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Klein im Kleinwalsertal Ausgefranster Mund
ОглавлениеVon den Jahren im Säuglingsheim weiß ich nichts. 1948 holte meine Tante Lilo mich dort heraus. Sie hatte das Ehepaar, in dessen Haus sie zur Untermiete wohnte, als Pflegeeltern gewonnen.
Die Frau hieß Margot, war Krankenschwester, betrieb aber einen Kolonialwarenladen. Ihr Mann Toni verdiente sein Geld im Sommer als Holzfäller und im Winter als Skilehrer, wie die meisten Männer des Kleinwalsertals. Ich sollte die beiden Tante und Onkel nennen.
Eigentlich wohnte ich bei Lilo, schlief in ihrem Zimmer unterm Dach. Lilo trug nie Kleider oder Röcke. Immer Hosen. Mit ihrem Pagenkopf wirkte sie männlich und herb. Dabei war sie zärtlich und sanft. Sie arbeitete als Managerin in einem Hotel.
Tante Margot führte ein strenges Regime. Abends vor dem Schlafengehen musste ich vor allen Diener machen, jedem die Hand geben und ein Küsschen auf die Wange drücken. Gute Nacht!
Bei Toni und Lilo fiel mir das nicht schwer. Ich mochte und roch sie gern. Die herrische und ständig missgelaunte Tante Margot stieß mich ab. Wenn ihr Wer-war-in-der-Speisekammer-Schrei durch das Haus lärmte, fühlte ich mich auch dann schuldig, wenn ich die Kammer nicht betreten hatte.
Saß ich auf dem Klo, donnerte sie an die Tür und keifte: „Wie lange willst du noch drin bleiben?!“
Mir verging alles.
Einmal, als sie mich herausgepoltert hatte und selbst hineingegangen war, pinkelte ich unter den Spülstein in der Küche. Sie wischte die Pfütze wortlos weg und nahm mich wie eine Inquisitorin in die Mangel. Ich blieb stumm und stellte mich taub, bis sie abließ.
Traktierte sie mich zu schlimm, griff Toni mit fünf Worten ein: „Lass den Jungen in Ruhe!“
Ihr konnte ich nichts recht machen. An allem nörgelte sie herum.
Ich hatte mir angewöhnt, vor dem Einschlafen leise zu singen. Das beruhigte mich, und Lilo störte es nicht. Sie sang mit oder lehrte mich andere Lieder.
„Peterlein, wenn du abends so viel singst, franst dir der Mund aus und du kannst nie wieder Apfelstrudel essen“, sagte Tante Margot.
Ich stellte mir einen ausgefransten Mund vor: Die Oberlippe hängt wie ein Vorhang über dem Kinn.
Lange sang ich nicht mehr.