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Sich dem eigenen Schatten stellen
Viele Menschen in Führungsverantwortung sind ständig auf der Suche nach neuen Methoden, Ideen oder Fertigkeiten. Wir sind die Leute, die wissen müssen, was als Nächstes dran ist, warum das wichtig ist und wie wir es bewerkstelligen wollen. Wir müssen sicherstellen, dass die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Aber etwas anderes ist viel wichtiger und viel schwieriger: Die erste und schwierigste Aufgabe eines Leiters ist es, sich selbst zu führen. Warum? Weil wir uns dadurch mit Seiten an uns selbst auseinandersetzen, die wir lieber übersehen, vergessen oder nicht wahrhaben wollen. Der Autor Parker Palmer beschreibt diese Tendenz in uns so:
Alles in uns sträubt sich dagegen. Und das ist der Grund dafür, dass wir uns lieber mit äußeren Dingen beschäftigen – das ist viel einfacher. Es ist leichter, sein Leben damit zu verbringen, eine Institution zu manipulieren, als sich mit seiner eigenen Seele zu befassen. Wir reden so, als seien die Institutionen komplex und streng und rigoros, aber verglichen mit unserem Labyrinth-artigen Inneren sind sie ausgesprochen überschaubar.1
Die folgende Geschichte verdeutlicht, wie komplex und herausfordernd es sein kann, sich durch das eigene „innere Labyrinth“ hindurchzuarbeiten und dem eigenen Schatten ins Gesicht zu sehen.
Der Fall Stefan
Stefan ist seit fünf Jahren Pastor einer freien Gemeinde mit derzeit 185 Mitgliedern. In letzter Zeit ist Stefan immer wieder darauf hingewiesen worden, dass er sich im Blick auf Leitungsentscheidungen mehr durchsetzen müsse. Das sagen ihm seine Frau ebenso wie einige Freunde. Stefan sieht das auch so, aber er hat Angst davor, Menschen zu enttäuschen oder zu verärgern. Seine kontaktfreudige, freundliche Art und seine Fähigkeit zuzuhören, täuschen darüber hinweg, dass er auf jede Art von Konflikt allergisch reagiert.
Aber nach fünf Jahren zeigen sich in der Gemeinde die ersten negativen Folgen dieser Konfliktvermeidung. Die Leiterin des Kindergottesdienstes ist unerfahren und reagiert schnell gekränkt, doch weil sie sich für diese Aufgabe angeboten hatte, wollte Stefan sie nicht enttäuschen. Es vergehen keine zwölf Monate, da muss Stefan einen Großteil ihrer Arbeit selbst erledigen. Außerdem hat er immer wieder Unstimmigkeiten zwischen ihr und ihrem Team auszubügeln. Sowohl der Gemeindevorstand als auch einige Eltern hatten Stefan darauf hingewiesen, dass die Leiterin für diese Aufgabe nicht geeignet ist. Jetzt steht ein Riesenproblem im Raum, aber niemand will es ansprechen.
Stefan wollte gern die Gottesdienstangebote verändern und den bisherigen traditionellen 10-Uhr-Gottesdienst früher halten, damit um 11 Uhr noch ein moderner Lobpreisgottesdienst stattfinden konnte. Er hatte sich eigentlich vorgenommen, seine Überlegungen der Gemeindeleitung zu präsentieren, machte dann aber einen Rückzieher, weil er Widerstand von ein oder zwei Ältesten erwartete. Es gab kein Gespräch über die Zukunft der Gemeinde und es änderte sich nichts. Viele junge Leute kehrten der Gemeinde den Rücken.
Stefans Unfähigkeit, Nein zu sagen, andere Meinungen zu ertragen oder auch andere zu enttäuschen, hat ihre Wurzeln in seiner Ursprungsfamilie. Die unausgesprochenen Gesetze, mit denen er aufgewachsen ist, klingen in etwa so:
Verärgere bloß niemanden.
Du bist dafür verantwortlich, dass deine Eltern glücklich sind.
Wenn du traurig oder zornig bist, lass es bloß niemanden merken.
Das hat dazu geführt, dass Stefan die Wahrheit gelegentlich ein wenig zurechtbiegt und sich zu sehr um die Gefühle anderer kümmert. Jetzt wirkt sich dieses schwere Erbe nachteilig auf seine Leitungsaufgabe in der Gemeinde aus.
Als ein Mitglied der Gemeindeleitung Stefan zum Frühstück einlädt, ahnt er nichts Gutes. Und tatsächlich stellt der Mitarbeiter eine unbequeme Frage: „Warum drehen Sie eigentlich die Dinge immer so, dass niemand etwas dagegen sagen kann?“ Stefan empfindet die Frage als Schlag in die Magengrube. Er erkennt nicht, dass sein Mitarbeiter ihm einen echten Gefallen getan hat. Die Frage ist jetzt: Was wird Stefan damit anfangen?
Um die Wurzel seiner ausgesprochenen Konfliktscheu aufzuspüren, wird Stefan sich seinem Schatten stellen müssen, und das ist eine komplexe und anstrengende Angelegenheit. Im Moment ist ihm zwar klar, dass er ein Problem hat, aber er muss erst noch begreifen, wie ernst und wie weitreichend es tatsächlich ist.
Zum Glück finden die meisten Menschen, wenn sie erst einmal verstehen, worum es bei ihrem Schatten geht und dass sie nicht die Einzigen damit sind, den Mut, sich ihrem Schatten zu stellen. Indem sie das tun, entdecken sie zugleich etwas von Gottes Gnade und spüren den Rückenwind des Heiligen Geistes.
Was ist der Schatten?
Unser Schatten, das sind all die unbewältigten Emotionen und nicht ganz uneigennützigen Motive und Gedanken, die uns zwar weitgehend nicht bewusst sind, die aber unser Verhalten dennoch ganz entscheidend beeinflussen. Der Schatten ist die versehrte, aber meist verborgene Version unserer Person.
Der Schatten kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen. Manchmal geschieht das in offenkundig sündhaftem Verhalten, etwa in einem Perfektionismus, der an anderen kein gutes Haar lassen kann, in Ausbrüchen von Jähzorn, Eifersucht, Süchten oder Verbitterung und nachtragendem Verhalten. Etwas subtiler tritt er in einem übertriebenen Bedürfnis zutage, für andere den Retter zu spielen oder von allen gemocht zu werden, in Geltungssucht, Arbeitssucht, Distanziertheit oder übermäßiger Strenge. Manche Aspekte des Schattens können Sünden sein, wir können sie aber auch als Verletzungen oder Schwächen begreifen. Sie treten vor allem dort zutage, wo wir uns vor dem Gefühl zu schützen versuchen, verletzlich oder bloßgestellt zu sein.
„Der Schatten ist seinem Wesen nach schwer zu begreifen“, schreiben die Psychologen Connie Zweig und Jeremiah Abrams. „Er ist gefährlich, unberechenbar, stets im Verborgenen wirksam, als ob das Licht des Bewusstseins ihm regelrecht das Leben nehmen würde.“2
Wie wirkt sich der Schatten auf unseren Führungsstil aus? Sehen wir uns ein paar Beispiele an.
Viele Leiter sind begabte Redner, die Menschen motivieren können. Das ist gut. Die Schattenseite dieser Gabe könnte aber sein, dass jemand von Bestätigung nie genug bekommen kann. Sogar ein öffentliches Eingeständnis von Versagen kann durch ein unbewusstes Verlangen nach Anerkennung motiviert sein. Viele begabte Redner nutzen gerade dieses Talent, um sich vor Nähe in Beziehungen zu schützen.
Wir legen Wert auf Exzellenz. Das ist gut. Der Schatten zeigt sich, wenn unser Qualitätsbewusstsein uns nicht mehr gestattet, Menschen zu akzeptieren, die anderer Ansicht sind. Dann sind wir getrieben von Unsicherheit und Ängsten und müssen uns immer kompetent fühlen und „recht haben“.
Wir wollen, dass die Gemeinde ihre Gaben mit größtmöglicher Wirkung einsetzt. Das ist gut. Der Schatten regiert, wenn wir so darauf versessen sind, bestimmte Ziele zu erreichen, dass wir anderen nicht mehr zuhören können oder wollen, oder wenn wir andere mit unserem Tempo unter Druck setzen. Die verborgene Schattenmotivation kann dann sein, dass wir abhängig sind davon, dass andere unsere Arbeit würdigen.
Dienen hat bei uns einen hohen Stellenwert. Das ist gut. Der Schatten äußert sich vielleicht da, wo jemand bei Gemeindeveranstaltungen nur in der Küche steht und Gespräche mit anderen vermeidet – um damit Nähe und Intimität aus dem Weg zu gehen.
Jemand hat eine neue Aufgabe in einer anderen Stadt übernommen. Das ist gut. Der Schatten regiert, wenn es vor dem Abschied aus dem alten Team zu einem Streit mit bisherigen Kollegen über eine unwichtige Kleinigkeit kommt, die bisher noch nie Thema gewesen ist. Warum? Weil das einfacher ist, als die Trauer über den Abschied zuzulassen und auszusprechen: „Du wirst uns fehlen.“3
Erlauben Sie mir noch ein persönliches Beispiel, bei dem ich leider keine gute Figur mache. Geri und ich hatten ein Gespräch, in dem es um Fragen der Gemeindeleitung ging. Es gab vier oder fünf Punkte auf meiner Tagesordnung. Der erste war der, dass ich Geris Meinung zum neu formulierten Leitbild unserer Gemeinde hören wollte, an dem ich seit über drei Monaten gefeilt hatte. Ich reichte ihr das Papier und sie begann zu lesen. „Lass mich kurz nachdenken … ich bin mir nicht sicher, ob das hier so gut ist.“
Bei diesen Worten spürte ich, wie mein Körper sich anspannte, aber ich versuchte, meinen Ärger zu verbergen. „Das ist eigentlich eine Drei-Minuten-Sache“, sagte ich angespannt. „Ich hatte erwartet, dass du es okay findest. Nicht, dass du eine Generalüberarbeitung vornimmst.“
Geri schwieg, obwohl ihr der Ärger in meinem Ton nicht verborgen blieb. Die Spannung zwischen uns war deutlich zu spüren.
Dann fragte Geri: „Was ist gerade mit dir los? Mir ist aufgefallen, dass du das manchmal auch in Sitzungen so machst. Du fragst Leute nach ihrer Meinung, aber du willst sie gar nicht hören. Das ist nicht gut, Pete.“
Geri war die Ruhe selbst. Ich war das genaue Gegenteil. Etwas in mir hätte sie am liebsten geschüttelt, mich verteidigt oder geschrien. Da war er wieder – ein Aspekt meines Schattens. Ich kannte ihn nur allzu gut.
Ich hatte die Linie zur akuten Sünde noch nicht überschritten, aber ich war kurz davor. Ich schickte ein Stoßgebet zum Heiligen Geist und bat um Selbstbeherrschung und Kraft. Nach ein paar erklärenden Worten bat ich Geri um Verzeihung, dass ich Fragen gestellt hatte, die ich nicht gut durchdacht hatte und die nicht wirklich ernst gemeint waren.
Mir war nur allzu klar, woher meine Ungeduld und sofortige Anspannung kamen: aus meiner Ursprungsfamilie. Als Geri nicht sofort begeistert auf meine Entschuldigung reagierte, fühlte ich mich in die Welt meiner Kindheit versetzt, in der Kritik und Herabsetzung an der Tagesordnung gewesen waren.
Es war schmerzhaft, diesen Schatten so deutlich zu sehen – und bei Weitem nicht zum ersten Mal. Aber jedenfalls war ich dankbar, dass ich ihn überhaupt sehen konnte. Und dankbar für mein gutes Fundament an gesunder biblischer Theologie, das mich daran erinnerte, dass ich mehr bin als mein Schatten.
Wir sind mehr als unser Schatten
Im Blick auf das Thema „Schattenseiten“ und unseren Umgang damit findet man zwei mögliche Extreme in der christlichen Welt. Die erste dieser Extrempositionen besagt: Ich bin durch und durch schlecht. „Ich weiß ja, dass in mir, das heißt in meiner eigenen Natur, nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,18). Das entgegengesetzte Extrem lautet: Ich bin durch und durch gut. „Wenn jemand zu Christus gehört, ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; etwas ganz Neues hat begonnen!“ (2 Kor 5,17). In beiden Perspektiven steckt ein Stück Wahrheit, aber wenn wir sie gegeneinander ausspielen, verzerren wir damit die biblische Aussage. Wenn wir angemessen mit dem Problem des Schattens umgehen wollen, müssen wir beide Aussagen in einer gesunden Spannung zueinander belassen.
Die meisten Menschen sind zu jedem denkbaren Zeitpunkt eine Mischung aus diesen Spannungen und Widersprüchen. Nehmen wir mich zum Beispiel. Es gibt Situationen, in denen ich offen und verletzlich bin. In anderen Situationen reagiere ich abwehrend und verschlossen. Ich kann liebevoll sein, aber gelegentlich auch unfreundlich und voller Vorurteile. Ich arbeite hart, um gute Predigten zu halten, aber ich bin träge, wenn ich mich mit neuen Technologien vertraut machen muss. Ich bin gelassen, wenn ich öffentlich sprechen muss, aber reizbar und angespannt, wenn ich unter Zeitdruck gerate. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Gottes Perspektive für uns ist die, dass wir diese widersprüchlichen Seiten unserer Existenz in unser Selbstbild und unsere Selbstwahrnehmung integrieren. Das berührt dann auch unseren Führungsstil. Ja, wir haben einen Schatz, und ja, wir sind ein Schatz. Aber „wir … sind für diesen kostbaren Schatz, der uns anvertraut ist, nur wie zerbrechliche Gefäße“ (2 Kor 4,7).
Wenn wir glauben, dass unser Schatten die eigentliche Wahrheit über uns ist, kann uns das mutlos machen. Hat es dann überhaupt einen Sinn zu versuchen, ihn zu entmachten? Solch eine Haltung hat gravierende Konsequenzen. Wir können unseren Schatten nicht ignorieren, ohne einen hohen Preis dafür zu bezahlen.
Sie wissen, dass Ihr Schatten das Ruder in der Hand hat, wenn Sie …
… überreagieren, sobald Sie unter Druck geraten;
… einem anderen, der Sie verletzt hat, den Erfolg nicht gönnen;
… ausgelöst durch Menschen oder Situationen Dinge sagen, die Sie später bereuen;
… Ehepartner oder Kollegen ignorieren, wenn sie kritische Anmerkungen über Sie oder Ihr Verhalten machen;
… ein bestimmtes Verhalten nicht ändern, obwohl es erkennbar nur negative Folgen hat;
… häufig Emotionen erleben wie Zorn, Eifersucht und Neid;
… Dinge tun und sagen, die nur von Ihrer Angst davor motiviert sind, was andere über Sie denken;
… hektischer arbeiten, wenn Sie unter Druck geraten, statt sich mehr Zeit zur Reflexion zu nehmen;
… dazu neigen, andere zu idealisieren, als hätten sie besondere Gaben von Gott bekommen, und vergessen, dass auch diese Menschen einen Schatten haben wie Sie selbst;
… negativ über Menschen reden, die Sie enttäuscht haben, statt das direkte Gespräch zu suchen.
Wenn wir unseren Schatten ignorieren
Sich dem eigenen Schatten zu stellen, ist eine Aufgabe, die man nicht unterschätzen sollte. Unser Selbstschutzmechanismus kann sehr erfinderisch darin sein, scheinbar berechtigte und einleuchtende Gründe zu finden, um die Auseinandersetzung mit unserem Schatten zu vermeiden. Im Lauf der Jahre habe ich einige zentrale Kategorien benannt, wie diese Vermeidungsstrategien sich äußern: Wir verleugnen das Problem, reden es klein, wir häufen Selbstvorwürfe an oder geben anderen die Schuld, wir finden Gründe für unseren Ärger, verdrängen ihn oder projizieren ihn auf andere. Egal, welchen Abwehrmechanismus wir nutzen – wenn wir unseren Schatten ignorieren, sind die Folgen zerstörerisch.
Der Schatten untergräbt unsere besten Möglichkeiten
Studien haben gezeigt, dass 58 Prozent unseres Verhaltens im beruflichen Umfeld durch unseren EQ (Emotionaler Quotient, der Indikator unserer emotionalen Intelligenz) bestimmt sind.4 Für ein effizientes Führungsverhalten von Führungskräften ist die emotionale Intelligenz weitaus wichtiger als andere Faktoren wie IQ, Persönlichkeit, Bildungsstand, Erfahrung und Begabung.5 Diese Tatsache hat weitreichende Konsequenzen im Blick darauf, dass es Gott darum geht, unseren Charakter so zu prägen, dass Christus in uns Gestalt gewinnt. Wenn wir unsere Schattenseiten ausblenden, kann das die besten Möglichkeiten versperren, die unsere Begabung uns eröffnen könnte. Ein eigenes Beispiel: 1996 wurde ich zum ersten Mal mit dem Problem des Schattens konfrontiert. Ich begann, mich damit auseinanderzusetzen, aber es dauerte bis 2007, bis ich ganz verstand, wie sehr sich mein Schatten auf mein Führungsverhalten auswirkte. Die Blockade zerbrach erst, als ich bereit war, mich mit den verborgenen Motiven auseinanderzusetzen, die mich antrieben – Schattenmotive. Besonders deutlich wurden sie in meinem Umgang mit meinen Mitarbeitern und wenn es um Personalentscheidungen ging. Nach und nach erkannte ich drei Hauptprobleme:
Wertschätzung und Anerkennung. Wenn ich den Gottesdienst leitete und predigte, bekam ich viel positive Rückmeldung. Die Leute wollten mit mir reden. Sie sagten lauter freundliche Dinge. Aber wenn ich unbequeme Wahrheiten aussprach oder schwierige Entscheidungen traf, die nicht alle mittragen konnten, rückten sie von mir ab. Hinter meinem Rücken redeten sie schlecht über mich (meistens allerdings nur in meiner Fantasie).
Etwas in mir wollte verzweifelt verhindern, dass Menschen von mir abrückten. Auch das hat seine Wurzeln in meiner Ursprungsfamilie. Meine Eltern verfügten nicht über die emotionalen Ressourcen, ihren vier Kindern den Rückhalt zu geben, den sie gebraucht hätten. Die Folge war: Ich lebte seit meiner Kindheit mit einem emotionalen Defizit und einem tiefen Bedürfnis nach Bestätigung und Annahme. Erst als ich verstand, dass zwischen diesem Mangel an Bestätigung in meiner Kindheit und meinem inneren Zwang zu verhindern, dass Menschen sich von mir distanzierten, ein Zusammenhang bestand, konnte ich – jedenfalls teilweise – verstehen, warum ich immer wieder schwierigen Gesprächen auswich. Das Problem war bereits so groß, dass es nicht nur mich persönlich betraf, sondern die Gemeinde negativ beeinflusste.
Aufrichtigkeit und Lüge. Unsere Gemeinde war zu diesem Zeitpunkt bereits ein komplexes Gebilde mit zwanzig hauptamtlichen Mitarbeitern. Meine Stärken waren mir klar: Predigen, Lehren, Visionen Entwickeln. Weniger gut bin ich in administrativen Dingen, Budgetverwaltung, Personalangelegenheiten und detaillierter Strategieplanung. Ich konzentrierte mich auf das, was ich gut konnte, und blendete die anderen Aufgaben, die mir nicht so lagen, so weit wie möglich aus.
Aber damit war ich unaufrichtig – mir selbst, meinen Mitarbeitern und auch der Gemeinde gegenüber. Ich gab kein ehrliches Feedback, wenn etwas zu kritisieren war, damit sich niemand schlecht fühlte. Ich vermied es, die schwierigen Fragen zu stellen, weil ich Angst hatte vor den möglichen Antworten. Ich vermittelte den Eindruck, dass die Dinge besser liefen, als es tatsächlich der Fall war. Ich gab den Anschein, alles liefe zu meiner Zufriedenheit, obwohl es nicht so war.
Selbstzweifel im Blick auf meine eigene Führungskompetenz. Seit 1923 betreibt meine Familie eine italienische Bäckerei in New York. Bis heute ist der Laden chaotisch und schlecht geführt. Die Botschaft, die ich daraus mitnahm, lautet: Die Scazzeros können gut reden (übertreiben und ausschmücken, um andere mitzureißen), aber nicht gut organisieren. Und damit entschuldigte ich mein Versagen im Blick auf die organisatorische Leitung meiner Gemeinde. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass sich das ungeschriebene Familiengesetz von Chaos und Desorganisation eventuell verändern ließe. Ich hörte praktisch ständig die Stimme meiner Mutter: „Das kannst du nicht. Du weißt nicht, worauf du dich da einlässt.“
Wie viele andere Pastoren auch stürzte ich mich auf das, was mir lag, statt gerade meinen Schwachpunkten mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es war leichter, eine Extrabibelstunde über die Offenbarung anzubieten, als mich mit Personalfragen, Budget und Supervisionsterminen zu befassen. Kurzfristig besänftigte ich damit meine Anspannung, aber langfristig verstärkte ich sie. Was war die Folge? Im Lauf der Zeit sabotierte mein Schatten sogar meine Stärken und Begabungen als leitender Pastor.
Der Schatten schränkt unsere Fähigkeit ein, anderen zu dienen
In dem Maß, wie wir unseren eigenen Schatten erkennen und uns damit auseinandersetzen, können wir andere dazu befreien, dasselbe zu tun. Ich konzentriere mich nicht darauf, die Schattenseiten an anderen zu entdecken, aber ich erkenne sie zunehmend rascher. Wieso? Weil ich meine eigenen Schattenseiten kenne.
Eine Geschichte über die Wüstenväter erzählt von einem Mönch aus dem 4. Jahrhundert, einem Johannes Kolobos.
Als er einmal vor der Kirche saß, scharten sich die Brüder um ihn im Kreise und fragten ihn über ihre Gedanken. Das sah ein Altvater und von Neid angestachelt sagte er zu ihm: „Johannes, dein Becher ist voll Gift.“
Johannes antwortete: „So ist es Vater! Und das hast du gesagt, obwohl du nur das Äußere siehst, wenn du erst das Innere sähest, was hättest du dann zu sagen!“6
Johannes reagiert nicht abwehrend. Er greift den anderen nicht an und schlägt auch nicht verbal um sich, um das Gespräch von sich selbst abzulenken. Er steht zu seiner Verletzlichkeit und zu dem, was er von sich selbst weiß. Wie Paulus spricht er von sich selbst als „dem größten aller Sünder“ (1 Tim 1,16). Emotionale und geistliche Reife zeigt sich unter anderem daran, inwieweit jemand zur Realität und zum Ausmaß des eigenen Schattens stehen kann.
Wenn wir andere Menschen gut und effektiv führen wollen, müssen wir uns dieser schlichten, harten Tatsache stellen: In dem Maß, in dem wir unseren eigenen Schatten ignorieren, begrenzen und behindern wir auch einen wirksamen Dienst an anderen im Geist der Liebe. Das folgende Beispiel verdeutlicht diesen Zusammenhang:
Ich denke an Charly – einen sehr begabten jungen Mann mit einem Top-Studienabschluss und einem beachtlichen Lebenslauf. Charly ist charismatisch, redegewandt und kreativ. Er hat Gedichte veröffentlicht, ist ein viel gefragter Konferenzredner. Charly stammt aus einer ländlichen Kleinstadt, in der ihn heute jeder wegen seines Erfolgs im großen New York bewundert. Alle dort sind stolz auf ihn. Aber wenn wir im Hauskreis zusammensitzen und es um persönliche Dinge geht, klingen die Beiträge von Charly irgendwie steril, hohl, leer.
Nachdem wir im Hauskreis über die Problematik des Schattens gesprochen hatten, suchte ich das Gespräch mit ihm. „Charly“, sagte ich, „ich habe den Eindruck, dein ganzes Leben dreht sich darum, was du darstellst – als Redner, Autor, Dichter, Rapper, als jemand, der es geschafft hat. Aber ich frage mich: Wer bist du eigentlich wirklich … hinter all diesen Rollen?“
Er schwieg lange. Dann sagte er leise: „Ich weiß es nicht, Pete.“
Ein paar Wochen später trafen wir uns wieder. Charly erzählte, dass er sich sehr mit seinem familiären Hintergrund und dessen Auswirkungen auf sein Leben beschäftigt hatte. Ihm war deutlich geworden, dass er eine Hochglanz-Version seines Lebens konstruiert hatte. Dann sagte er: „Und dann hatte ich den Eindruck, dass Gott mich vor eine Wahl stellt. Ich kann meine Geschichte schönschreiben und aufpolieren und noch mehr als Strahlemann rüberkommen. Oder ich kann zulassen, dass Gott mich heilt und erneuert … Und dafür habe ich mich entschieden. Ich glaube, es wirkt sich schon aus. Ich schreibe anders. Ich spreche anders. Ich weiß noch nicht, wohin das führt. Aber es fühlt sich sehr gut an.“
Der Schatten macht uns blind für den Schatten der anderen
In seinem Buch Dynamik des Todes bemerkt der Kulturanthropologe Ernest Becker, dass Menschen ein universales Bedürfnis nach Heldenfiguren haben, die weniger hilflos oder beschädigt sind als wir selbst. Figuren, denen Gott irgendwie zuzulächeln scheint, die er mit besonderen Gaben, Weisheit und Intelligenz ausstattet. Figuren, die über die Härten des Lebens triumphieren. Figuren, die uns mit ihrer unerschütterlichen Selbstsicherheit blenden.
Wenn wir uns weigern, uns mit unserem eigenen Schatten auseinanderzusetzen, werden wir entweder blind für die Schattenseiten der anderen oder wir rechnen nicht mehr damit. Das führt dazu, dass wir andere idealisieren, als hätten sie keinen Schatten. Als Konsequenz fühlen wir uns selbst schlecht und fallen in den Sumpf morbider Grübelei über unsere eigenen Fehler, indem das Gewicht unseres Schattens uns immer weiter hinunterzieht. Oder wir urteilen umgekehrt besonders hart über andere, kritisieren jede Unvollkommenheit und reden aus eigener Unsicherheit oder Neid negativ über sie. Auch in diesem Fall vergessen wir, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die einen Schatten haben und die sich ebenso verletzlich und unvollkommen fühlen wie wir auch. Wir sollten uns aber daran erinnern, dass wir alle nur „homo sapiens, Standardausgabe“ sind, wie Becker schreibt.7
Jesus war sich durchaus im Klaren darüber, dass seine Jünger alle einen Schatten mit sich herumtrugen. Nach der Tempelreinigung, als viele Menschen ihm folgten, berichtet das Evangelium: „Jesus blieb ihnen gegenüber zurückhaltend, denn er … wusste genau, wie es im Innersten des Menschen aussieht“ (Joh 2,24). Er wusste: Der Glaube allein befreit uns noch nicht von unserem Schatten. Wir brauchen uns nur Petrus anzusehen – diesen Jünger, der überzeugt erklärt hatte, Jesus sei der Messias, und ihn kurz darauf dreimal verleugnete.
Wir sollten uns also darüber im Klaren sein, was es für negative Folgen haben kann, wenn wir unseren Schatten ignorieren. Wenn wir uns hingegen entscheiden, Gott und seinen Weisungen zu folgen, zieht das viel Gutes nach sich.
Was wir gewinnen, wenn wir uns dem Schatten stellen
Gott stellt uns wunderbare Gaben in Aussicht, wenn wir den Mut aufbringen, uns unserem Schatten zu stellen. Und mit wunderbar meine ich: schmerzhaft, aber lohnend – „harte Gnaden“ sozusagen. Auch wenn der Gedanke uns zunächst Angst einjagt: Sobald wir uns auf den Weg machen und unserem Schatten ins Gesicht sehen, merken wir, dass Gott genau dort auf uns wartet und uns mindestens zwei wunderbare Geschenke macht.
Die verborgene Macht des Schattens wird gebrochen
Eine der wichtigen Wahrheiten des Lebens lautet: Was man nicht annimmt, kann man nicht verändern. Aber wenn wir unseren Schatten annehmen – mit seinen Wurzeln und Ausdrucksformen –, dann verringert sich seine Macht über uns. Sie kann sogar ganz gebrochen werden. Der erste und wichtigste Schritt dahin ist der, dass wir unseren Schatten ins Licht Jesu stellen.
Paulus war einer der brillantesten Köpfe seiner Zeit. Als Apostel, Prophet, Evangelist, Pastor und Lehrer war er ein begnadeter Leiter. Gott schenkte ihm außergewöhnliche Visionen und Offenbarungen. Trotz Verfolgung, Todesdrohungen und ständig schwieriger Umstände war sein Erfolg als Gemeindegründer im Römischen Reich unübertroffen. Aber die intensive Gegnerschaft und die Verantwortung für die jungen Gemeinden stellten für Paulus sicher auch eine Prüfung dar. Wir wissen nicht, wie Paulus’ Schatten aussah, aber ich könnte mir vorstellen, dass er vielleicht stur war und dazu neigte, anmaßend, intolerant und gewalttätig zu sein (wenn man sich ansieht, wie er zunächst die Gemeinde verfolgte).
Paulus redet offen von dem „Stachel“, einem Leiden, das Gott ihm zumutet (2 Kor 12,7). Was das genau war, wissen wir nicht, aber wir wissen, dass es Paulus belastete und entmutigte. Aber es hatte auch eine positive Seite: Paulus lernte, aus Schwäche und Verletzbarkeit heraus zu führen. In diesem Sinn war es ein Geschenk – eine Weise, wie Gott ihm half, sich seinem Schatten zu stellen und dessen Macht zu brechen. Paulus selbst beschreibt das Paradox, dass eine Schwäche ihm zur Stärke wird:
Dreimal habe ich deswegen zum Herrn gebetet und ihn angefleht, der Satansengel möge von mir ablassen. Doch der Herr hat zu mir gesagt: „Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung.“ Daher will ich nun mit größter Freude und mehr als alles andere meine Schwachheiten rühmen, weil dann die Kraft von Christus in mir wohnt. Ja, ich kann es von ganzem Herzen akzeptieren, dass ich wegen Christus mit Schwachheiten leben und Misshandlungen, Nöte, Verfolgungen und Bedrängnisse ertragen muss. Denn gerade dann, wenn ich schwach bin, bin ich stark. (2Kor 2,8-1).
Paulus schämte sich nicht für seinen Schatten. Er brüstet sich geradezu – durchaus angemessen – damit, weil er so durchlässig wird dafür, dass die Macht und das Leben Jesu durch ihn hindurchfließen.
Meine Erfahrung ist ganz ähnlich. Als ich erst einmal meine Schattenseiten erkannt hatte – meine Gier nach Anerkennung, meine Unaufrichtigkeit, meine Selbstzweifel im Blick auf mein Führungspotenzial –, konnte ich ihnen entschlossen etwas entgegensetzen. Ich beschloss, diesen Tendenzen in mir nicht mehr nachzugeben. Gegenüber ein paar Menschen, die mir nahestehen, benannte ich sie ganz konkret. Und ich führte mir alle Gaben und Stärken vor Augen, die Gott mir geschenkt hat, ähnlich wie David es gegenüber Saul und für sich selbst tat (1 Sam 17,36 f.). Ich erinnerte mich an alle kleinen Siege, die ich schon errungen hatte, und daran, wie oft ich Gottes Treue und Macht bereits erlebt hatte.
Außerdem suchte ich mir erfahrene Mentoren und Berater, die mir halfen, meine Schwachstellen zu verbessern – Personalfragen, Strategieplanung, Budgetplanung, das Management von großen Projekten usw. Das alles brauchte Zeit, die ich jetzt bewusst einplante. Es war ein mühsamer Prozess, sowohl für mich als auch für die Gemeinde, aber er hat die Dinge zum Besseren verändert. Immer wieder musste ich meine Hausaufgaben machen, bis mir die ungeliebten Aspekte meines Jobs leichterfielen. Und indem ich das tat, nahm die verborgene Herrschaft des Schattens in meinem Leben und meinem Führungsstil ab und wurde schließlich besiegt.8
Wir entdecken den Schatz, der sich im Schatten verbirgt
Durch den Propheten Jesaja verkündet Gott: „Die verborgenen Schätze und die versteckten Reichtümer gebe ich dir“ (45,3). Dieses Versprechen gilt auch uns, wenn wir die Dunkelheiten unserer Schattenseiten aufsuchen und zulassen, dass diese ungeliebten Seiten unserer Persönlichkeit zu Werkzeugen werden, die unseren Dienst für Gott bereichern. Das Leben von Abraham Lincoln ist dafür ein Zeugnis.
Lincoln hatte von Jugend an mit Depressionen zu kämpfen, zeitweilig war er selbstmordgefährdet und in seinen Zwanzigern und Dreißigern erlitt er mehrere Zusammenbrüche. Als Anwalt musste er mehr Niederlagen einstecken, als er Siege errang. Als er schließlich Präsidentschaftskandidat war, verlachte man ihn als Hinterwäldler und Schande für die Nation. In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft waren Rückschläge und gescheiterte Projekte Stoff für zynische Kommentare. Sein Lieblingssohn starb mit elf Jahren; Lincoln war am Boden zerstört. Am Ende des Bürgerkrieges (1865), den Lincoln mit zu verantworten hatte, gab es wohl keine Familie im Land, die keinen Toten zu beklagen hatte.
Trotzdem durchlief Lincoln in dieser Zeit eine erstaunliche persönliche und geistliche Entwicklung. Er verkündete öffentlich, dass Gott im Bürgerkrieg nicht Partei ergriff, dass der Krieg vielmehr eine Folge der Sünde der Sklaverei sei. Er rief nationale Gebetstage aus. Nach dem Ende des Krieges arbeitete er für die Versöhnung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern.
Wie war das möglich? Dazu schreibt ein Biograf:
Viele haben schon beschrieben, dass Lincoln gegensätzliche Eigenschaften in sich vereinigte. … er war unstetig, aber stark wie ein Drahtseil, das zwar im Sturm umhergeschleudert wird, aber sich hartnäckig bis zum Äußersten spannt … Lincoln hat Gegensätze nicht nur in sich vereint – Selbstzweifel und Vertrauen, Hoffnung und Verzweiflung –, er hat sie in sich versöhnt und so etwas Neues und Wertvolles hervorgebracht. Und hier liegt der Schlüssel für die kreative Art seiner Präsidentschaft – und zugleich eine Lektion für uns alle. Ein gutes Leben zu leben erfordert oft, dass wir ein Bündel von Kontrasten zu einem neuen Ganzen verbinden, das Bestand hat.9
Was immer Lincolns Schatten war, eines ist deutlich: Seine Bereitschaft, sich ihm rückhaltlos zu stellen und alle Anteile seiner Person zu integrieren, hat es ihm ermöglicht, seinem Land in Zeiten großer Gefahr und drohender Spaltung zu dienen und eine Nation zu führen. Er musste seine Gegner nicht verteufeln oder die Nation in Helden und Schurken einteilen. Er hatte gelernt, diese Spannung in sich selbst auszugleichen. Heute gilt er vielen als der größte Präsident, den die USA je hatten.
Wir sind nicht Abraham Lincoln, aber wir können ihm insofern folgen, als wir uns entscheiden, unserem Schatten nicht auszuweichen. Denn wir haben nur zwei Möglichkeiten: ihn so lange zu ignorieren, bis wir vor die Wand laufen und der Schmerz uns dazu zwingt, uns ihm zu stellen. Oder wir lassen es nicht erst so weit kommen und stellen uns unseren Schattenseiten. Wir können erkennen, welche Faktoren zu ihrer Entstehung beigetragen haben.
Vier Wege, sich dem Schatten zu stellen
In der Geschäftswelt ist es mittlerweile üblich, dass Firmen ihre Führungskräfte auf dem Feld emotionaler Intelligenz fortbilden, um die möglichen negativen Auswirkungen zu minimieren, die mangelnde emotionale Reife auf Unternehmen und Teams haben kann. Uns geht es hier aber um mehr als darum, mögliche negative Folgen zu minimieren. Uns geht es um eine dauerhafte innere Umgestaltung unserer Person, durch die Christus in uns Gestalt gewinnen kann, damit die Welt davon profitiert. Sind Sie bereit, dieses Ziel zu verfolgen? Vielleicht haben Sie noch ein paar Bedenken, aber wenn Sie zustimmen, werden Sie bereit sein, einen oder alle der folgenden Schritte zu tun.
1. Zähmen Sie Ihre Gefühle, indem Sie sie beim Namen nennen.
Neurowissenschaftler bestätigen heute: In einem Familienklima aufzuwachsen, in dem Gefühle nicht ausgedrückt werden, führt dazu, dass bestimmte Bereiche des Gehirns unterentwickelt bleiben. Die Fähigkeit, gut zu arbeiten und gut zu lieben, wird beeinträchtigt. Umgekehrt hat die Forschung dokumentiert, wie das Gehirn neu programmiert wird, wenn wir lernen, Gefühle zu benennen.
Sie können damit beginnen, indem Sie im Rahmen Ihrer Stillen Zeit Tagebuch führen und Ihre Gefühlslage aufschreiben. Fragen Sie sich im Gebet:
Was fühle ich gerade? Und was fühle ich im Blick auf das, was ich fühle?
Worüber bin ich traurig? Froh? Zornig? Was macht mir Angst?
Wo spüre ich Spannung oder Stress in meinem Körper (Schultern, Nacken, Magen …)? Was sagen mir diese Körperempfindungen darüber, was in mir vorgeht?
Nachdem ich Christ geworden war, habe ich siebzehn Jahre lang als Jesusnachfolger gelebt und meine Emotionen verdrängt – vor allem die schwierigen wie Ärger, Trauer oder Angst. Ich hielt sie sogar für Sünde – ein theologisches Missverständnis. Allein Jesus anzusehen, hätte mich eines Besseren belehren können.
Die oben genannte Übung wurde für mich entscheidend, denn sie half mir, meine verkümmerten „Gefühlsmuskeln“ wieder aufzubauen. Drei- bis viermal pro Woche nahm ich mir Zeit, mir meine Gefühlslage des vorangegangenen Tages bewusst zu machen. Je öfter ich dieses „Gefühlstraining“ durchlief, umso besser gelang es mir, auch meine jeweils aktuellen Gefühle wahrzunehmen. Ich fühlte mich freier und empfand mehr Frieden, denn ich brauchte Emotionen nicht mehr „unter dem Deckel zu halten“. Anfangs war es schwierig, auf meine Gefühle zu achten und sie zu identifizieren, aber mit zunehmender Übung wurde es für mich so selbstverständlich wie das Atmen.
Der nächste Schritt bestand darin, mich zu fragen: Warum fühle ich, was ich fühle? Etwa: Warum macht mich der Gedanke an eine Begegnung mit einem bestimmten Menschen zornig? Ist diese Person mir zu energisch? Habe ich Angst, ich gebe dem Druck nach, der von ihr ausgeht? Habe ich Angst, ich könnte eine unkluge Entscheidung treffen? Auch die Antworten darauf notierte ich mir. Hatte ich meine Emotionen erst einmal wahrgenommen und benannt und war mir auch über ihren Ursprung im Klaren, konnte ich entsprechende Verhaltensmaßnahmen planen, etwa die, eine Einladung freundlich abzulehnen, kritische Fragen zu stellen oder noch abzuwarten, um in einer Sache endgültig zu entscheiden.10
2. Wie wirkt sich Ihre Vergangenheit heute in Ihrem Leben aus? Erstellen Sie ein Genogramm.
Die Arbeit mit einem Genogramm ist eine der effizientesten Methoden, um den eigenen Schatten zu identifizieren und zu bearbeiten. Ein Genogramm veranschaulicht die Geschichte und Dynamik der wichtigsten Beziehungen in der eigenen Ursprungsfamilie über drei oder vier Generationen und den Einfluss, den diese Dynamik bis heute auf uns hat. Ungesunde Verhaltensmuster aus unserer Vergangenheit, die wir in unser Verhalten als Leitende heute mitschleppen, können deutlich werden. Als Beispiel hier das Genogramm meiner eigenen Familie:
In unserer Gemeinde hat sich eine Redensart durchgesetzt: „Jesus mag in deinem Herzen wohnen, aber Opa steckt dir in den Knochen.“ An meinem Genogramm zeigt sich das ganz deutlich: Die Großväter werfen lange Schatten über die nachfolgenden Generationen.
Unter anderem deswegen ist es wichtig, sich die Muster bewusst zu machen, die unsere Vorfahren auf uns übertragen haben, wenn wir uns unserem Schatten stellen wollen.
Ben war Buchhalter und Gemeindeleiter. Auffällig war, dass er in Gesprächen sehr rasch in Opposition ging. Wenn man ihn etwas fragte, klang die Antwort wie eine persönliche Kampferklärung – ob es nun um den Programmablauf fürs Kinderfest, die Ordnung im Büro oder eine exegetische Frage ging. Er wusste, dass er ein Problem hatte, aber wie es schien, konnte er sich nicht ändern. Irgendwann erstellte Ben ein Genogramm seiner Familie. Erst da ging ihm auf, warum jede Frage für ihn einen Angriff darstellte, vor allem dann, wenn sie von jemandem kam, der für ihn eine Autoritätsperson darstellte.
Ben war als Kind für jeden Fehler streng bestraft worden, selbst für die kleinsten Missgeschicke. Er hatte sehr früh gelernt, sich dagegen zu schützen, dass man ihm Irrtum oder Schwäche nachweisen konnte. Nachdem Ben das erkannt hatte, war er in der Lage, seinen Tonfall zu ändern.
Die Arbeit mit dem Genogramm ist für Geri und mich und viele andere bahnbrechend geworden. Das Genogramm führt uns über das reine Verständnis oder die Ebene der Motivation hinaus und ermöglicht uns, in der Praxis Dinge anders zu machen. Ich empfehle deshalb jedem, ein eigenes Genogramm zu erstellen.11
3. Identifizieren Sie Negativ-Skripte, die Sie übernommen haben