ruhig neben ihr und blickte gedankenverloren hinaus in die Dunkelheit. Obwohl sie keinen Körperkontakt hatten, war es, als spüre sie Cesares Herzschlag …
Dann tauchte auch schon wie von Geisterhand das Haus ihrer Eltern vor ihnen auf. Sie konnte sich nicht erinnern, die Serpentinen zum Berg hochgefahren zu sein. Ein seltsam unwirkliches Erlebnis, als sei die Zeit plötzlich stehen geblieben.
„Sagen Sie Ihrem Bruder, er soll mich anrufen, damit ich mir die Frauen mal genauer ansehen kann“, bat Hollando und stieg aus, um Carolin die Beifahrertür zu öffnen.
Was zum Teufel sollte das denn bedeuten? Sie kletterte irritiert aus dem Wagen.
Hollando war wieder eingestiegen und reichte ihr die Flasche aus dem heruntergekurbelten Fenster. Er hob grüßend die Hand – dann gab er dem Fahrer ein Zeichen. Wenig später bog sein Wagen auch schon in Richtung Seeufer ab.
Carolin starrte ratlos den Rücklichtern nach.
Dann atmete sie zwei, dreimal tief durch, holte weit aus und schleuderte die Flasche den Hang hinunter …
In der Dunkelheit hörte sie Glas zerspringen.
Nach diesem desaströsen Abend hatte sie wieder ihr morgendliches Lauftraining aufgenommen. Vor dem Frühstück musste sie erst einmal Dampf ablassen, Sport war dafür ein ausgezeichnetes Mittel.
Über dem Flusstal lag noch Nebel. Carolin mied den Radweg unterhalb der Staumauer und lief den Trampelpfad am Wasser entlang, manchmal auch in den schmalen Grasnarben seitlich davon – wie, um sich selbst zu beweisen, dass sie sich unter Kontrolle hatte.
Schweißperlen liefen ihr übers Gesicht, das Blut pochte in den Adern und mit jedem Meter spürte sie, dass es ihr schon besser ging.
Mach dich nicht lächerlich, dachte sie, während sie am Ufer entlangtrabte. Du bist wie ein enttäuschtes Kaninchen, das die Mohrrübe nicht bekommen hat …
Einen Augenblick später entdeckte sie das Mädchen auf dem Stauwehr …
Es mochte etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. Trotz der morgendlichen Kälte trug es nicht viel mehr als ein dünnes weißes Unterhemd, das knapp zum Knie reichte.
An der Art, wie das Kind sich bewegte, erkannte Carolin, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war die gleiche desorientierte Haltung wie bei den drei Frauen in Roberts Film.
Sie machte blitzschnell auf dem Absatz kehrt und lief zurück zum Wehr …
Das Mädchen stand an der Steinkante und starrte ins Wasser.
Herr hilf …, dachte Carolin. Lass sie nicht springen …
„Hallo“, murmelte sie, um sie von ihrem Plan abzulenken. „Schöner Tag heute? Kannst du mir vielleicht helfen? Ich glaube, ich habe mich verirrt …“
Sie wandte sich nach ihr um und starrte sie ausdruckslos an. Es schien, als versuche sie zu sprechen.
Plötzlich kam sie auf Carolin zu, umarmte mit beiden Händen ihre Hüfte und legte den Kopf an ihre Brust.
Ein unmerkliches Zittern lief durch ihren Körper.
„Schon gut … alles in Ordnung“, sagte Carolin.
Sie versuchte sich zu lösen, aber das Mädchen hielt sie mit beiden Händen fest umklammert.
„Sagst du mir deinen Namen?“
Keine Antwort …
Sie spürte ihren Atem, ihre Anspannung.
Carolin strich ihr über die Stirn – und dann mit einer mütterlichen Geste über das hellblonde Haar. „Verstehst du mich? Kannst du sprechen? Wo wohnst du?“
Dabei suchte sie das Ufer bis zur Staumauer ab, aber außer ihnen war niemand zu sehen.
„Du hast vergessen, wo du wohnst?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Macht nichts … wird dir schon wieder einfallen.“
Sie blickte Carolin nur schweigend mit weit aufgerissenen Augen an.
Großer Gott …! War das womöglich ein weiteres Opfer?
„Ich bringe dich jetzt in meine Wohnung. Da kannst du frühstücken, dich duschen und ein wenig ausruhen. Vielleicht finde ich auch ein paar Sachen für dich, die dir passen. Danach sehen wir weiter, einverstanden?“
Sie griff nach der Hand des Mädchens und zog sie vom Wasser weg in Richtung Ufer.
„Mein Haus ist oben auf dem Hügel, direkt an der Straße. Siehst du den Felssteinbau mit dem Schieferdach, gleich neben den hohen Bäumen?“
„Ein schönes altes Haus“, sagte das Mädchen.
„Es gehörte meinen Eltern …“
„Leben deine Eltern noch?“
„Nein, sie sind bei einem schrecklichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen.“
„Oh, das tut mir leid. Und wo liegen sie begraben?“
„Na, wie alle Menschen – auf dem Friedhof.“
Allerdings hätte Robert es vorgezogen, ihre Eltern nicht auf dem städtischen Friedhof, sondern lieber in einem Urnengrab ihres Gartens zu beerdigen. Aber das war leider zurzeit noch nicht erlaubt.
„Und gehst du deine Eltern oft besuchen?“
Carolin nickte nur und legte den Arm um ihre Schultern.
Fürchterlicher Gedanke, sie könnte das Gleiche durchgemacht haben wie die anderen Opfer. Und erst recht die Vorstellung, dass Robert ihr beim Verhör mit denselben brachialen Methoden zusetzte …
Aber Carolin hatte noch keine Ahnung, wie sie das Mädchen davor bewahren sollte. Verstecken in ihrer Wohnung? Wie lange würde das im selben Haus gut gehen? Und später?
Robert verfügte über den Spürsinn des geborenen Detektivs. Er bemerkte an kleinsten Anzeichen, dass irgendetwas nicht stimmte. Und wenn sie das Mädchen in die Obhut eines Heims gab, würde es angesichts des Aufsehens, das der Fall momentan in der Presse erregte, schnell in Verdacht geraten, ein weiteres Opfer zu sein.
Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, dachte sie ratlos.
Womöglich wusste Cesare Hollando ja Rat? Sie konnte auch versuchen herauszufinden, ob jemand in der Umgebung vermisst wurde. Vielleicht fand sie so die Familie des Mädchens?