Читать книгу Glashütte - Peter Vogler - Страница 8

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Barbara Richter hetzte durch die Straßen der Stadt. „Flucht“, war ihr erster Gedanke gewesen, als sie bemerkt hatte, dass die Uhr weg war. Sie hatte ihre Jacke geschnappt und war an dem erstaunten Portier vorbei aus dem Haus gestürmt. Warum hatte sie sich nur auf den idiotischen Vorschlag dieses aufgeblasenen Dummkopfes Sichrovsky eingelassen?

Unversehens fand sie sich im Stadtpark wieder. Die Bäume erstrahlten im hellen Grün des Spätfrühlings, die Enten auf dem Teich schwammen ihre Runden oder saßen am Ufer und putzten ihr Gefieder. Ah, herrlich könnte so ein Frühlingstag sein!

Wenig passend zu dieser Idylle zitterten Barbara die Knie und ehe sie völlig zusammenbrach ließ sie sich auf einer der Bänke nieder, die aufgereiht am Rand des Weges standen.

„So ein Verbrecher!“, murmelte sie vor sich hin. „Weiß der überhaupt, was er tut? Mein Leben war bisher so interessant und angenehm, jetzt ist alles zerstört!“

Jetzt bahnten sich auch die Tränen ihren Weg, Barbara Richter saß vom Weinen geschüttelt und vor sich hin murmelnd auf der Bank.

Eindeutiger Fall für das goldene Wienerherz!

Zwei ältere Damen von der Nachbarbank wechselten zu Barbara, eine links, eine rechts von ihr.

„Was ist denn, Kinderl? Hat er dich verlassen?“ Die Eine.

„Oder hast du was verloren? No wird sich schon wieder finden!“ Die Andere.

Begleitet von einem Weinkrampf begann Barbara zu erzählen. Also gut, erzählen kann man es nicht nennen, es waren mehr einzelne Worte, bestenfalls unvollständige Sätze. Und so richtig kam die Erzählung auch nicht an. Einerseits, weil ihre Stimme durch das Weinen ein wenig an Deutlichkeit verloren hatte und andrerseits, weil die beiden alten Damen nicht mehr ganz über die Hörfähigkeit der Jugend verfügten. Überdies waren auch noch ein älteres Ehepaar und eine junge Mutter mit Kinderwagen stehengeblieben und beteiligten sich an dem Beratungsgespräch mitfühlender Mitmenschen. Ohne dass irgendwer auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, worum es geht.

Trotzdem waren einige Worte verständlich gewesen. „Verbrechen“ war da gefallen, „es ist alles meine Schuld“ und „damit kann ich nicht leben“. Genug für die junge Mutter, ihr Handy zu zücken und den Polizeinotruf zu wählen.

Alsbald näherte sich ein im blauen Outfit – gemeinhin als Polizeiuniform bezeichnet – gleich gewandetes Paar der Szene.

„No, gnä Frau, ollas in Urdnung?“, sprach der beamtete Herr.

Neuerlicher kurzer Exkurs ins Wienerische:

Erstens, bis zum Beweis des Gegenteils ist jede weibliche Person eine „gnädige (gnä) Frau“. Zweitens, in der Stadt des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freud und des Schöpfers der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankl ist Psychologie im Allgemeinen und die Technik der „paradoxen Intervention“ im Besonderen Allgemeingut. Geradezu klassisch im Beispiel der Frage des Polizisten, ob alles in Ordnung sei. Was es ja augenscheinlich nicht war.

Ende des Exkurses.

Seine Kollegin hatte inzwischen gegen deren hinhaltenden Widerstand eine der alten Damen zur Seite gedrängt, so den Platz an der Seite Barbara Richters erobert und ihre Hand genommen.

„Wollen oder können Sie mir sagen, was vorgefallen ist? Oder was Sie bedrückt? Können wir etwas für Sie tun?“

„Ich will nur weg, ganz weit weg! Am liebsten wäre ich tot!“, brach es aus Barbara heraus.

„Klassische Suizidgefährdung, die gehört in die geschlossene Psych“, murmelte der Polizist, die gängige Kurzfassung für psychiatrische Anstalt, konkret die geschlossene Abteilung, verwendend. Äußerst taktvoll wandte er sich von der Szene ab und nahm über sein Sprechfunkgerät Kontakt zu seiner Einsatzzentrale auf, um einen Krankenwagen anzufordern.

Nun ist ja so ein Krankenwagen beispielsweise bei einem Unfall ziemlich bald zur Stelle. Aber natürlich, ein Unfall hat ja auch so seine Dringlichkeit als Begleiterscheinung. Diese Dringlichkeit hatte der amtshandelnde Bezirksinspektor am Funkgerät aber nicht ausgedrückt, weswegen sich das Ambulanzfahrzeug nach geraumer Zeit gemächlich und ohne Blaulicht und Folgetonhorn dem Einsatzort näherte.

Genug Zeit für die inzwischen etwas angewachsene und Teilnahme demonstrierende Menge Überlegungen über die Ursache des offensichtlichen Nervenzusammenbruches (merke: in jedem Wiener steckt auch ein kleiner Psychiater) anzustellen. Befeuert von den Informationen der beiden alten Damen, die sozusagen den Ersteinsatz durchgeführt hatten. Da berichtete die eine den Umstehenden, dass offenbar der Liebhaber eine teure Uhr gestohlen hätte, die diese arme Frau ihrem Vater schenken wollte. Was die andere korrigierte, dass es nicht der Vater, sondern der Chef und nicht der Liebhaber, sondern der Bruder gewesen sei. Unsicher waren sich die beiden Damen, ob es im Zuge dieses Verbrechens einen Toten oder zumindest schwer Verletzten gegeben habe. Möglicherweise sogar mehrere. Jedenfalls sei diese arme Frau mit ihren Nerven völlig am Ende und vermutlich habe nur ihrer beider sofortige seelische Unterstützung einen wahrscheinlichen spontanen Selbstmord verhindert.

Von diesen Basisinformationen ausgehend entwickelte sich in der mitfühlenden Menge eine rege Diskussion über die Schlechtigkeit der Welt, deren Gründe nicht nur in der Gier der Menschen, im ungehemmten Zuzug von Ausländern, in der mangelnden Erziehung von Kindern und so weiter fest gemacht wurden. In solchen Ursachenforschungen hat man sich in Wien immer schon gut ausgekannt, speziell, wenn der Mangel an konkreten Fakten einen weiten Interpretationsspielraum offen lässt.

Diese Diskussion hielt über den Zeitpunkt des Abtransportes von Frau Richter an. Ein finales Ergebnis ist natürlich nicht bekannt, aber in Kenntnis der Wiener Seele von Menschen im Park könnte es lauten, dass irgendwelche Zigeuner ein Uhrengeschäft ausgeraubt hätten und die arme, jetzt schon abtransportierte Verkäuferin gerade noch dem Gemetzel entgehen konnte. So oder so ähnlich halt würde die Geschichte lauten, die man zu Hause, Freundinnen und so weiter erzählen würde.

Im Krankentransportwagen verabreichte der mitfahrende Sanitäter Barbara Richter ein Beruhigungsmittel in Form einer Tablette. Für eine Injektion war er nicht berechtigt, derart wichtige Eingriffe waren den Ärzten vorbehalten. Dazu muss man wissen, dass der Sanitätsdienst in Wien gut ausgebaut ist, aber natürlich wie fast alles in dieser Stadt auch die Struktur abbildet. Also gibt es neben dem Rettungsdienst (mit einem mitfahrenden Arzt) auch mehrere Krankentransportdienste (mit einem mitfahrenden Sanitäter). Mehrere deshalb, weil einer davon der politischen Richtung der im Rathaus herrschenden Partei nahesteht und daher daneben auch noch andere sogenannte NGO’s, also Nichtregierungsorganisationen (eine Form schleichender Privatisierung von staatlichen Aufgaben, auch nicht immer effizient, aber wenigstens nicht durch Steuergeld, sondern durch Spenden finanziert), ihren Dienst betreiben und sich auch ein bisschen was vom Kuchen sichern dürfen. Erspart lästige Kritik und zahlen tun es sowieso die Krankenkassen und deren Defizit wieder der Staat und damit eh wieder der vielgeliebte Bürger. Bewährtes System, da gibt’s nichts zu diskutieren!

Nicht gerade beruhigt aber mit einem gewissen Gefühl der Gleichgültigkeit, in Wien besser als Wurschtigkeitsgefühl bekannt, ließ sich Barbara Richter am Ende der Fahrt auf der Baumgartner Höhe in den Pavillon der Psychiatrie führen, wo sie ein Arzt eher oberflächlich untersuchte, feststellte, dass sie weder eine Gefahr für sich noch für andere war und sie dann einer Schwester übergab, die sie in ein Zimmer führte, in dem schon zwei andere Damen in einem medikamentösen Halbschlaf dahindämmerten. Zur Anpassung bekam sie nebst einem kleinen Abendessen, das sie nicht anrührte, ein weiteres Beruhigungsmittel, das ihr – und vor allem dem Personal – eine ruhige Nacht verschaffen sollte.

Wienerischer Exkurs:

„Baumgartner Höhe“ ist dasselbe wie „Am Steinhof“. Also vom Sinn her, die topografische Bezeichnung mag ein paar Meter auseinander liegen. Die dort angesiedelte „Heil- und Pflegeanstalt Baumgartner Höhe“ hieß früher „Irrenanstalt Am Steinhof“ und war lange Zeit Synonym für Wahnsinn aller Art. „Du ghörst ja am Stahof“ (Übersetzung für Nichtwiener: Du bist ja irre) war die eindeutige Feststellung, dass jemand nicht richtig tickte. Wobei den Wienern immer klar war, dass am Steinhof nur die harmlosen Irren eingesperrt wurden. Die wirklich Gefährlichen aber alle frei herumliefen.

Was sich durch die Umbenennung nicht geändert haben dürfte.

Ende des wienerischen Exkurses.

Glashütte

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