Читать книгу Hinausgeboren - Peter Schroeder - Страница 13
Marie
Оглавление„Sie fällt manchmal um“, hatten ihre Eltern gesagt. Ich fiel auch um, wenn ich stolperte zum Beispiel. Das ist doch nichts Besonderes, dachte ich.
Die Einheimischen hielten uns „Zuagroasten“ auf Distanz. Nicht Marie. Sie wohnte im Nachbarhaus. Oft warteten wir aufeinander, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Wenn wir auf dem Weg eine Weinbergschnecke entdeckten, setzte sie sie behutsam um, damit sie nicht zertreten wurde. Nach der Schule spielten wir oder bummelten herum. Sie war flinker als ich und verträumter. Manchmal setzte sie sich abrupt, schaute in die Ferne und reagierte nicht auf mein „Komm, lass uns weiter machen!“
Die Initiative zu unseren Abenteuern ging meist von mir aus. An einem verregneten Nachmittag schlug ich „Doktor spielen“ vor und legte gleich fest: ich bin der Arzt. Ich hob Marie auf eine Bank und sagte: „Bitte machen Sie den Unterkörper frei!“
Sie gehorchte, schob den Rock hinauf und das Höschen herunter. Ich konnte alles sehen, was ich hatte sehen wollen. Da war nichts. Nur ein kleiner Spalt, an dem die Beine zusammenwuchsen. Haben Mädchen keinen Pillermann? Bevor meine Verwirrung peinlich wurde, floh ich in den Arztton: „Sie sind gesund, Sie können sich anziehen!“
Einmal, wir tollten über eine Wiese, riss sie plötzlich die Arme hoch, stieß einen Schrei aus und fiel vornüber ins Gras. Einen Augenblick lang dachte ich, sie wollte ein neues Spiel erfinden, doch als ihr Körper sich in Krämpfen schüttelte, Schaum aus ihrem Mund quoll und die Augen sich verdrehten, bis nur noch Weiß zu sehen war, erschrak ich. Marie! Stirbt sie jetzt? Ich kniete mich neben sie, nahm ihre Hand und redete auf sie ein.
Eine Frau hatte uns vom Weg aus bemerkt, war von ihrem Fahrrad gestiegen und herbeigeeilt. Es war die Arzt-helferin. Sie erklärte mir alles über epileptische Anfälle, über den petit mal, den ich bei Marie öfter erlebt und für Verträumtheit gehalten hatte, über den grand mal, den sie gerade durchlitt.
Als sie drauf und dran war, einen Krankenwagen zu holen, beruhigte sich meine Freundin, sah uns mit klaren Augen an und wusste nichts von den letzten Minuten.
Noch ein wenig benommen trottete sie neben mir nach Hause.
Wenig später verließ ich das Dorf.
Hoffentlich passte jemand anders auf sie auf, denn manchmal fiel sie einfach um.