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Stelldichein

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„Wenn Sie mit mir heute Abend essen ge­hen?“, fragte Hol­lan­do. ­„Zum Bei­spiel ins Pa­rea? Liegt ganz in der Nä­he oben auf dem Hü­gel … viel­leicht ein Surf ’n’ Turf, das ist eine Spe­zia­li­tät mit Scam­pi und Ka­pern?“

„Hört sich verlockend an“, sagte Caro­lin. „Und wie komme ich zu der un­ver­hoff­ten Ehre?“

„Sie wissen, dass ich schon lange kein ope­ra­tiver Fall­ana­ly­tiker mehr bin. Keine Ah­nung, ob ich Ih­nen hel­fen kann. Aber Sie ha­ben mich wäh­rend un­serer Dis­kus­sion im Se­mi­nar neu­gie­rig ge­macht …“

„Mein Bruder Robert sagt, dass der poli­zei­liche Mel­de­dienst al­ter Art so gut wie tot ist und durch neue Ana­lysever­fah­ren wie Tä­ter­pro­filing und Tä­ter­prog­no­sen er­gänzt wer­den muss. Und ge­nau auf dem Ge­biet sol­len Sie ja mal füh­rend ge­we­sen sein? In Ro­berts Fall geht es um vier Frau­en, die auf rät­sel­hafte Wei­se ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren ha­ben. Eine ist in­zwi­schen ver­stor­ben.“

„Und Sie glauben, das wäre das rich­tige The­ma für einen kurz­wei­li­gen Abend im Pa­rea?“

„Der Täter hat der Verstor­be­nen ein Auge her­aus­ope­riert und es an ei­ner dün­nen Kunst­stoff­schnur über den Al­tar von St. Ma­ria Mag­da­le­na ge­hängt. Ziem­lich ab­ge­dreht, oder? So et­was pas­siert doch nicht ohne be­son­de­ren Grund?“

„Oh, dieser Fall, ja … ich habe da­von in den Zei­tun­gen ge­le­sen.“

„Glauben Sie, dass durch Pro­fi­ling Schluss­fol­ge­run­gen mög­lich wä­ren, in ir­gend­einer Wei­se auf den Tä­ter zu schlie­ßen? Auf seine Schwä­chen und Mo­tive? Auf sei­ne Sicht des Le­bens? Viel­leicht so­gar auf sei­ne Iden­tität?“

„Sie meinen, auch für Progno­sen, wie er sich wei­ter ver­hal­ten wird?“

„Zum Beispiel, ja.“

„Seltsamer Zufall, das Pa­rea liegt von St. Ma­ria Mag­da­lena gar nicht weit ent­fernt …“

„Auch die Frauen wurden alle in der nä­he­ren Um­ge­bung auf­ge­grif­fen, un­ten am Fluss oder Stau­see. Als gä­be es da ir­gend­eine selt­same Af­fi­ni­tät zum Was­ser. Das macht es al­les nur noch mys­teri­öser …“

„Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ih­rem Bru­der hel­fen kann. Ver­spre­chen Sie sich also nicht zu viel. Aber sei’s drum. Darf ich Sie mit dem Ta­xi ab­ho­len las­sen?“

Carolin war nervös wie ein Tee­nager beim ers­ten Da­te, als seine Taxe vor dem Re­s­tau­rant hielt …

C. H. musste sie durch die Schei­ben ge­se­hen ha­ben, denn er kam eilig aus dem Lo­kal und zahl­te beim Fah­rer, ehe sie wi­der­spre­chen konnte.

„Das war doch nicht nötig …“

„Einladung ist Einladung. Ich bin lei­der mo­men­tan nicht mo­to­ri­siert und für einen eige­nen Dienst­wa­gen nicht mo­bil ge­nug. Wahr­schein­lich wirkt da im­mer noch das kar­ge Le­ben in der Klos­ter­zel­le nach …“

Hollando lachte und legte vorsichtig sei­nen Arm um ihre Hüf­ten.

Dann steuerte er zielstre­big auf einen Tisch na­he der Ve­ran­da zu, dessen Blick in Rich­tung Tal ­ging.

„Ich liebe Palisanderholz“, sagte er und strich mit der Hand­fläche über die röt­li­che Tisch­plat­te. „Mög­lichst mas­siv.“

Während des Essens war er aus­ge­spro­chen char­mant. Ein rich­ti­ger Dampf­plau­de­rer, dach­te Ca­ro­lin. Was für ein Mann! Ge­bildet, zu­vor­kom­mend, auf­merk­sam, ein­fühl­sam. Falls die Frauen bei ihm Schlange stan­den, dann ließ er sich das nicht an­mer­ken.

„Haben Sie eigentlich nie daran ge­dacht zu hei­raten, Pro­fessor?“

„Die Ehe ist wohl eher so etwas wie ein Trick, eine Irre­füh­rung der Natur, um Nach­kom­men zu zeu­gen, indem sie uns über net­te Bezie­hungsge­fühle moti­viert. Die nut­zen sich al­ler­dings schnell ab – an­ders als Angst vor Ein­sam­keit …

Aber je nach­dem, wie Sie als Mensch emo­tional ge­strickt sind, lenkt die Tan­dem- statt Single-Vari­ante uns leicht von wich­tigen Zie­len ab, erst recht, wenn man einen in­ter­es­san­ten Job hat. Statt­des­sen müs­sen wir stän­dig Aus­kunft ge­ben, ob Sauer­braten oder Nu­deln, Meer oder Berge, Mallorca oder Bayern. Das ver­braucht Ener­gie und kostet Kraft.“

„Es gibt bisher vier Opfer“, sagte Carolin, als ih­nen der Wirt Grappa zum Nach­tisch reichte, und brei­tete ein paar Fo­tos auf dem Tisch aus. „Eli­sa­beth Her­schel, Nonne, in­zwi­schen ver­stor­ben, Va­nes­sa Roth, Man­ne­quin, Eri­ka Haard, Frau­en­recht­lerin und Manu­ela Win­ters, eine Kom­mi­li­to­nin – alle oh­ne Gedächt­nis. Doch so weit ich mich auch in der ein­schlä­gi­gen Lite­ra­tur umse­he, finde ich kei­nen Hin­weis da­r­auf, wie man ge­zielt das Ge­dächt­nis aus­lö­schen kann, oh­ne da­bei auch die Sprach­fä­hig­keit und an­dere kog­ni­tive Funk­tio­nen zu be­ein­träch­ti­gen.“

Professor Hollando nahm jedes Bild ein­zeln zur Hand.

„Nicht besonders aussagekräf­tig“, sagte er. „Bes­ser wäre es, wenn ich die Op­fer mal per­sön­lich in Augen­schein neh­men könn­te.“

„Das würden Sie für Ro­bert tun?“, fragte Ca­ro­lin. „Seine Ermitt­lun­gen tre­ten näm­lich auf der Stelle.“

„Prinzipiell gibt es zwei Mög­lich­kei­ten, ent­we­der phy­sisch auf das Ge­dächt­nis ein­zu­wir­ken – das setzt spe­zielle Kennt­nis­se und Fä­hig­kei­ten vor­aus – oder men­tal.

Bei einer professionellen Ge­hirn­wä­sche wird die Iden­ti­tät des Op­fers ausge­löscht, es soll jede Er­in­ne­rung an sein frü­he­res Le­ben ver­ges­sen. Das ge­schieht durch Iso­la­tion, feh­lende Reize der Au­ßen­welt, Dun­kel­heit, stän­di­ge Fol­ter und De­mü­ti­gungen. Das Krank­heits­bild ent­spricht da­nach einer disso­zi­a­tiven Stö­rung.“

„Forscht man nicht inzwischen auch daran, durch Sti­mu­la­tion be­stimm­ter Hirn­be­reiche völ­lig neue Er­in­ne­run­gen zu schaf­fen?“

„Richtig, ja. Aber bisher ist das erst bei Mäu­sen ge­lun­gen. Die hat­ten da­nach Vor­lie­ben für einen be­stimm­ten Ort. Und sol­che künst­lich ge­schaffe­nen Er­inne­run­gen blie­ben ebenso sta­bil wie ech­te Er­fah­run­gen.“

„Glauben Sie, dass der Täter den Frauen nur des­halb ihr Gedächt­nis ge­nom­men ha­ben könn­te, um sie nicht tö­ten zu müs­sen?“, frag­te Ca­rolin.

„Damit es keine Zeugen für seine Tat gibt? Ja, das wä­re denk­bar, un­ge­wöhn­lich zwar, aber mög­lich.“

„Und warum sollte er Skrupel ha­ben, sie zu tö­ten?“

„Keine Ahnung, gute Frage …“

Carolin nahm Erika Haards Foto zur Hand. „Schau­en Sie mal, wenn man das Bild schräg ins Licht hält, sieht man an der Haut über ih­rem rech­ten Ohr einen schwa­chen bläuli­chen Strei­fen. Könn­te der von einer Schä­del­öff­nung her­rüh­ren?“

„Möglicherweise, ja. In der Vertie­fung hin­ter dem Ohr ist ein leich­te­rer Zu­gang zum Ge­hirn.“

Professor Hollando winkte dem Kell­ner und zahl­te. We­nig spä­ter kam der Chef des Re­stau­rants mit zwei in Ge­schenk­pa­pier ein­ge­schla­genen Fla­schen Grap­pa an ih­ren Tisch.

„Sonderabfüllung als kleines Dan­ke­schön, dass wir heute einen so be­rühm­ten Gast bei uns be­grü­ßen durf­ten …“

Draußen am Wagen öffnete Hol­lando die Tür, ver­beug­te sich und küss­te ga­lant Caro­lins Hand – nur so leicht, dass seine Lip­pen ge­rade ih­ren Hand­rü­cken be­rühr­ten. Beim Ein­stei­gen beug­te er sich zum Fah­rer hin­über und flüs­terte ihm et­was zu, das sie nicht ver­stand.

Fahren wir zu dir oder zu mir, Ce­sare?, dachte sie. Mal se­hen, was er sich ein­fal­len lässt …

Während der Fahrt saß er ruhig ne­ben ihr und blick­te ge­dan­ken­ver­loren hi­naus in die Dun­kel­heit. Ob­wohl sie kei­nen Kör­per­kon­takt hat­ten, war es, als spü­re sie Cesa­res Herz­schlag …

Dann tauchte auch schon wie von Geis­ter­hand das Haus ihrer El­tern vor ih­nen auf. Sie konnte sich nicht erin­nern, die Ser­penti­nen zum Berg hoch­ge­fah­ren zu sein. Ein selt­sam un­wirk­li­ches Erleb­nis, als sei die Zeit plöt­zlich ste­hen ge­blie­ben.

„Sagen Sie Ihrem Bruder, er soll mich an­rufen, da­mit ich mir die Frau­en mal ge­nauer an­se­hen kann“, bat Hol­lando und stieg aus, um Caro­lin die Bei­fah­rer­tür zu öff­nen.

Was zum Teufel sollte das denn be­deu­ten? Sie klet­terte irritiert aus dem Wa­gen.

Hol­lando war wieder ein­ge­stie­gen und reichte ihr die Fla­sche aus dem herun­ter­ge­kur­bel­ten Fens­ter. Er hob grü­ßend die Hand – dann gab er dem Fah­rer ein Zei­chen. Wenig später bog sein Wa­gen auch schon in Rich­tung See­ufer ab.

Carolin starrte ratlos den Rück­lich­tern nach.

Dann at­mete sie zwei, dreimal tief durch, holte weit aus und schleu­der­te die Fla­sche den Hang hin­un­ter …

In der Dunkelheit hör­te sie Glas zer­sprin­gen.

Nach diesem desaströsen Abend hatte sie wieder ihr mor­gend­liches Lauf­trai­ning auf­ge­nom­men. Vor dem Früh­s­tück musste sie erst ein­mal Dampf ab­las­sen, Sport war dafür ein ausgezeichnetes Mittel.

Über dem Flusstal lag noch Ne­bel. Carolin mied den Rad­weg un­ter­halb der Stau­mauer und lief den Tram­pel­pfad am Was­ser ent­lang, manch­mal auch in den schma­len Gras­nar­ben seit­lich da­von – wie, um sich selbst zu be­wei­sen, dass sie sich un­ter Kon­trol­le hatte.

Schweißperlen liefen ihr übers Gesicht, das Blut pochte in den Adern und mit jedem Meter spürte sie, dass es ihr schon bes­ser ging.

Mach dich nicht lächerlich, dachte sie, wäh­rend sie am Ufer ent­langtrabte. Du bist wie ein ent­täusch­tes Ka­nin­chen, das die Mohr­rü­be nicht be­kom­men hat …

Einen Augenblick später entdeckte sie das Mädchen auf dem Stau­wehr …

Es moch­te etwa zwölf oder drei­zehn Jah­re alt sein. Trotz der mor­gend­li­chen Kälte trug es nicht viel mehr als ein dün­nes wei­ßes Un­ter­hemd, das knapp zum Knie reichte.

An der Art, wie das Kind sich bewegte, er­kannte Ca­ro­lin, dass ir­gendet­was nicht stimm­te. Es war die glei­che des­orien­tierte Hal­tung wie bei den drei Frau­en in Ro­berts Film.

Sie machte blitzschnell auf dem Ab­satz kehrt und lief zu­rück zum Wehr …

Das Mädchen stand an der Stein­kante und starr­te ins Was­ser.

Herr hilf …, dachte Carolin. Lass sie nicht sprin­gen

„Hallo“, murmelte sie, um sie von ihrem Plan ab­zu­len­ken. „Schö­ner Tag heute? Kannst du mir viel­leicht hel­fen? Ich glau­be, ich habe mich ver­irrt …“

Sie wandte sich nach ihr um und starr­te sie aus­drucks­los an. Es schien, als ver­su­che sie zu spre­chen.

Plötzlich kam sie auf Carolin zu, um­arm­te mit bei­den Hän­den ihre Hüf­te und leg­te den Kopf an ihre Brust.

Ein unmerkliches Zittern lief durch ihren Kör­per.

„Schon gut … alles in Ord­nung“, sag­te Ca­ro­lin.

Sie versuchte sich zu lösen, aber das Mäd­chen hielt sie mit bei­den Hän­den fest um­klam­mert.

„Sagst du mir deinen Namen?“

Keine Antwort …

Sie spürte ihren Atem, ihre Anspannung.

Carolin strich ihr über die Stirn – und dann mit einer müt­ter­lichen Geste über das hell­blon­de Haar. „Ver­stehst du mich? Kannst du spre­chen? Wo wohnst du?“

Dabei suchte sie das Ufer bis zur Staumauer ab, aber außer ihnen war niemand zu sehen.

„Du hast vergessen, wo du wohnst?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Macht nichts … wird dir schon wie­der ein­fal­len.“

Sie blickte Carolin nur schwei­gend mit weit auf­ge­risse­nen Augen an.

Großer Gott …! War das womöglich ein weiteres Opfer?

„Ich bringe dich jetzt in meine Woh­nung. Da kannst du früh­stü­cken, dich du­schen und ein we­nig aus­ru­hen. Viel­leicht fin­de ich auch ein paar Sa­chen für dich, die dir pas­sen. Da­nach se­hen wir wei­ter, ein­ver­stan­den?“

Sie griff nach der Hand des Mäd­chens und zog sie vom Wasser weg in Rich­tung Ufer.

„Mein Haus ist oben auf dem Hü­gel, di­rekt an der Straße. Siehst du den Fels­stein­bau mit dem Schie­fer­dach, gleich ne­ben den ho­hen Bäu­men?“

„Ein schönes altes Haus“, sagte das Mäd­chen.

„Es gehörte meinen Eltern …“

„Leben deine Eltern noch?“

„Nein, sie sind bei einem schreckli­chen Ver­kehrs­unfall ums Le­ben ge­kom­men.“

„Oh, das tut mir leid. Und wo liegen sie be­graben?“

„Na, wie alle Menschen – auf dem Friedhof.“

Allerdings hätte Robert es vorgezogen, ihre El­tern nicht auf dem städ­ti­schen Fried­hof, sondern lieber in einem Ur­nen­grab ihres Gar­tens zu beerdigen. Aber das war leider zurzeit noch nicht erlaubt.

„Und gehst du deine Eltern oft besuchen?“

Carolin nickte nur und legte den Arm um ihre Schul­tern.

Fürch­ter­li­cher Ge­dan­ke, sie könnte das Glei­che durch­ge­macht haben wie die an­de­ren Op­fer. Und erst recht die Vor­stellung, dass Ro­bert ihr beim Ver­hör mit den­selben bra­chi­a­len Me­thoden zu­set­zte …

Aber Carolin hatte noch keine Ahnung, wie sie das Mäd­chen da­vor be­wah­ren sollte. Ver­ste­cken in ihrer Woh­nung? Wie lange wür­de das im selben Haus gut ge­hen? Und später?

Ro­bert ver­fügte über den Spür­sinn des gebo­re­nen De­tek­tivs. Er bemerkte an kleins­ten An­zei­chen, dass ir­gend­et­was nicht stimm­te. Und wenn sie das Mäd­chen in die Ob­hut eines Heims gab, wür­de es an­ge­sichts des Aufse­hens, das der Fall mo­men­tan in der Pres­se er­regte, schnell in Ver­dacht ge­raten, ein wei­te­res Op­fer zu sein.

Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, dachte sie rat­los.

Womöglich wuss­te Cesare Hollando ja Rat? Sie konnte auch ver­su­chen he­raus­zu­fin­den, ob je­mand in der Um­ge­bung ver­misst wurde. Viel­leicht fand sie so die Fa­mi­lie des Mäd­chens?

Eine Studentin

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