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4. Zweifler und Gerechte

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„Du glaubst doch selbst nicht, dass daraus ein längerer Film werden könnte. 45 Minuten sind wirklich ein bisschen lang. Außerdem müssen wir sparen, kein Mensch wird Dir die Reisekosten bezahlen, erst recht nicht die Hierarchen. Also, fürs Regionale sehe ich da sowieso nichts. Klar, das Thema könnte interessant sein, aber dann ist es ein Feature, Dokumentation Ausland, verstehst Du? Im Regionalen hast Du keine Chance.“

Vom Planungsredakteur der Aktuellen war also nichts zu erwarten und er hatte recht. Die Story spielte im Ausland, wurde länger als üblich und käme dem Sender zudem noch ziemlich teuer. Es galt also Fakten zu sammeln, Informationen zusammenzutragen, die eine Redaktion dazu brächten das Geld und die Produktionskapazität locker zu machen. Es stellte sich auch die Frage, ob das Projekt tatsächlich den zu erwartenden Knüller ergeben konnte. Außerdem, wollte der Zuschauer, dieses unbekannte Wesen, überhaupt mit dieser Geschichte konfrontiert werden? Sollte man nicht besser Schlichtunterhaltung produzieren und nicht den Weltverbesserer spielen wollen?

Wenn hinter dem Projekt A.SI.AN, von dem der betrunkene Verkaufsleiter erschreckt und der nüchterne so begeistert war, allerdings eine spannende Geschichte, vielleicht sogar ein Skandal steckte, eine große Geschäftemacherei oder ein psychologisch übler Trick, dann müsste der Sender die Geschichte produzieren. Aber wie war das noch? Die Macht des Fernsehens beschränkt sich im Wesentlichen auf Unwesentliches. Beschränkung als Selbstschutz. Deshalb funktionierte das System. Ganz von alleine.

Manchmal ist es günstiger auf Nebenkriegsschauplätze auszuweichen. Die Redaktionen waren unlustig an das Thema heranzugehen. Die Verwaltung scheute die Kosten. Möglicherweise hatte die Hierarchie Angst vor Ärger. Aber der Programmdirektor hatte sich noch nicht entschieden. Es bestand immer noch eine Hoffnung. Also hieß es zumindest einen scheinbaren Knüller nachzuschieben.

Die Informationsquellen standen offen. Die japanische TEC.TO.N, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, an der Börse unter der Mutter Aktiengesellschaft NIPPON-SAN Enterprises gehandelt, musste europäische Töchter haben. Braun setzte sich an den Archivcomputer. Es war schon merkwürdig wie weit diese Dinger Einzug in das alltägliche Leben gehalten hatten. Im Branchenregister war überhaupt nichts zu finden. Nippon-San war nirgends verzeichnet. Also galt es auf anderem Wege weiterzukommen. Das Zeitschriftenarchiv war schon eine bessere Adresse. Zwar waren im Computer nur Schlagworte verzeichnet, aber auch Quellen waren zu finden. Die Zeitungen und Zeitschriften standen alle, säuberlich geordnet nach Datum und Themen im Zeitschriftenarchiv. Zuerst gab es natürlich auch da Schwierigkeiten. Eingabe: Nippon-San. Ergebnis: Lediglich ein Dokument. Zu finden in einer Zeitschrift für Geldinvestitionen. Er ging rüber ins Zeitschriftenarchiv. Um die dauernde Rennerei nicht zu haben, bat er das Mädchen von der Registratur um einen der Plätze an den Terminals. Ohne von der Arbeit aufzusehen murmelte sie ihre Zustimmung. Heute war nicht viel los.

Die Ausgabe der Zeitschrift war schnell gefunden. Es war nur ein kleiner Artikel. Wenige Zeilen. Aber nicht uninteressant: „… hat der japanische Nippon-San Konzern erwogen in der Bundesrepublik eine Zweigfirma zu eröffnen. Der Mischkonzern wird sich mit der neuzugründenden Tochter auf dem Elektronikmarkt vertreten lassen. Die Geschäftsleitung...“

Leider war kein Firmenname genannt, unter dem die neue Tochter aufzutreiben gewesen wäre. Weiter unten wurde aber angedeutet, dass internationale Banken daran interessiert sein könnten, von Hongkong nach Frankfurt umzusiedeln. Auch die Nippon-Saneigene Bank, ein Institut mit dem phantasievollen Namen ‚Trade Bank of Tokio‘, dächte bereits über Frankfurt nach. Braun wagte nun den verwegenen Schluss, dass, quasi als Vorausunternehmen, auch die Tochter nach Frankfurt kommen könnte. Oder in die Umgebung von Frankfurt. Wie aber sollte man eine Firma finden, deren Namen man nicht kannte?

Hier konnte vielleicht das Jahrbuch der Frankfurter Industrie und Handelskammer hilfreich sein. Leider war der Band des vergangenen Jahres noch nicht im Rechner. Das hätte vieles vereinfacht. In der Kammer selbst anzurufen wagte der Autor nicht, denn man soll keine schlafenden Hunde wecken. Also hieß es blättern. Es ist schon schlimm, wenn man etwas sucht und nicht weiß, was.

Im Anhang standen die Neuzugänge. Es waren über vierhundert. Zu viele. Im Buch lag noch das kleine Heftchen mit der Aufstellung der Pressestellen der Firmen. Es war schon ein Wunder, dass bisher noch keine Redaktion die Blätter geklaut hatte. Er unterdrückte die Regung sie einzustecken und fing an zu blättern. Nippon-San existierte nicht. Elektronikunternehmen waren zuhauf da. Es war schon ein blödes Spiel.

Er holte sich einen Kaffee in der Kantine, einen transportablen im Plastikbecher, dazu einen sogenannten ‚Stresskolben‘, ein belegtes Baguette. Die normale Speise arbeitender Reporter, die vom Telefon nicht wegkamen. Mit Kaffee und Brot konnte er allerdings nicht ins Archiv zurück, fiel ihm im Aufzug ein. Also fuhr er wieder eine Etage höher und ging ins Reporterzimmer. Dort stellte er fest, dass er das Heft mit der Aufstellung der Pressestellen doch mitgenommen hatte. Aus Versehen versteht sich. Mit dem innerlichen Versprechen, es baldmöglichst wieder zurückzubringen, griff er zum Telefon. Man soll Konkurrenz nicht unterschätzen und Futterneid kann sehr nützlich sein. Seinen Gesprächspartner kannte er von vielen Berichten und einigen Dienstbesäufnissen. Es war der Pressechef eines großen deutschen Elektronikkonzerns, Regionalverwaltung Frankfurt:

„Wie war denn die Pressekonferenz Ihrer Firma gestern Abend? Ich konnte leider nicht kommen.“ „Macht nichts, Sie haben nichts versäumt, Meiritz war da, hat die üblichen Fragen gestellt, und gelaufen ist bei Ihnen natürlich nichts.“

Es war das übliche Vorgeplänkel, die Spielregeln kannten beide. Nach der allgemein gültigen Vorlaufzeit kamen sie dann zur Sache: „Wie groß wird die japanische Konkurrenz? Wer ist schon da?“ Der Pressechef stöhnte auf. Die Ausländer und da besonders die Japaner, lagen ihm wohl schwer auf der Seele. Das Leben sei schon schwer, meinte er und zündete sich lautstark eine Zigarette an. Und es werde immer schwerer. Dann zählte er verschiedene Firmen auf, die Braun schon kannte und von denen er wusste, dass die Nippon-San nicht dahinterstecken konnte. Also galt es vorsichtig nachzuhelfen.

„Die Trade Bank of Tokio soll ja jetzt auch in den deutschen Elektronikmarkt investieren. Tangiert das Ihren Konzern?“

Der Pressechef war verunsichert, mit der Information konnte er im Moment nichts anfangen. Was wollte der Kerl damit sagen?

„Hab ich aus der Fachpresse, steht in einer der letzten Nummern. Da kann man sich natürlich denken wer dahintersteckt, die wollen euch jetzt kräftig einheizen.“ Der Pressemann des Konzerns kannte den Artikel auch nicht, deshalb verstand er den Reporter immer noch nicht:

„Na ja, einheizen wollen die uns alle. Aber wir werden uns zu wehren wissen!“

Mein Gott, dachte Braun, der Kerl kapiert aber auch gar nichts, oder wollte er nichts kapieren. Also musste er zum Frontalangriff ansetzen. Auch wenn die Presseabteilung des Konzerns misstrauisch werden sollte.

„Übrigens, was ganz Anderes. Es ist zwar nur ein Gerücht, aber ich habe im Presseclub gehört, dass Ihr Konzern auf dem deutschen Markt mit Nippon-San fusionieren will. Wehren Sie sich jetzt mit Fusionen und Kartellen?“

Die Behauptung war völlig schwachsinnig, weder Nippon-San, noch der deutsche Konzern hatten jemals irgendwelche gemeinsamen Pläne gehabt. Aber ihm war nichts Besseres eingefallen. Der Pressechef fing an zu lachen.

„Lieber Herr Braun! Wenn Ihre Kollegen von Hochzeiten reden, dann müssen sie aber schon sehr besoffen sein. Sie sollten nicht auch noch unter die Kuppler gehen. Es ist richtig, Nippon-San steigt in den europäischen Elektronikmarkt ein. In Walldorf sitzt seit ungefähr sechs Monaten die ‚Versuchs Audio Video‘. Die ist Nippon-San. Aber das ist doch nur eine Bonsaifirma. Außerdem arbeiten die nur für den militärischen Markt, oder, sie wollen das zumindest. Das ist keine Konkurrenz. Die Aufträge vergeben die Amerikaner und ob diese kleine Firma da reinkommt? Wir auf jeden Fall sind im Markt....“ Das Gespräch dauerte einige Zeit. Braun hatte seine Information. Beiläufig, empfunden als Dementi auf eine unvernünftige Behauptung. Damit es beiläufig blieb, musste halt noch ein wenig geredet werde. So einfach ist das.

Auf dem deutschen Markt rangierte sie also unter dem unauffälligen Namen ‚Versuchs Audio Video KG‘. Der Hauptsitz fand sich in einem kleinen Ort bei Frankfurt, Walldorf-Mörfelden, Ausgangspunkt der Demonstrationen gegen den Neubau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Im Handelsregister war die Firma natürlich eingetragen. Geschäftsgegenstand laut telefonischer Auskunft beim Amtsgericht Frankfurt, Abteilung Register: Herstellung und Vertrieb von Hard und Software. Kapitaleigner: Zu 100% Nippon-San, Tokio. Weitergereicht von der Industrie und Handelskammer Frankfurt an die Deutsch- Japanische Handelskammer, ebenfalls Frankfurt, versicherte ihm die Dame am Telefon: Selbstverständlich hätten sie Unterlagen über die Versuchs Audio Video. Schließlich sei dies die Tochter der mächtigen Nippo-San-Gesellschaft. Braun stöhnte. Auf die Idee mit der Deutsch Japanischen Handelskammer hätte er auch früher kommen können. Jetzt wäre er schon zu Hause. Ob er die Unterlagen heute schon brauche, fragte die Dame, oder ob sie geschickt werden sollten? Das Mädchen war wirklich sehr bemüht. Der Spätfahrer des Senders bekam den Auftrag bei der Kammer vorbeizufahren. Braun ging solange in die Kantine. Das Mittagessen war nachzuholen.

Als die Kollegin von der Produktionsabteilung mit den Unterlagen heraufkam, hatte er gerade den Pudding vor sich stehen. Und dann vergaß er ihn aufzuessen.

Die Versuchs Audio Video KG, Sitz Mörfelden Walldorf bei Frankfurt, Geschäftskapital rund neunhunderttausend Mark, Eigentümer Japans Nippon-San Enterprises, verkauft computergesteuerte Simulationsanlagen der TEC.TO.N international für den militärischen und semimilitärischen Bedarf. Fachwissen und Material werden bezogen von TEC.TO.N Japan und TEC.TO.N USA. Auf Informationen großer Industriestaaten und verschiedener Armeen könne ebenfalls zurückgegriffen werden. Die Anlagen entsprächen den neusten Innovationen, seien die ideale Ergänzung der modernen Waffen, die die Waffenabteilung der 'United Arms', ebenfalls einer Firma der Nippon-San, lieferte. Zu Gesprächen, vertraulich versteht sich, stünde die Firma selbstverständlich zur Verfügung.

In dieser Nacht schlief Braun schlecht. Am nächsten Morgen: Anruf bei der Versuchs Audio Video. Von zu Hause, denn was er machte, war ein wenig außerhalb der Legalität. Aber es hatte ihn gepackt. Der Vertreter war sehr freundlich und glaubte ihm auf Anhieb, dass er ein größeres Bewachungsunternehmen leite. Selbstverständlich hätten sie auch für solche Bedürfnisse Anlagen: Personenschutz, Industrieschutz, Schutz von Sachwerten. Darauf seien sie in ihren Programmen spezialisiert. Die Ausbildung des Personals sei schließlich das Wichtigste bei großen Bewachungsunternehmen. Er, Braun, sei ja nicht ein Opa von der Wach und Schließgesellschaft. Der Verkäufer lachte, es musste ein verkaufsfördernder Witz gewesen sein. Unterlagen und Reverenzen hätten sie natürlich auch. Nur erste Kundschaft, darunter auch Bundeswehr, Bundeskriminalamt Querstrich Sicherungsgruppe Bonn und natürlich der Bundesgrenzschutz. Eine besonders interessante Truppe.

2. Drehtag irgendwo in Nordhessen

Das Bundeskriminalamt zeigte sich zugeknöpft. Der Bundesgrenzschutz, Kommando Mitte in Kassel, ließ sich nach langen Telefongesprächen, viel Bettelei, Bluff und Hochstapelei, herab, Sachverhalte zu klären. Natürlich nicht ohne Hintergedanken, denn im Rahmen der Schadensbegrenzung war es günstiger Weniges zu verraten und dafür Wichtiges zu verschleiern.

Die Einladung erfolgte für den 25. Juni, Zeitpunkt 21 Uhr. Es war die Verpflichtung abgenommen worden, den Ort der Begegnung nicht zu veröffentlichen. Treffpunkt sollte Schlitz in der Nähe von Bad Hersfeld sein. Dort sollte das Team von einem Hubschrauber abgeholt werden. Am Ortseingang von Schlitz, auf dem freien Platz neben dem ehemaligen Bahnhof, standen zwei Hubschrauber und mehrere Wagen des Bundesgrenzschutzes. Zwar konnte das Team sofort einsteigen, doch der Abflug verzögerte sich. Es fehle noch eine wichtige Führungskraft. Der Kameramann äußerte als erster den Verdacht, die Verzögerung sei inszeniert. Die heraufkommende Dunkelheit solle den Weg verschleiern. Er hatte recht, es wurde ein Nachtflug mit vielen Kreisen und Bögen. Zuletzt fing es noch an zu regnen und selbst eine ungefähre Vorstellung der Richtung, in der sie flogen, war nicht mehr möglich. Sie hatten die Orientierung verlieren sollen und sie hatten sie verloren.

Irgendwann wurden sie umgeladen. Das Einzige, was sie von ihrer Umgebung erfuhren, war die Pfütze in der sie standen. Das Wasser lief ihnen in die Schuhe und die knatschten fortan fröhlich bei jedem Schritt vor sich hin. Was tut man nicht alles für die Kunst. Danach ging es mit einem Lastwagen weiter. Der hatte den großen Vorteil, dass niemand durch die Plane hinausschauen konnte und außerdem wurden sie so durchgeschüttelt, dass sie mit sich und der Ausrüstung beschäftigt waren und keine Gelegenheit hatten irgendetwas von draußen mitzubekommen. Ohnehin war tiefste Nacht. Der Planer dieses Treffens musste einen Kalender haben, auf dem die Mondkonstellation eingetragen war. So dunkel konnte es in Mitteleuropa normalerweise überhaupt nicht sein.

In der Dunkelheit hatten sie den Tunnel gar nicht bemerkt. Sie fuhren aus der Dunkelheit der Nacht in die Dunkelheit des Gewölbes. Nur die sich verändernden Geräusche verrieten den neuen Ort.

Die Kaverne hatte eine Größe, die das Team an den Stollen des Kraftwerkes Affoldern 2 der Preußenelektra erinnerte. Als dort, unterhalb der Edertalsperre, Transformatoren und Turbinen noch nicht eingebaut waren, hatte die Höhle noch Ähnlichkeit mit einer Kathedrale. Auch dieses unterirdische Bauwerk wies solche Dimensionen auf. Von der Hauptkaverne gingen rechts und links Stollen ab, geschäftiger Verkehr überall, Durchsagen über die Kommandoanlage, kleine Elektrowagen in hektischer Tätigkeit.

„Mann oh Mann,“ Johannes Müller, der Kameramann, stöhnte nicht nur unter dem Gewicht der Ausrüstung, „ganz schön konspirativ sind wir geworden. Gleich kommt James Bond um die Ecke!“ „Hoffentlich hat der auch seine Miezen dabei!“ Wie gesagt, der Tontechniker war einer der vielen Verbalerotiker.

Braun fühlte sich unwohl, die Schaukelei im Lastwagen war ihm nicht bekommen, außerdem hatte er Hunger und Durst. Nach Sprüchen stand ihm nicht der Sinn. Zudem machte die Story Schwierigkeiten, sie wuchs ihm langsam über den Kopf. Eine Nummer zu groß war ja in Ordnung, aber zwei Nummern? Außerdem hatte Heinz überall den Anschein erweckt, er habe großes Fachwissen, Insiderwissen über militärische Belange. Hoffentlich platzte die Seifenblase nicht.

„Wir bemühen uns natürlich diesen Ort geheim zu halten, aber das ist ebenso unsinnig wie überflüssig. Der anderen Seite, oder besser, den anderen Seiten ist selbstverständlich bekannt, dass es ihn gibt. Sie wissen halt nur nicht so genau wo er ist, aber das ist ja auch nicht so wichtig.

Meine Herren, ich begrüße Sie in unserem bescheidenen Unterrichtsstand. Alles, was wir Ihnen heute vorführen, können Sie selbstverständlich filmen. Wir zeigen Ihnen natürlich nicht alles, denn es wäre dumm von uns alle Karten auf den Tisch zu legen. Dummheit können Sie von uns ja wohl kaum erwarten.“ Der in Zivil gekleidete Mann stellte sich nicht vor, nannte keinen Namen, keine Funktion und dennoch war zu bemerken, dass er hier der Chef war. Er führte sie in einen großen Saal, der einem Kino ohne Bestuhlung glich. Der Raum war oval, maß auf der breiten Seite rund fünfzig Meter, unter der kuppelförmigen Decke mehrere schwach erleuchtete Fenster, anscheinend der Kontrollraum.

„Wir wollen Ihnen eine Demonstration unseres Trainingsangebotes zeigen. Sie haben ja vor Kurzem einen Bericht im Programm gehabt, der quasi den kleinen Bruder unserer Anlage zeigte. Übrigens, sehr pfiffig von Ihnen die Querverbindung zu uns gefunden zu haben. International gesehen sind wir aber noch ein kleines Licht. Ich weiß auch gar nicht wieso Sie in diesen Anlagen etwas Besonderes sehen. Jede bessere Fluggesellschaft unterhält Flugsimulatoren. Es ist nämlich wesentlich billiger, die Piloten in die Halle zu setzen, als sie wirklich da oben rumkurven zu lassen. Nein, Simulatoren sind für alle möglichen Bereiche etwas völlig Normales. In der Forschung laufen massenweise Computerprogramme als Simulationen: Biologie, Mechanik, Chemie. Ohne Simulation geht da nichts mehr. Aber da haben wir es auch mit Naturwissenschaften zu tun. Also festgesetzten Axiomen. Bei uns ist das anders. Wir können nicht davon ausgehen, dass unsere Leute alle gleich reagieren. Wir können noch nicht einmal davon ausgehen, dass sie überlegt, also logisch, oder wenn Sie so wollen vernünftig reagieren. Vorausgesetzt sie reagieren überhaupt. Es gab in den vierziger Jahren ein Ausbildungsprogramm des amerikanischen FBI. Die haben ihre Leute über ein Trainingsfeld gejagt, das vollgestopft war mit Verbrechern, Kindern, alten Leuten, Fallen und so weiter. Alles natürlich aus Pappmasche. Ein Modell halt. Der Beamte musste blitzschnell entscheiden: Schießen oder nicht schießen. Hat auch prima funktioniert.“

Braun hatte das mal in alten Filmen gesehen. Da rannten Leute durch eine Landschaft, die ein Bühnenbildner der amerikanischen Traumfabrik erstellt haben könnte und schossen auf Pappkameraden. Wenn sie allerdings den armen, alten Herren von Gegenüber, oder den lieben Kleinen von Nebenan trafen, bekamen sie einen Anschiss vom Trainingsleiter. Offiziell und vor der Kamera, im Originalton. Dann wies der Sprecher noch auf die große Verantwortung der FBI- Beamten hin, die doch alle dem Wohle des amerikanischen Volkes dienten. ‚March of Time‘ hießen die Filmwerke, mit Durchhaltemusik und Durchhalteparolen. Gegen den Feind, der zuerst Japanisch, dann nationalsozialistisch und später kommunistisch war und der die Welt verändern wollte. So sagte der Sprecher. Die Filme waren alt. Inzwischen hatten sich zwar die Zeiten geändert, der Feind aber wohl nicht, allen Ansprachen und Sonntagsreden der Politiker zum Trotz.

Im Hintergrund machte sich ein Mann bereit. Braun hatte sich schon oft gefragt warum Kommandos beim Bundesgrenzschutz immer so martialisch aussahen. Von dem Mann sahen sie nur die Augen und die Hände. Das Gesicht hatte er geschwärzt, die Hände hatte er vergessen. Wäre er nun tatsächlich im Einsatz, wäre er schon fast tot, schoss es Braun durch den Kopf. Dann erklärte er sich für verrückt. Warum musste er das Spiel jetzt auch schon im Kopf mitmachen. Mitmachen bedeutet, das Problem zu akzeptieren. Akzeptanz erschwert die Gegenwehr. Gegenwehr war nötig gegen Militarismus und gegen... Er schloss den Gedanken ab, denn das Denken in Schablonen ist ebenso schwachsinnig wie das Akzeptieren. Aber er war im Moment auch nicht besonders fit.

„Vor nicht allzu langer Zeit, so rund zehn Jahre ist das her, da entwickelte die CIA eine neue Lerntechnik. Übrigens stammt die Grundidee von Dr. Losanow vom Institut für Suggestologie und Parapsychologie in Sofia, Bulgarien. Der Ostblock ist uns da ziemlich voraus, na ja, die forschen ja auch schon länger daran herum. Die CIA also hat dieses, auch unter Superlearning bekanntes Phänomen, ausgebaut. Mit Hilfe von Licht und Tonsignalen, computergesteuert versteht sich, lassen sich Menschen auf so ziemlich alles konditionieren, was einem einfallen kann. Und lernen können Sie auch so. Übrigens, in Frankfurt, können Sie das sogar als Privatmann bekommen. Computermeditation nennt sich das dann. Die Technik ist die gleiche, nur der Aufkleber des Paketes ist halt ein anderer.

Warum aber erzähle ich Ihnen das alles? Ganz einfach, es ist das, was Sie wissen wollen. Diese geheime Anlage hier trainiert unsere Leute. Hier werden sie für den Einsatz bei terroristischen Überfällen ausgebildet, Bankraub, Geiselnahme, Flugzeugentführungen. Hier können sie trainieren, Reaktionen konditionieren. Denn, wer in diesem Job lange nachdenkt, der ist schon tot. Er weiß es jetzt bloß noch nicht. Also, wir bezeichnen das alles hier als den Simulator gegen den Terror. Und das werden wir Ihnen jetzt zeigen.

Wenn Sie aber so spektakuläre Bilder erwarten wie auf Ihrer Kirmes, dann muss ich Sie enttäuschen. Wir arbeiten nicht mit Holographie und solch aufwendigem Kram, wir sind schließlich kein Unterhaltungsunternehmer und unsere Kunden bezahlen keinen Eintritt. Sehen Sie hier: Unsere Kandidaten setzen sich diesen Helm auf. Auf der Innenseite befindet sich ein Schirm, den Sie auch von den modernen Flachbildschirmen kennen. Unser Mann sieht darauf seine vermeintliche Umgebung, also das, was der Computer ihm als Umfeld anbietet. Dreht sich unser Mann, verändert sich natürlich sein Blickfeld. Und die Schwierigkeiten, die ihm begegnen sollen, die programmieren wir ihm schon ein. Dieses kleine Kästchen wird über Sonden mit seinem Körper verbunden. Herzschlag, Transpiration, Blutdruck, Leitfähigkeit der Haut und so weiter. Sie kennen das vom Elektrokardiogramm bei Ihrem Hausarzt. So, wir wollen mal hochgehen, in die Zentrale, da zeige ich Ihnen das Gegenstück.“

Der Blick aus dem Kontrollfenster ist eher langweilig. Unten steht ein Mann in schwarzem Trainingsanzug, der Kopf vollständig vom glänzenden Helm verborgen. Der Lautsprecher am Kontrollpult überträgt seine Stimme, seinen keuchenden Atem. Der Raum unten ist, bis auf den Mann, völlig leer. Auf dem Rundummonitor hier oben kann das Team sowohl das aufnehmen, was der Mann unten sieht, als auch das, was nicht in seinem Blickfeld ist. Hier oben sitzen die Herren des Geschehens, der Mann unten ist lediglich der Akteur, die Marionette am Datendraht.

Es sieht schon merkwürdig aus, wenn er über den Platz rennt, Haken schlägt, sich plötzlich ergebende Schrägen emporklimmt. Der Boden muss rollbar sein, denn der Mann verlässt kaum die Mitte, findet sich immer im Zentrum wieder. Auf dem Rundummonitor werden seine Aktionen erklärt. Da stehen Laternen im Weg, Treppen türmen sich vor ihm auf, Passanten laufen um ihn herum. Wenn er los rennt verändert sich auch der Horizont. Besonders markiert ist der Bereich, der von ihm einzusehen ist. Das Programm schreibt vor, einen anderen Mann, der möglicherweise bewaffnet ist, zu verfolgen. Von ihm kann angenommen werden, er wolle einen Dritten töten. Sicher ist dabei allerdings nichts, auch nicht, ob er alleine arbeitet oder mit anderen zusammen. Die Schwierigkeiten werden über ein besonderes Terminal eingegeben. Der Zufall liegt in der Hand des Trainers. Zufälligkeiten werden programmierbar, abhängig von der Willkür Einzelner. Terrorbekämpfung im Dienste des Staates.

Sie werden auf weitere Monitore hingewiesen. Puls, Angstzustände, Schweiß, Atem.

„Wir können auf diesem Wege natürlich auch die Kondition der Leute prüfen. Wer da Defizite hat wird ausgesondert, zu weiterem Training geschickt. Und dann haben wir natürlich neben dem physischen Training noch das mentale. Die Leute sollen ja schließlich funktionieren. Und sie sollen überleben. Wir schicken niemanden bewusst in sein Verderben. Das kann ich als Familienvater auch überhaupt nicht verantworten. Sehen Sie, dem Mann da unten geht schon ganz schön der Atem. Aber jetzt wollen wir ihm mal ein bisschen Dampf machen. Müller!“

Es war das erste Mal heute Abend, dass jemand mit seinem Namen angeredet wurde, dem Chef gingen anscheinend die Pferde durch.

„Müller, wie gut ist der Mann noch drauf?“

„Gute Kondition, er bräuchte im Moment nur mal ein paar Sekunden Pause, Herr...“

Müller verkniff sich den Namen seines Vorgesetzten.

„O.K., gönnen Sie ihm 15 Sekunden und dann wird er angegriffen, von drei Männern gleichzeitig und außerdem,“ der Chef lächelte ein barbarisches Lächeln, „vorher zeigen Sie ihm noch mal eine schöne Frau, zur Abwechslung. Mal sehen ob er drauf reinfällt.“

„Bestimmt nicht, Chef. Das kennt der. Immer wenn ihm Frauen im Training vor der Nase vorbeilaufen, dann weiß er: Gleich kommt’s ganz dick. Ich würde davon abraten.“

„Akzeptiert, steht das Programm?“ Er sah sich zum Computerspezialisten um, einem dürren, bebrillten Männchen, der auf seinen Tastaturen herum hämmerte. Der nickte nur. Und dann fing das neue Programm an.

Man darf nicht in den Saal sehen, dort ist das Geschehen lediglich lächerlich, aber auf dem Rundummonitor im Kontrollraum ist das Drama deutlich zu sehen. Das Blickfeld, das der Mann unten einsehen kann, rot umrandet. Das Bild bleibt stehen, aber das Oval des Sehens huscht hin und her. Die Geschwindigkeit des Wechsels des Blickfeldes steht in direktem Zusammenhang mit dem Erregungszustand des Mannes. Angst macht mobil. Ein Spiel ist das hier nicht mehr. Keuchender Atem, der Pulsschlag. Dokumentiert in den Pieptönen des Kontrollgerätes. Dazwischen Computerstimmen wie in einem Flugzeugcockpit, die zu hohe oder zu niedrige Werte anmahnen. Puls zu hoch, Transpiration zu hoch, Augenbewegungen zu schnell, Blutdruck bei weitem zu hoch. Stress-Symptome. Alles ist zu hoch. Der Computer verarbeitet die medizinischen Daten, schätzt Belastungsphänomene ein, rechnet Belastungstoleranzen aus. Eingeteilt in Zahlen zwischen Null und einhundert. Rechnerisch tritt bei Einhundert der Tod ein. Aber unter Stress verträgt der Mensch mehr als der Computer annimmt, vielleicht einhundertzwanzig oder mehr. Ausprobiert hat das bis zum Extrem bisher niemand. Wer sollte auch die Todesmeldung schreiben.

Die Story ist dürr und einfallslos: Mann verfolgt Mann und wird wiederum von zwei Killern verfolgt. Aber er weiß nicht von wem. Dann geht die Reise ab. Der Verfolgte riecht Lunte und flüchtet. Beamter hinterher. Quer über den vollen Markt. Vorbei an fließendem Verkehr, mitten hindurch, Bremsen quietschen, der Verfolgte hat immer bessere Karten als der Polizist. Schade um den Kerl, der doch Freiheit und Recht verteidigen soll. Trotzdem kommt er meistens durch. Betriebsunfälle inklusive. Bänderrisse, Herzkasper, Nervenzusammenbrüche. Dem Team ist ein bisschen unklar warum das so ist. Simulation ist doch ein Spiel und keine Realität. Erst viel später werden sie Gründe begreifen. Aber noch rennt der Mann vom Bundesgrenzschutz durch exotische Landschaft und sich selbst die Seele aus dem Leib.

Die Jagd geht hinunter zum Hafen. Treppen abwärts, schlecht für die Kondition. Es ist der Hafen von Ibiza, der Autor hat ihn vor langen Jahren ein paar Mal gesehen, liebte diese Stadt und verzweifelte an den Geschäftemachern, die die Insel zerstört hatten.

In der Mitte, an der in den Hafen hinausragenden Mole, liegt das Postschiff. Es legt gerade ab. Das Heck berührt noch die Mauer, der Bug aber wird mit Trossen um das ganze Schiff herum weggezogen. Hinein ins Hafenbecken. Frei zum Auslaufen. Einer alten Tradition folgend, spannen Passagiere und Freunde zwischen sich und dem Schiff Papierrollen. Meistens wird in den Hotels das Klopapier dafür geklaut, aber man kann sie auch kaufen. Auch heute werden Rollen gespannt, verabschieden sich so Freunde, Liebespaare und solche, die es für ein paar Tage waren.

Die Mole ist eine Sackgasse. Aber nur für den, der sich hier nicht auskennt. Kisten stehen herum, Leute laufen, stehen, sitzen. Fremde, vielleicht Feinde, verborgen hinter der Maske des harmlosen Touristen. Männer und Frauen, Schöne und Hässliche. Der Kameramann dreht, der Tontechniker hört in seinen Kopfhörer, der Reporter erlebt, leidet mit, als Einziger. Die anderen haben alle eine Funktion, Trainer, Schinder, Beobachter durch das kleine Fenster des Suchers. Techniker mit Spezialaufgaben.

„Einhundert!“

Der Techniker am Kontrollpult sagt es, als verkünde er das Wetter von morgen. Die Belastungsgrenze ist erreicht. Alle Warninstrumente piepsen, sagen die Überschreitung der Grenzen an. Der Mann da unten hat panische Angst.

„Na, dann wollen wir doch mal.“ Der Chef ist überhaupt nicht erregt. „Beenden wir das Spiel, mal sehen, wie er rauskommt.“

Seine Worte sind teilnahmslos, uninteressiert, so, als betrachte er lediglich eine Versuchsmaus im zweitausendsten Versuch. Der wievielte Versuch es hier wohl wirklich war?

Das Ende kommt schnell. Drei Tote, darunter auch der Beamte. Die anschließende Auswertung ergibt: Er hat seine Kräfte unzureichend eingeteilt, hat panisch reagiert. Überreaktion nennt man das. Morgen, wenn er wieder laufen kann, wird man ihm die Ergebnisse mitteilen. Tod durch Erschießen aufgrund falscher Kräfteeinteilung, zwei Gegner getroffen, finaler Todesschuss. Ein Gegner entkommt. Keine Zivilpersonen beschädigt. Ein gutes Ergebnis. Der Trainer kann zufrieden sein.

„Eine sehr schöne Reportage, spannend, exklusiv, alles was der Mensch so haben will. Hat mir sehr gut gefallen.“

Der aktuelle Beitrag ist fertig. Lob von den Programmoberen ist immer eine seltene Sache. Meistens bekommt man lediglich mitgeteilt, dass sich irgendwer beschwert hat und ob diese Beschwerde den Hierarchen in den Kram passt oder nicht. Lob von der falschen Seite ist oft tödlicher als der Anschiss eines Verbündeten. Wer allerdings verbündet ist und wer nicht, unterliegt täglichem Wechsel.

Aber Eisen müssen geschmiedet werden, solange sie heiß sind. In seinem Lob zeigte sich der Chefredakteur zugänglich, musste die Vorzüge der Gesamtgeschichte leuchtend dargestellt bekommen, musste Geschmack an der Angelegenheit bekommen. Hier, lieber Herr Chefredakteur, so muss es jetzt heißen, haben wir eine Story, die dem Sender einen Namen machen kann. Und sie ist, man bemerke, exklusiv, spannend und von der Konkurrenz noch gar nicht bemerkt worden. Das ist alles sehr schön, wird der darauf jovial antworten, aber Weiteres muss der Programmdirektor entscheiden, denn das Projekt wird teuer werden und was dabei herauskommt...? Ja mein Lieber, diese Entscheidung wollen wir doch dem Direktor überlassen.

Es war wie immer das Gleiche. Für Lorbeeren ist ein jeder empfänglich, Entscheidungen treffen will keiner. Und wenn eine Entscheidung ums Verrecken nicht zu umgehen ist, dann soll das der liebe Gott tun. Wen wundert es, wenn es oben bei Entscheidungsträgern wegen der Arbeitsüberlastung zu Entscheidungsengpässen kommt.

Montags kommt die Entscheidung. Fahren, machen, billig produzieren. Kamera und Ton, plus Reporter. Beleuchter gestrichen. Kostengründe. Drehzeit zehn Tage plus Reisen. Meldung bei Rückkunft. Projektierte Sendezeit: 30 Minuten, Feature-Redaktion, Ausland. Das schiebt das Problem schon ein Stück weit weg.

Letzte Recherchen. Das Team stellt die Ausrüstung zusammen. Die Produktionsabteilung bestellt Flugtickets, Hotels, Mietwagen. Die Chefredaktion unterschreibt Briefe an die Botschaft. Verbindungen über das Auswärtige Amt werden gestrickt. Der Fahrer bringt die Truppe zum Frankfurter Flughafen. Dreimal Tokio und zurück. Pol-Route.

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