Читать книгу Emotional gesund leiten - Peter Scazzero - Страница 8

Оглавление

1

Der emotional unreife Leiter

Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an einen emotional unrei fen Führungsstil denken? Oder besser: Wer fällt Ihnen zuerst ein? Ist es ein Vorgesetzter, ein Kollege, jemand aus Ihrem Team? Oder vielleicht sogar Sie selbst? Wie würden Sie eine emotional unreife Person beschreiben? Ist das jemand, der chronisch jähzornig ist? Oder aggressiv und kontrollierend? Oder eher jemand, der zögerlich, nicht authentisch und passiv ist? Ein emotional unreifer Führungsstil kann all das und noch viel mehr umfassen. Die grundlegende Definition ist vielleicht einfacher und zugleich facettenreicher, als man vermuten würde:

Der emotional unreife Leiter handelt aus einem andauernden emotionalen und spirituellen Defizit heraus. Es fehlt ihm an einer in Gott gegründeten Persönlichkeit, aus der sich sein Tun für Gott speisen könnte.

Emotionale und spirituelle Defizite beeinflussen nahezu jeden anderen Aspekt des Lebens. Unreife Leiter sind zum Beispiel nicht im Kontakt mit ihren Gefühlen, ihren Schwächen und Grenzen. Sie sind sich nicht bewusst, wie ihre Vergangenheit sich auf ihr gegenwärtiges Verhalten auswirkt und wie sie auf andere wirken. Ihnen fehlen die Fähigkeit oder entsprechende Techniken, um die Gefühle und Sichtweisen anderer mitempfinden oder nachvollziehen zu können. Und diese Defizite tragen sie in ihre Teams und in alles, was sie tun, hinein.

Die Folge ist, dass emotional unreife Leiter sich durchmogeln, wenn sie eigene Werke aufbauen. Um mit dem Apostel Paulus zu sprechen: Statt mit soliden und dauerhaften Materialien zu bauen – Gold, Silber und Edelsteine (1 Kor 3,10-15) –, begnügen sie sich mit Holz, Stroh und Lehm. Sie bauen mit minderwertigem Material, das sie selbst nicht überdauern wird, ganz zu schweigen vom letzten Gericht. Und so verdunkeln sie den Glanz Gottes und seine Herrlichkeit, die sie doch nach ihren eigenen Worten der ganzen Welt verkünden wollen. Das tut niemand, der irgendwo eine Leitungsfunktion wahrnimmt, bewusst. Und doch passiert es immer und überall.

Sehen wir uns ein paar Beispiele an, wie das konkret aussieht.

Sarah ist verantwortlich für die Jugendarbeit in der Gemeinde. Sie ist überfordert. Aber sie bringt es nicht fertig, erwachsene Ehrenamtliche zu gewinnen, die sie unterstützen und die Reichweite der Arbeit vergrößern könnten. Sie verfügt durchaus über Führungsqualitäten, aber sie ist defensiv und leicht gekränkt, wenn andere eine andere Meinung haben als sie. Die Jugendarbeit stagniert und es geht sogar langsam bergab.

Josef ist Lobpreisleiter. Er ist ein dynamischer Typ, aber er ist sehr spontan und häufig unpünktlich und dadurch verliert er immer wieder wichtige Band-Mitglieder. Er erkennt nicht, dass das, was er seinen „Stil“ nennt, Menschen abschreckt, die ein anderes Temperament haben. Er glaubt, er sei „authentisch“, und steht dazu, dass er eben so ist. Er ist nicht bereit, anderen und deren Bedürfnissen entgegenzukommen. Kaum verwunderlich, dass die Qualität der Musik und der Anbetung im Gottesdienst immer mehr abnimmt.

Martin leitet als Ehrenamtlicher die Kleingruppenarbeit seiner Gemeinde. Seitdem ist diese Arbeit aufgeblüht – in den letzten Monaten sind drei neue Gruppen entstanden. 25 bisher kirchenferne Menschen treffen sich 14-tägig, um mehr über den Glauben zu erfahren. Aber unter der glänzenden Fassade gibt es Risse. Der Leiter der Kleingruppe, die am schnellsten gewachsen ist, führt den Kreis in eine andere Richtung als die, die die Gemeinde vorgibt und ansteuert. Martin ist beunruhigt, aber er vermeidet es, das Problem anzusprechen, aus Angst, dass das Gespräch schwierig werden könnte. Ein anderer Hauskreisleiter hat durchblicken lassen, dass er familiäre Probleme hat. In einer anderen Gruppe gibt es Vielredner, die andere aus der Gruppe vergraulen, und der Leiter hat Martin um Unterstützung gebeten. Aber Martin geht einem Gespräch aus dem Weg. Er ist konfliktscheu und hofft, dass die Dinge sich irgendwie von selbst lösen werden. Nach sechs Monaten sind drei der vier neuen Hauskreise eingeschlafen.

Vier Kennzeichen eines emotional unreifen Leiters

Die Defizite emotional unreifer Leiter beeinträchtigen praktisch jeden Bereich ihres Lebens und ihrer Führungsverantwortung. In den folgenden vier Bereichen wirken sie sich aber besonders unheilvoll aus.

1. Geringes Maß an Selbstwahrnehmung

Emotional unreife Leiter sind sich in der Regel nicht darüber im Klaren, was in ihnen selbst vorgeht. Und selbst wenn sie eine starke Emotion wie etwa Zorn wahrnehmen, wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen oder wie sie sie ehrlich und auf angemessene Weise zum Ausdruck bringen können. Sie ignorieren Körpersignale, die eine Gefühlsbotschaft tragen – Erschöpfung, Krankheit, die auf Stress beruht, Gewichtszunahme, Kopfschmerzen oder Depression. Sie erkennen nicht, dass Gott ihnen durch diese „schwierigen“ Gefühle vielleicht etwas sagen möchte. Meist fällt es ihnen schwer, Auslöser für eine emotionale Überreaktion zu erkennen und zu sehen, wie ihr Verhalten heute mit schwierigen Erfahrungen in der Vergangenheit zusammenhängen könnte.

Oft haben sie Persönlichkeitsmodelle mit Gewinn durchgearbeitet (etwa den Briggs-Myers-Typenplan, das Enneagramm oder das DISG-Modell). Aber wie ihr Verhalten mit den Mustern der eigenen Ursprungsfamilie zusammenhängt, bleibt ihnen meist verborgen. Das fehlende Bewusstsein für die eigenen Emotionen führt auch dazu, dass sie die emotionale Welt anderer oft nur schwer oder gar nicht verstehen und nachempfinden können. Oft sind sie blind dafür, wie ihre eigenen emotionalen Defizite sich darauf auswirken, wie andere sie wahrnehmen, ganz besonders in ihrer Rolle als Führungspersonen.

2. Dienst erscheint wichtiger als der private Lebenskontext

Egal, ob verheiratet oder nicht, die meisten emotional unreifen Leiter würden zustimmen, dass es wichtig ist, in guten und vertrauten Beziehungen zu leben, in denen man Intimität erfahren kann. Aber nur wenige haben eine Vorstellung davon, dass ihre Ehe oder ihr Singledasein die größte Gabe sein könnte, die sie in ihren Dienst für andere einbringen können. Viele betrachten ihre Ehe oder ihr Singleleben vielmehr als ein wichtiges und stabiles Fundament für etwas noch Wichtigeres – nämlich die Aufgabe, ein funktionierendes Werk oder Unternehmen oder eine attraktive Gemeinde aufzubauen. Das ist ihre oberste Priorität. Und so investieren sie den größten Teil ihrer Zeit und Kraft, um eine bessere Führungskraft zu werden, aber nur wenig, um eine gute Ehe zu führen oder ein eheloses Leben so zu gestalten, dass darin etwas davon deutlich wird, was die Liebe Jesu bedeuten kann.

Emotional unreife Leiter neigen dazu, ihr Privatleben – Ehe oder Single-Dasein – abzuspalten, sowohl von ihrer Führungsrolle als auch von ihrer Beziehung zu Jesus. So treffen sie etwa weitreichende Führungsentscheidungen, ohne zu berücksichtigen, wie sich diese langfristig auf die Qualität und Integrität ihrer Ehe oder ihres Lebens als Single auswirken. Sie verausgaben ihre besten Kräfte, Gedanken und kreativen Anstrengungen, um andere zu führen, aber sie investieren nichts, um ein erfüllendes und glückliches Leben in der Ehe oder Ehelosigkeit zu führen.

3. Mehr für Gott tun, als die tatsächliche Beziehung zu Gott zu tragen vermag

Emotional unreife Leiter sind chronisch überfordert. Obwohl sie ohnehin schon viel zu viel zu tun und für alles zu wenig Zeit haben, sagen sie reflexartig Ja zu jeder sich bietenden neuen Gelegenheit, aktiv zu werden. Sie nehmen sich aber nicht die Zeit, im Gebet danach zu fragen, was wohl Gottes Wille in dieser Sache ist. Die Vorstellung, sie könnten ihr geistliches Leben – oder die Art, wie sie führen – entschleunigen, damit das, was sie für Jesus tun, aus einem in Jesus gegründet Sein erwächst, ist ihnen fremd. Zeiten des Alleinseins oder Schweigen gelten ihnen als Luxus, keineswegs als zentrale geistliche Übung und schon gar nicht als unverzichtbar für wirksames Führen. Ihre oberste Priorität ist ihre Führungsaufgabe in ihrer Organisation, ihrem Team oder Dienstbereich in der Gemeinde, denn damit wollen sie ja die Welt für Christus gewinnen. Fragte man solche Leiter nach ihren drei Hauptprioritäten, nach denen sie ihre Zeit einteilen, wäre der Punkt: „eine tiefe, das Leben formende Beziehung zu Jesus zu pflegen“ wohl kaum darunter. Und so verwundert es nicht, dass der Normalzustand in ihrem Leben und ihrem Führungsstil von Abspaltung und Erschöpfung und Substanzverlust gekennzeichnet ist.

4. Fehlender Rhythmus von Arbeit und Ruhe

Emotional unreife Leiter kennen keine Sonntagspraxis – keinen Ruhetag: vierundzwanzig Stunden in jeder Woche, die nur dazu da sind, die Arbeit liegen zu lassen, sich zu erholen, Gottes gute Gaben zu genießen und sich an ihm und am Leben überhaupt zu freuen. Das Sabbatgebot, so zentral im Alten Testament, erscheint ihnen irrelevant, nicht verbindlich oder sogar als lästige Gesetzlichkeit, die in längst vergangene Zeiten gehört. Oder sie unterscheiden nicht zwischen dem biblisch gebotenen Sabbatfeiertag und einem „freien Tag“, an dem man Dinge erledigt wie Einkaufen, Überweisungen ausschreiben und die Steuererklärung machen. Für sie steht an erster Stelle, dass sie alle Aufgaben erledigen und hart genug arbeiten, um sich einen freien Tag zu „verdienen“.

André ist sechsundfünfzig. Er leitet einen Gemeindeverband, zu dem mehr als sechzig Gemeinden gehören, für die er verantwortlich ist. Er hat schon seit etlichen Jahren nicht mehr richtig Urlaub gemacht – einen Urlaub ohne E-Mails oder telefonische Erreichbarkeit. Ein wöchentlicher Ruhetag liegt völlig außerhalb seiner Vorstellungen. Bei einem Treffen mit einem Freund – das er vor der nächsten Sitzung noch in den Terminkalender gequetscht hat – ergibt sich folgendes Gespräch.

„André, du siehst ein bisschen fertig aus“, sagt Ralf. „Wann hast du zuletzt mal einen Tag nicht gearbeitet?“

„Ausruhen können wir im Himmel“, erwidert André. „Gott schläft und schlummert doch schließlich auch nicht, oder? Und wir sind seine Mitarbeiter.“

Aber es ist offensichtlich, dass er zutiefst erschöpft ist.

„Ich weiß ja, dass du deine Arbeit liebst“, bemerkt Ralf. „Aber gibt es sonst noch etwas in deinem Leben, das dir richtig Freude macht?“

Es entsteht eine Pause. Schließlich nickt André. „Es ist schon endlos her, dass ich Zeit gehabt habe, darüber auch nur nachzudenken. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Wieder ein langes Schweigen. „Aber was soll ich machen? Alle Kollegen in vergleichbaren Positionen arbeiten genauso viel.“

„Und das ist eine Entschuldigung?“, hakt Ralf nach.

„Du hast recht“, antwortet André lächelnd. „Ich werde versuchen, mir den Montag wieder freizuhalten.“

Eine Stunde später brütet André über seinem Kalender. Fünf von sechs Montagen in den nächsten sechs Wochen sind bereits verplant. Wem will ich eigentlich etwas vormachen?, denkt er. Ein regelmäßiger freier Tag? Das ist nicht zu machen. Ich muss dann einen einlegen, wenn die Termine es erlauben. Aber die Chancen stehen gut, dass die Termine es nie erlauben werden. Und der gelegentliche freie Tag alle paar Wochen reicht nicht aus, um einen gesunden Rhythmus von Arbeit und Ruhe zu etablieren. Den aber braucht André, um seine Leitungsaufgabe effektiv wahrzunehmen und selbst gesund zu bleiben.

Wer Ihnen beim Stichwort „emotional unreifer Führungsstil“ einfällt, habe ich anfangs gefragt. Treffen die vier genannten Kennzeichen das, was Ihnen da zuerst durch den Kopf ging? Oder haben Sie sich vielleicht sogar selbst wiedererkannt? Ja, das meiste davon leuchtet mir ein, denken Sie vielleicht. Oder auch: Das bringen Führungspositionen eben so mit sich. Ich kenne Leute, die noch viel mehr Defizite haben und trotzdem gute Führungsleute sind. Es stimmt: Nichts von dem, was ich genannt habe, klingt übermäßig dramatisch. Aber im Lauf der Zeit werden Leiter mit den genannten Defiziten nicht nur persönlich einen hohen Preis zahlen, wenn sie nichts dagegen unternehmen; auch ihre Organisationen werden leiden.

Die Langzeitfolgen einer unreifen Leitung sind eine Bedrohung für die Gesundheit der Leiter und für die Wirksamkeit der Gemeinde und Kirche. Wenn wir uns darauf einigen können, müssen wir als Nächstes fragen: Warum halten wir so beharrlich an ungesunden Mustern fest? Man sollte doch erwarten, dass jeder, der in der Kirche mitarbeitet, eine gesunde Führungskultur befürwortet und alles dafür einsetzt, eine solche zu etablieren. Aber in der Realität ist es anders. Ja, man muss sogar sagen: Es gibt Aspekte in der Führungskultur in Kirche und Gemeinden, die diesem Ziel aktiv entgegenwirken. Wenn Sie sich entschließen, ganz bewusst emotional gesunde Strukturen in Ihrem Führungsstil zu etablieren, müssen Sie mit einigem Widerstand aus den eigenen Reihen rechnen. Sie werden mit dem zu kämpfen haben, was ich die „Vier giftigen Gesetze für Gemeindeleiter“ genannt habe.

Selbsteinschätzung: Wie gesund ist mein Führungsstil?

Emotionale Unreife bei Leitern ist keine Frage von ganz oder gar nicht; es gibt auch hier Abstufungen und in unterschiedlichen Situationen auch Veränderungen. Die Liste der folgenden Aussagen gibt Ihnen eine Vorstellung davon, wo Sie momentan selbst stehen. Notieren Sie neben jeder Aussage unten Ihre Einschätzung für sich selbst nach folgendem Schema.

5 – Trifft immer zu

4 – Trifft häufig zu

3 – Trifft gelegentlich zu

2 – Trifft selten zu

1 – Trifft nie zu

_____ 1. Ich nehme mir ausreichend Zeit, um schwierige Gefühle wie Ärger, Angst und Traurigkeit zuzulassen, zu spüren und zu bearbeiten.

_____ 2. Ich kann sehen, wie Verhaltensmuster aus meiner Ursprungsfamilie meine Beziehungen heute und mein Führungsverhalten beeinflussen – sowohl positiv wie negativ.

_____ 3. (Für Ehepartner) In der Weise, wie ich meine Kraft und meine Zeit einsetze, zeigt sich, dass meine Ehe – nicht meine Führungsaufgabe – für mich oberste Priorität hat.

_____ (Für Singles) In der Weise, wie ich meine Kraft und meine Zeit einsetze, zeigt sich, dass ein gesundes Leben als Single – nicht meine Führungsaufgabe – für mich oberste Priorität hat.

_____ 4. (Für Ehepartner) Ich erlebe einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Einssein mit Jesus und dem Einssein mit meinem Partner/meiner Partnerin.

_____ (Für Singles) Ich erlebe einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Einssein mit Jesus und einer engen Verbundenheit mit Freunden und mit meiner Familie.

_____ 5. Egal, wie viel ich zu tun habe, ich nehme mir regelmäßig Zeiten des Alleinseins und Schweigens. Das gehört zu meiner normalen Glaubenspraxis.

_____ 6. Ich nehme mir regelmäßig Zeit zum Bibellesen und Beten, um selbst Gemeinschaft mit Gott zu erleben – nicht nur, um einen Einsatz für andere vorzubereiten.

_____ 7. Ich halte wöchentlich einen Ruhetag – vierundzwanzig Stunden, in denen ich nicht arbeite, mich erhole, mich an den vielen guten Gaben Gottes freue.

_____ 8. Den Feiertag zu halten (heiligen), ist entscheidend – sowohl für mein persönliches Leben als auch für meinen Führungsstil.

_____ 9. Ich nehme mir ausreichend Zeit, vor neuen Planungen oder Entscheidungen im Gebet nach dem Willen Gottes in der entsprechenden Angelegenheit zu suchen.

_____ 10. Ich messe den Erfolg meiner Planungen und Entscheidungen vor allem daran, inwiefern ich Gottes Willen erkannt und umgesetzt habe (und nicht nur an Zahlen wie Gottesdienstbesuch, Vielfalt der Aktivitäten in der Gemeinde oder Spendenaufkommen).

_____ 11. Den Menschen, deren Vorgesetzte(r) ich bin, widme ich regelmäßig Zeit, in der es darum geht, wie ihr Glaubensleben gefördert werden kann.

_____ 12. Schwierigen Gesprächen mit Mitarbeitern über inakzeptables Verhalten oder mangelnde Leistung weiche ich nicht aus.

_____ 13. Es macht mir nichts aus, im Blick auf meine Rolle und die anderer klar über Machtstrukturen zu sprechen.

_____ 14. In Beziehungen, die einen Rollenkonflikt beinhalten, habe ich gesunde Grenzen formuliert und kommuniziert (etwa wenn Freunde gleichzeitig Kollegen sind, Familienmitglieder ehrenamtlich mitarbeiten u. Ä.).

_____ 15. Statt Abschiede und Verluste zu vermeiden, gestalte ich sie bewusst. Sie gehören für mich ganz natürlich dazu, wenn Gott unter uns wirkt.

_____ 16. Ich bin in der Lage, nach reiflicher Überlegung und Gebet, Ideen, Mitarbeiter oder Initiativen aufzugeben, die sich nicht bewähren, und ich kommuniziere das deutlich und mit Empathie.

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um Ihre Antworten zu reflektieren. Was fällt Ihnen als Erstes oder ganz besonders auf? Es gibt zwar keine exakten Werte für die Auswertung dieses Selbsteinschätzungstests. Aber am Ende des Kapitels (siehe hier) finden Sie ein paar allgemeine Hinweise, die Ihnen helfen, besser zu verstehen, wo Sie momentan stehen.

Egal, wo Sie sich wiederfinden, es gibt eine gute Nachricht: Sie können von dort weitergehen. Sie können dazulernen und ein immer besserer und emotional erwachsener Leiter werden. Und das gilt auch noch in fortgeschrittenem Alter. Wir sind auf Veränderung und Wachstum hin angelegt – lebenslang. Lassen Sie sich also nicht entmutigen, falls das Ergebnis ernüchternd ausfällt. Wenn jemand wie ich trotz aller Fehler und gescheiterten Initiativen dazulernen und weiter wachsen konnte, dann kann jeder andere es auch. Wir können uns auf den Weg machen in Richtung emotionaler Reife – und damit auch bessere Führungspersonen werden.1

Vier (unausgesprochene) giftige Gesetze für Gemeindeleiter

Jede Familie hat ihre eigenen „Gesetze“: unausgesprochene Regeln, die bestimmen, was man sagen oder tun darf und was nicht. Als Kinder nehmen wir diese Gesetze unbewusst auf und befolgen die Regeln, nach denen man in unserer Familie das Leben gestaltet. Wenn in unserer Familie Wärme, Sicherheit und gegenseitiger Respekt prägend sind, dann nehmen wir diese Qualitäten in uns auf wie die Luft, die wir atmen. Sie prägen unser Bild von uns selbst und die Weise, wie wir mit der Welt in Kontakt treten. Beherrschen dagegen Kälte, Beschämung, Herabsetzung oder Perfektionismus das Familienklima, nehmen wir ganz automatisch diese Eigenschaften in uns auf und dann prägen eben diese unser Selbstbild und unseren Umgang mit anderen.

Dasselbe gilt auch für die Gemeindefamilie, in die wir hineingeboren werden oder später hineinfinden. Auch hier gibt es jeweils eigene, oft unausgesprochene und nicht selten giftige Gesetze. Auch im Blick darauf, wie man eine Gemeinde leiten muss. Jeder, der einen emotional gesunden Leitungsstil praktizieren möchte, wird früher oder später einem oder mehreren dieser giftigen „Gesetze“ die Stirn bieten müssen.

Giftiges Gesetz Nr. 1: Erfolg = größer, mehr, besser

Die meisten von uns haben gelernt, Erfolg an externen Daten zu messen. Im Gemeindekontext bedeutet das: Wir messen Erfolg an Faktoren wie Zahl der Gottesdienstbesucher, Anzahl der Taufen, Gemeindemitgliederzahlen, Anzahl der ehrenamtlich Mitarbeitenden, Anzahl der Kleingruppen und Angebote, Spendenaufkommen. Und um das vorab klarzustellen: Zahlen sind nicht an sich verkehrt. Sie sind sogar biblisch. Jesus hat geboten, alle Völker zu Jüngern zu machen. Die Apostelgeschichte nennt häufig Zahlen, um zu zeigen, welch große Wirkung das Evangelium entfaltet hat (Apg 2,41; 4,4; 5,14 u. a.). Und natürlich wünsche ich mir ebenso wie jeder andere Pastor, den ich kenne, dass unsere Gemeinden wachsen und mehr Menschen für Christus gewonnen werden.

Aber auch das muss klar sein: Man kann auch falsch mit Zahlen umgehen. Wenn wir sie nur dazu nutzen, um uns mit anderen zu vergleichen oder mit der Gemeindegröße zu protzen, haben wir die kritische Linie überschritten.

Als König David Joab beauftragt, alle waffenfähigen Männer in Israel zu zählen, sind die Folgen für ihn als Staatsoberhaupt katastrophal. Stolz verleitet David, sich nicht auf Gott zu verlassen, sondern auf die Größe seiner Armee. Er sieht nur noch Zahlen – und das ist Götzendienst. Gottes Gericht besteht darin, dass er Israel mit einer Seuche schlägt (1 Chr 21, 2 Sam 24). Siebentausend Menschen sterben.

Für die Welt ist zahlenmäßiges Wachstum gleichbedeutend mit Macht und Bedeutung. Es ist ein absolutes Gesetz – mehr ist immer besser. Im Blick auf das Verhältnis der Gemeinde zu Zahlen ist das Problem nicht, dass wir Zahlen erheben, sondern dass wir uns das Urteil der Welt so sehr zu eigen gemacht haben, dass nur noch Zahlen zählen. Eine Sache, die nicht wächst oder qualitativ besser wird, gilt als gescheitert. Oder wir betrachten uns selbst als Versager. Was bei dieser Fixierung auf Zahlen verloren geht, ist das Bewusstsein für die internen Kriterien, die in der Bibel eine Rolle spielen. Was in den Augen der Welt als Scheitern gilt, muss im Reich Gottes überhaupt kein Scheitern sein.

Jesus hatte überwältigenden Erfolg, wenn man es in Zahlen ausdrücken will. 5000 Menschen wollten hören, was er zu sagen hatte, und er speiste sie alle (Joh 6). Aber nur ein paar Verse später folgt – wenn es nur nach den Zahlen geht – der krasse Absturz: „Von da an zogen sich viele seiner Jünger von ihm zurück und begleiteten ihn nicht mehr.“ Was tat Jesus? Er hinterfragte nicht händeringend seine Predigtstrategie; er begnügte sich damit zu wissen, dass er im Einklang mit dem Willen des Vaters stand. Er hatte eine umfassendere Perspektive, nämlich den Blick dafür, was Gott tun wollte.

Erfolg besteht nicht immer in „mehr“ und „besser“.

Jesus lehrt uns etwas anderes. Wir sollen in ihm bleiben und so Frucht bringen (Joh 15,1-8). Es geht nicht um ein Entweder-oder – viel Frucht bringen oder in Jesus bleiben. Wie dieses Bleiben und Fruchtbringen aussieht, wird sich je nach der Berufung des Einzelnen unterscheiden. Mönche, die den Großteil ihrer Zeit im Gebet oder mit geistlicher Begleitung anderer verbringen, werden eine andere Art und Menge an Frucht bringen als ich als Pastor einer Gemeinde mitten in der Großstadt New York.

Vielleicht der beste Bibeltext zum Thema ist Lukas 10. Jesus sendet 72 Jünger aus, jeweils zu zweit. Sie kommen zurück und sind begeistert über ihren Erfolg und darüber, dass die Dämonen ihnen im Namen Jesu gehorchen müssen. Jesus bestätigt sie in ihrem Wirken für das Reich Gottes, aber er erinnert sie auch daran, was noch wichtiger ist: „Doch nicht darüber sollt ihr euch freuen, dass euch die Geister gehorchen. Freut euch vielmehr, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind“ (Lk 10,20). Mit anderen Worten: Er will, dass sie wissen, was wirklich Grund zur Freude ist: Das ist die Beziehung zu ihm, nicht ihr Einsatz für ihn.

Wie verweigern wir uns dem Gesetz „Größer ist besser“?

Ich glaube, es gibt nur einen Weg: Wir müssen unser Leben neu ordnen. Wir müssen es entschleunigen, damit Raum ist für eine tiefe, liebende Verbundenheit mit Jesus (mehr dazu in Kapitel 4). Und wir brauchen einige wenige Begleiter, denen wir voll und ganz vertrauen, die uns davor bewahren, uns selbst zu betrügen.

Giftiges Gesetz Nr. 2: Tun ist wichtiger als sein.

Was wir tun, hat Gewicht – bis zu einem bestimmten Punkt. Ob Sie Kirchenvorsteher, Pastor, Hauskreisleiterin, Leiter des Worship-Teams, Kindergottesdienstmitarbeiterin oder Chefin eines Unternehmens sind, die Kompetenzen und Fähigkeiten, die Sie in diese Aufgabe einbringen, sind entscheidend. Und hoffentlich setzen Sie alles daran, Ihre Qualifikationen auszubauen, um so effektiv wie möglich zu arbeiten.

Aber wichtiger als das, was Sie tun, ist etwas anderes: wer Sie sind. Warum? Weil die größte Gabe, die Sie anderen weitergeben können, die Liebe Jesu ist, die in Ihnen wohnt. Mehr als durch das, was Sie tun, werden Sie Menschen immer dadurch erreichen, wer Sie als Person sind – und wie stark die Liebe Jesu aus Ihnen spricht. Ob Sie aus der Beziehung zu Gott leben, wird letzten Endes viel wichtiger sein als das, was Sie für Gott tun.

Wir können nichts geben, was wir nicht haben. Wir können nicht anders helfen, als indem wir geben, was wir besitzen.

Wenn wir das, was wir verkündigen, nicht selbst durchlebt haben und daran gewachsen sind und es uns nicht verändert hat, wird das geistliche Wachstum der Menschen, denen wir dienen wollen, gehemmt. Ich sage nicht, dass es überhaupt kein Wachstum geben wird. Nur eben nicht viel. Und ich weiß, wovon ich rede.

Die ersten Jahre meines Dienstes als Pastor waren dadurch gekennzeichnet, dass ich Dinge gepredigt habe, die ich nicht selbst durchgestanden und reflektiert hatte. Ich nahm mir einfach nicht die Zeit dafür. Ich dachte: Wie kann man in einer leitenden Position alles, was man da jede Woche anderen weitergeben soll, selbst innerlich verarbeiten und noch Zeit haben für das Alltagsgeschäft eines Hauptpastors? Ich habe nicht genug an meiner eigenen inneren Entwicklung gearbeitet. Ich habe nicht in Betracht gezogen, welche Prägungen meiner Ursprungsfamilie ich mit in meine Aufgabe als Hauptpastor einer Gemeinde gebracht hatte. Ich war nicht bereit, Zeit zu investieren, um einen erfahreneren Mentor oder Seelsorger zurate zu ziehen, nicht bereit, anzuschauen, was da unter der Oberfläche schlummerte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, eine Gemeinde zu gründen und dafür zu sorgen, dass sie funktionierte. Ich dachte: Solange ich meine Gaben für Gott einsetze und es irgendwelche sichtbaren Früchte gibt, ist alles in Ordnung – auch wenn ich selbst mich im Chaos und getrieben fühlte.

Das war falsch.

Es lässt sich nicht leugnen: Meine innere Realität spiegelte sich exakt in dem, was ich nach außen tat. Wie auch nicht? Ich war blind für etwas Entscheidendes: Wer ich als Person vor Gott bin, das ist viel wichtiger als das, was ich für Gott tue.

Bevor Jesus irgendetwas in der Öffentlichkeit tut, sorgt er für eines: Er vergewissert sich, dass der Vater ihn liebt. Das ist die Wurzel, aus der er lebt. Dreißig Jahre lang tut Jesus nichts, was irgendwie Beachtung verdient hätte. Und doch sagt Gott zu ihm, bevor er in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Freude“ (Lk 3,22).

Um dieses Gegenüber von Tun und Sein geht es in den drei Versuchungen, mit denen der Satan Jesus nach seinem vierzigtägigen Fasten konfrontiert (Mt 4,1-11). Zwei der drei Einflüsterungen Satans beginnen mit den Worten: „Wenn du Gottes Sohn bist … [tu dies und das].“ Beim dritten Anlauf versucht Satan, Jesus zu bestechen, damit „du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest“. Der Böse ist darauf aus, dass Jesus sein Leben und sein Wirken darauf gründet, was er tut, nicht darauf, wer er ist. Und ich bin überzeugt: Dieselbe Versuchung präsentiert Satan bis heute jedem, der in der Gemeinde Gottes Leitungsverantwortung hat. Wenn wir ihr erliegen, werden wir Hals über Kopf in Projekte einsteigen, die Gott nie von uns erwartet. Und je länger je mehr werden wir die Verbindung zur Liebe des Vaters verlieren.

Was können wir tun, um dem Einfluss dieses verhängnisvollen giftigen Gesetzes nicht zu erliegen? Sprechen Sie mir nach – laut: Was ich tue, ist nicht unwichtig. Aber viel wichtiger ist, wer ich bin. Jesus hatte eine oberste Priorität: seine Gemeinschaft mit dem Vater. Der Sohn zu sein. Das weist darauf hin, worauf wir achten müssen: Gibt es Anzeichen dafür, dass ich mehr für Gott tue, als es meiner Beziehung zu ihm wirklich entspricht? Hinweise, dass es so ist, können z. B. sein: Unruhe, Reizbarkeit, ständiges Sich-Getrieben-Fühlen … Sorgen Sie dafür, dass eines klar ist: Oberste Priorität ist es, jeden Tag Gottes Gegenwart zu suchen und nach seinem Willen zu fragen.

Giftiges Gesetz Nr. 3: Oberflächliche Spiritualität ist okay.

Jahrelang habe ich von Annahmen gelebt. Ich nahm an, dass jeder, der zum Gottesdienst kam und die Bibel und ihre Botschaft kennenlernte – ob nun bei uns oder in anderen Gemeinden – eine Veränderung erleben würde. Ich nahm an, dass unsere begabtesten Lobpreisleiter in ihrem persönlichen Leben ebenso große Leidenschaft für Christus an den Tag legten, wie sie es vor der Gemeinde taten. Ich nahm an, dass jede Pastorin, Gemeindemitarbeiterin, jeder Missionar, Kirchenvorstand oder Bischof regelmäßig etwas dafür tut, die eigene Beziehung zu Jesus zu vertiefen.

Diese Annahmen waren falsch.

Heute lebe ich nicht mehr von Annahmen. Heute frage ich nach.

Ich frage meine leitenden Mitarbeiter und andere Menschen in Leitungsfunktionen danach, was sie tun, um ihre Beziehung zu Gott lebendig zu erhalten. Ich frage etwa: „Erzähl mir was über deinen Tagesablauf. Wie oft nimmst du dir Zeit zum Bibellesen – nur für dich, nicht, um eine Veranstaltung vorzubereiten? Wie viel Zeit hast du allein mit Gott?“ Ich frage danach, wie jemand seine Stille Zeit gestaltet. Je häufiger ich Pastoren und christlichen Führungsleuten in der ganzen Welt diese Fragen stelle, umso besorgter werde ich. Denn die meisten haben keine guten Antworten.

Das Problem ist in den allermeisten Fällen dasselbe: Solange jemand seinen Job macht, ob nun hauptberuflich oder ehrenamtlich, sind alle zufrieden. Wenn die Arbeit floriert, sind wir begeistert. Denn wer sind wir schließlich, dass wir beurteilen könnten, ob die Christusbeziehung eines anderen oberflächlich ist oder zu wünschen übrig lässt? Ja, es stimmt, wir wollen nicht richten. Aber wir wollen urteilsfähig sein. Dass wir die Gaben und Fähigkeiten haben, um Leute anzuziehen und jede Menge Aktivitäten zu entwickeln, heißt noch nicht, dass die Gemeinde oder das Werk, das wir aufbauen, Menschen in eine enge Beziehung zu Jesus bringt.

Gottes Auftrag an Samuel (1 Sam 16,7) gibt mir in dieser Hinsicht zu denken: „Der Herr sprach zu Samuel: … ,Ich urteile nach anderen Maßstäben als die Menschen. Für die Menschen ist wichtig, was sie mit den Augen wahrnehmen können; ich dagegen schaue jedem Menschen ins Herz.‘“ Mit anderen Worten: Es kann uns nicht nur um die äußeren Fakten gehen. Es muss uns um das Herz gehen. Zuallererst um unser eigenes.

Schauen wir in die Geschichte. Im siebten Jahrhundert gab es in Arabien und Nordafrika blühende Gemeinden mit einer reichen Geschichte und Tradition, die bis ins erste Jahrhundert zurückreichte. Sie waren theologisch gebildet, verfügten über weithin bekannte Gemeindeleiter und Bischöfe und übten einen beträchtlichen Einfluss auf die Kultur ihrer Umwelt aus. Und doch gelang es dem Islam in sehr kurzer Zeit, das Christentum in dieser Gegend zurückzudrängen. Die meisten Kirchenhistoriker sind sich darin einig, dass es diesen Gemeinden an geistlichem Tiefgang fehlte und sie deshalb nicht in der Lage waren, der neuen Religion etwas entgegenzusetzen. In den Gemeinden stritt man sich um relativ unwichtige dogmatische Spitzfindigkeiten und war nicht mehr bereit, auch in dem Mitchristen, der eine andere Auffassung vertrat, Christus zu erkennen. Auch hatte man es versäumt, die Bibel ins Arabische, in die Sprache des Volkes zu übersetzen. So kam es, dass die Kirchen zwar voll waren und das Spendenaufkommen stabil, aber die Menschen waren nicht in Jesus gegründet. Weil die Gemeinden kein solides geistliches Fundament hatten, zerbrachen sie angesichts eines kämpferischen, intoleranten Islam erschreckend schnell.

Wie können wir der Verlockung dieses giftigen Gesetzes widerstehen?

Indem wir entschleunigen. Indem wir lernen – zum Beispiel von der kontemplativen Tradition. Von den Schriften der Kirchenväter und -mütter. Und von der ganzen weltweiten Kirche. Von Christen, die vielleicht in mancher Hinsicht anders sind als wir, von denen wir aber viel über Dinge wie Stille, Schweigen und das Dasein in der Gegenwart Gottes lernen können.

Giftiges Gesetz Nr. 4: Nur nicht am Status quo rütteln, solange alles läuft wie gewohnt.

Gegen Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr. hatte der Prophet Jeremia den religiösen Führern im Volk Gottes eine unbequeme Botschaft auszurichten: „Die Priester und Propheten betrügen das Volk, weil sie seine tiefen Wunden nur schnell verbinden. ,Es ist nur halb so schlimm, es wird alles wieder gut!‘, sagen sie. Nein, nichts wird gut!“ (Jer 6,14). Ich stelle mir vor, dass die Priester und Propheten damals nicht viel anders waren als wir heute. Sie vermieden Probleme und leugneten, dass es Konflikte gab, weil sie nicht am Status quo rütteln wollten.

Ein paar Jahrtausende später hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert. Ein zu großer Teil der heutigen Gemeindekultur ist geprägt von Oberflächlichkeit und einer falschen Freundlichkeit. Konflikt bedeutet für uns: Es stimmt etwas nicht. Also tun wir alles, um Konflikte zu vermeiden. Wir ignorieren schwierige Themen und schließen einen falschen Frieden in der Hoffnung, dass jegliche Schwierigkeiten sich schon irgendwie von selbst in Luft auflösen werden.

Aber das tun sie nicht.

Ich habe jahrelang die Augen vor Problemen in meinem Mitarbeiterteam verschlossen, mit denen ich mich sofort und direkt hätte befassen müssen – u. a. Dinge wie schludrige Arbeit, Erreichbarkeit für andere, hartes Reden über andere, Vernachlässigung des persönlichen geistlichen Lebens. Aber wie wir alle musste ich schließlich erkennen: Ich kann das Reich Gottes nicht auf Lügen und So-tun-als-ob aufbauen. Alles, was ich verdrängte, wurde letzten Endes zu einem ausgewachsenen Problem, das viel schwerer zu lösen war als die Situation, aus der es entstanden war. Wenn wir die schwierigen, schmerzhaften Fragen nicht stellen, die wir so gern vermeiden, wird die Gemeinde früher oder später einen viel höheren Preis zahlen.

Der Apostel Petrus war in dieser Hinsicht nicht zimperlich. Selbst mitten in einer Erweckung scheute er die Konfrontation nicht. Als Hananias und seine Frau in der Gemeinde vorgaben, etwas zu sein, was sie nicht waren, stellte er sie sofort zur Rede (Apg 5,1-11). Sie hatten so getan, als hätten sie den gesamten Erlös von ihrem verkauften Grundstück der Gemeinde gegeben, hatten aber einen Teil zurückbehalten. Und als Petrus sie zur Rede stellte, stritten sie es ab. Sie wollten nach außen hin etwas darstellen, was sie in Wirklichkeit nicht waren. Dafür bezahlten sie mit ihrem Leben. Es ist erschütternd, das zu lesen. Aber jeder Christ mit Leitungsverantwortung kann daraus lernen, wie wichtig es ist, Konflikten und schwierigen Gesprächen nicht aus dem Weg zu gehen.

Ich frage mich manchmal, was wohl aus dieser Gemeinde mit 5000 Menschen geworden wäre, wenn Petrus die Lüge hätte durchgehen lassen, um „nicht unnötig Staub aufzuwirbeln“. Wir müssen da zum Glück nicht spekulieren. Dass Petrus sich weigerte, einen falschen Frieden zu tolerieren, legte ein solides Fundament für die Integrität und die Zukunft der Gemeinde.

Verstehen Sie jetzt besser, warum es so wichtig ist, diesem ungeschriebenen giftigen Gesetz nicht zu gehorchen?

Emotional gesund leiten zu lernen, braucht Zeit

„Alles schön und gut“, sagen Sie sich vielleicht. „Und jetzt?“

Der Rest des Buches ist eine Einladung, sich auf den Weg zu machen und eine emotional gesunde Führungspersönlichkeit zu werden – ein Mensch, der in der Lage ist, in dieser Welt ein Werk oder eine Gemeinde mit einer Kultur emotionaler Reife und Gesundheit für Christus aufzubauen. Das ist keine geringe Aufgabe. Es ist zu erwarten, dass Sie gelegentlich Unsicherheit, Ratlosigkeit, Angst oder Trauer erleben werden, wenn Sie sich auf diesen Weg machen. Ich kenne das alles aus eigener Erfahrung. Befürchtungen und Ängste können sich auch in anklagenden oder verunsichernden Stimmen in Ihrem Inneren äußern:

 Du weißt doch gar nicht, worauf du dich da einlässt.

 Ist dir klar, was passieren könnte, wenn du diesen Weg einschlägst?

 Okay, du kannst ja versuchen, emotional erwachsen zu werden. Aber es wird niemanden interessieren.

 Mach dir nichts vor: Das wird nicht funktionieren.

 Dafür hast du doch im Moment gar keine Zeit. Vielleicht später, wenn die Dinge erst mal in geordneten Bahnen laufen.

Ich kenne diese Stimmen nur zu gut. Beherzigen Sie deshalb meinen Rat: Hören Sie nicht darauf. Gott verlangt nichts anderes von Ihnen, als dass Sie einen Schritt nach dem anderen machen. Er weiß schließlich auch, dass Wachstum und Veränderung Zeit brauchen. Meiner Erfahrung nach kann es sogar bei relativ schlichten Veränderungen gelegentlich Jahre brauchen, bis sie sich durchgesetzt haben.2 Gott kennt Ihre Situation und Ihre Herausforderungen und er weiß, was Sie brauchen – nicht nur, um die Herausforderungen zu meistern, sondern um durch sie zu einer stärkeren Führungspersönlichkeit zu werden. Dieser Weg kann gelegentlich einsam sein, aber das gehört sicher auch zu Gottes Weise, uns dazu zu bringen, auf sein Handeln zu warten und allein ihm zu vertrauen. Wir dürfen damit rechnen, dass Gott uns die richtigen Menschen und Mittel zum richtigen Zeitpunkt über den Weg schickt, damit wir den nächsten Schritt tun können. Ich habe das selbst immer wieder erlebt.

Vergessen Sie nicht: Gottes Geist lebt in Ihnen und er wird Ihnen alle nötige Erkenntnis schenken und Sie leiten. Es hat im Lauf meines Lebens viele Zeiten gegeben, in denen ich mich überfordert fühlte und wusste, dass ich nicht die Reife, Weisheit oder Charakterstärke hatte, um bestimmte Herausforderungen meiner Führungsaufgabe gut zu bewältigen. Aber es waren genau diese Zeiten, in denen Gott mich erinnert hat: „Lass dich nicht einschüchtern, und hab keine Angst! … Bei den Menschen ist das unmöglich, aber nicht bei Gott; für Gott ist alles möglich“ (Jos 1,9 und Mk 10,27).

Und damit ist alles gesagt. Machen wir uns also auf den Weg.

Emotional gesund leiten

Подняться наверх