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1. Willkommen im Club:
Der fünfzigste Geburtstag

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Beim Aufwachen wusste ich sofort, dass die Zeit um war. Die Zeit, seit ich mir am Morgen des fünfzigsten Geburtstags meiner Mutter vorgenommen hatte, mich später genau an meine Empfindungen von damals zu erinnern. Später hieß: dann, wenn ich selber mal, in einer unendlich scheinenden Ferne, in diesem schrecklich alten Alter sein würde.

Nun war es so weit. Ich schloss die Augen und versuchte, mich in mein dreizehnjähriges Ich zu versetzen. Dabei fiel mir zuerst wieder ein, wie «abgeklärt» ich mir damals vorgekommen war, wie sicher in meiner Überzeugung zu wissen, was das Leben bereithielt an Freuden, Frustrationen und Enttäuschungen. Deutlich hatte ich empfunden, welcher Berg vor mir lag, nicht nur die Schule, die zu bewältigen war, das Studium, die Erwartungen von Eltern und Großmutter, die ich erfüllen sollte – und erst die Liebe! Aber ich würde ihn angehen, den Berg, was sonst, hatte ich gedacht, in der unbändigen Hoffnung, unterwegs auf etwas zu stoßen, das mit dem Wort Glück nur unzureichend beschrieben wäre und von dem ich nicht mal sicher wusste, ob es existierte.

Jetzt, am Morgen meines eigenen fünfzigsten Geburtstags, spürte ich nach einem Gefühl: einem Erschrecken vielleicht über die vergangene Zeit, das ja immer auch ein Stück Todesangst ist, einer Melancholie über Verlorenes oder Verpasstes oder einer Freude, es bis hierhin geschafft zu haben, doch da war nichts. Ich wusste nur: Es ist dein fünfzigster Geburtstag, du kannst es nicht ändern, also steh auf und mach was draus.

Aber zuerst waren mal die andern dran.

Die «allerliebste Mama» bekam «50 Küsschen» schriftlich und je einen mündlich von Tochter und Sohn. Die fünfzig dunkelroten Baccararosen vom Ehemann – halb erwartet, halb gefürchtet – lösten zwiespältige Gefühle und die Sorge aus, die Freude könnte mit der üppigen Pracht nicht so recht mithalten – gar zu vergänglich erschien das teure Geschenk und unangenehm symbolisch. Mit fünfzig macht einem die Vergänglichkeit von Jahren und Schönheit nun mal mehr aus als mit dreißig. Zu allem Überfluss fehlte ein geeignetes Gefäß, um die Rosen angemessen zur Schau zu stellen. Ich quetschte sie in eine schlanke Bodenvase, in der sonst um Ostern herum lediglich ein paar Forsythien- oder Kirschzweige lehnen, um die ausgeblasenen Ostereier der Kinder zu tragen. Es tat mir leid um die beengten Rosen.

Später kamen immer mehr Blumen, darunter Sträuße, die so groß waren, dass wir Papierkörbe leeren und mit Wasser füllen mussten. Am Abend sah es in unserem Wohnzimmer aus wie in einer Aussegnungshalle.

Ich hatte mir den Tag im Sender freigenommen und durfte mir was wünschen. Also holten wir die Kinder von der Schule ab und fuhren ins Frankfurter Städel-Museum, guckten Bilder an, aßen Kuchen im Museumscafé, trafen eine meiner Schwestern, tranken Champagner und gingen essen. Alle waren vergnügt, vor allem die Kinder, die lieber durch Museen liefen, als Hausaufgaben zu machen, und von mir eine Entschuldigung bekamen.

Auch ich war vergnügt, denn alle taten, was ich mir gewünscht hatte, und das ohne Diskussionen und ohne Murren. Zudem genoss ich die allgemeine Zuwendung: Meine beiden Schwestern hatten mich bedichtet, in klugen und lebenserfahrenen Versen, der Bruder, Neffen und Freunde riefen an, Telefon und Handy standen nicht still, es kamen Briefe, Faxe und E-Mails ins Haus.

«Willkommen im Club der Gereiften!», schrieb mir Georgia, meine frühere Deutschlehrerin. «Sei nicht traurig, dass Du jetzt fünfzig bist. Es ändert sich nichts. Du bist auch nicht von heute auf morgen alt. Und man sieht das Alter nicht, besonders nicht bei Dir.» Das fand ich charmant, und ich beschloss, Georgia zumindest vorläufig einfach zu glauben.

Sigi, die Freundin und Tonmeisterin, ging die Sache etwas direkter an: «Nun hast Du es endlich geschafft. Du bist raus aus der anzeigenrelevanten Zielgruppe der Vierzehn- bis Neunundvierzigjährigen. Niemand, der Dir noch etwas verkaufen will. Niemand, dem Du noch etwas verkaufen musst. Und das Beste, man sieht es Dir nicht an, großartig!»

War das nun Trost oder eher Drohung? Wie meint sie das: Niemand, dem ich noch was verkaufen muss? Und was ist mit den Nachrichten? Nein, natürlich war es ein Kompliment, ich sollte meine Nichtfestangestellten-Empfindlichkeit mal langsam ablegen und pragmatischer werden – und die Dinge so sehen wie mein alter Freund Peter, der mailte: «Es gibt ja Menschen, vor allem weiblichen Geschlechts, die aus einem solchen Anlass in Trübsal verfallen. Du hast dazu keinen Grund; und ich denke, dass Du auch nicht das Naturell dazu hast – hoffentlich. Also: Genieße die kommenden fünfundzwanzig Jahre, und wie Mao gesagt hat: Große Getreide-Vorräte anlegen, tiefe Tunnel graben und nicht nach Hegemonie streben; in sehr freier Übertragung: Ich wünsche Dir Gesundheit, Harmonie in der Familie und ausreichendes materielles Wohlergehen.»

Das Vorräte-Anlegen leuchtet mir ja ein, ein nur sparsam bestückter Kühlschrank löst in mir gewöhnlich ein panikartiges Knappheitssyndrom aus; das mit den Tunneln verstehe ich dagegen nicht so ganz, und Hegemoniestreben war meine Sache eigentlich noch nie, aber macht nichts, den Wunsch nach Gesundheit, Harmonie und Wohlstand in ein kryptisches Mao-Zitat zu kleiden, ist originell und zeugt, wie manch anderer Glückwunsch, immerhin davon, dass es mir gelungen ist, mir einen interessanten Freundeskreis aufzubauen. Dazu gehört auch mein Uraltfreund Werner, der meinen Beschluss, den Geburtstag im Museum zu verbringen, fast so gelungen fand wie die Gestaltung seines eigenen: «Ich hatte meinen Fünfzigsten seinerzeit» – Werner ist zwei Jahre älter als ich! – «auch ganz weit weg in Brüssel gefeiert, das war sehr schön und bot auch keinen Anlass für künstliche und überflüssige Grübeleien, meist sowieso nur ausgelöst durch unangemessene Kommentare von Gästen und Gratulanten.»

Tröstlich schwang die Saite, die Bodo in seinem Brief anschlug: «... kein einfaches Datum, aber genau genommen ist ja doch nachher alles wie vorher; unsere Schatten werden nur unmerklich länger, und so bleibt uns auch mit mehr als fünfzig noch die Hoffnung, wir könnten sie eines Tages überspringen.» – Aus diesen Zeilen sprach die Poesie der schriftstellerischen Einbildungskraft, von der ich vermutlich künftig eine immer größere Dosis brauche.

Ich badete in Zuneigung. Wie gut ist es doch eingerichtet, dachte ich, dass man nur von denen hört, die es nett mit einem meinen. Auch wenn das eine oder andere Gesagte charmant übertrieben ist, so war ich doch nicht abgeneigt, alles für bare Münze zu nehmen.

Ein wenig Wasser goss mir dann ein Zuschauer in den Wein der Lobgesänge: «Laut Gong verdrängen Sie das Älterwerden. Dazu besteht gar kein Grund», schrieb Willy T streng: «Drei Tage nach Ihnen habe auch ich Geburtstag und werde 82! Mit meiner Frau Christa (78) bin ich im Mai d.J. 58 Jahre verheiratet ... Wenn es mal so weit ist – WENN! –, denken Sie an die Worte von M. Rommel: ‹Weise ist, wer JA sagt zu seinem Alter und die Chance entdeckt, nicht mehr jung sein zu müssen, sondern alt sein zu dürfen.› »

Jawoll, wird gemacht, Herr T.! Wenn es so weit ist, werde ich an Sie denken. Aber wann ist es so weit? Wieso verdränge ich das Älterwerden, was hat der Gong da verbreitet, ohne mich zu fragen? Ich habe vergessen, mich drum zu kümmern, erinnere mich allerdings daran, dass ich alle Interview-Gesuche zu meinem Geburtstag abgelehnt hatte, weil ich genau wusste, welche drei Fragen in jedem Fall gestellt würden: 1.) Wie fühlen Sie sich heute, an ihrem fünfzigsten Geburtstag? 2.) Wie lange wollen Sie jetzt noch die Nachrichten präsentieren und haben Sie schon Pläne für danach? Und nach einer Schamfrist von zehn Minuten käme unweigerlich: 3.) Könnten Sie sich vorstellen, sich irgendwann liften zu lassen? – Das zu verdrängen, müssen Sie mir an solch einem Tag schon gestatten, lieber Willy T.

Auch Kafka hilft da nicht unbedingt weiter: «Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden» – Worte, die mir die DMSG, die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, schrieb, für die ich mich engagiere. Dieser Spruch muss stimmen, denn Kafka wurde tatsächlich nicht alt ...

Stimmig waren die Zeilen, die mir die Maskenbildnerin Helmtraut F. aus ihrem «Unruhestand» zueignete: «Wer zwingen will die Zeit, den wird sie selber zwingen. Wer sie gewähren lässt, dem wird sie Rosen bringen.» Mit diesen Zeilen flogen die Rosen nur so herein an jenem Tag, und mit jeder Rose mehr wurde mir klarer, dass ich offenbar gerade dabei war, den Zenit zu überschreiten – oder es bereits getan hatte.

Kaum ein Gratulant, der sich einen Hinweis aufs Alter verkniffen hätte, keiner, der nicht tröstende oder ermutigende Worte fand oder einfach aus der Kombination Aussehen/Jahre ein Kompliment fabrizierte. Geben wir es also ruhig zu: Nichts führt einer Frau von fünfzig Jahren drastischer vor Augen, dass ihr etwas Problematisches widerfahren ist, als das heftige Bemühen der Gratulanten, die Sache so fröhlich wie möglich ins Positive zu wenden.

Dass da offenbar etwas ist, was bewältigt werden muss, scheint die Feier-Freude so mancher glücklich fünfzig Gewordener in Grenzen zu halten – plötzlich fiel mir auf, wie viele meiner gleichaltrigen und älteren Freundinnen ihren Fünfzigsten nicht gefeiert hatten. Und wenn ich gelegentlich nachfrage, so höre ich, dass es ihnen nicht danach war, dass sie mit der Zahl ihre Probleme hatten, ja, meine Freundin Jutta, eigentlich eine gestandene Feministin, von der ich das nun überhaupt nicht erwartet hätte, gab sogar zu, in Schwermut verfallen zu sein – vorübergehend, Gott sei Dank. Aber ihren Frieden habe sie noch nicht gemacht mit ihrem Alter, sie hoffe jedoch, sich mit der Zeit daran zu gewöhnen, dass sie die Fünfzig überschritten habe.

Wer fünfzig wird, hat also tatsächlich etwas zu bewältigen, egal ob man sich’s eingesteht oder nicht. Doch wer etwas zu bewältigen hat, braucht, wenn man den Brockhaus ernst nimmt, einen Initiationsritus, denn die «Initiation gehört zu den Übergangsriten, die die soziale Identität des Betroffenen verändern oder neu festsetzen, indem sie besondere Krisensituationen im menschlichen Lebenslauf, die bewältigt werden müssen, und den Übergang von einem als abgeschlossen geltenden Zustand in einen anderen markieren; hierzu gehören etwa Geburt, Pubertät, Heirat, Tod, aber z. B. auch die Inthronisation eines Königs».

Den fünfzigsten Geburtstag hat der Brockhaus, haben wir alle vergessen. Geburt und Taufe, die Schultüte, Konfirmation oder Jugendweihe, Hochzeit – und dann soll schon Schluss sein? Den letzten feierlichen Initiationsritus, die eigene Beerdigung, kriegt man ja nicht mehr mit. Dazwischen aber liegen etliche Jahrzehnte, und wer fünfzig wird, befindet sich von Hochzeit und Tod ungefähr gleich weit entfernt.

Das Jungsein hat nach sieben mal sieben Jahren endgültig aufgehört, das Altwerden beginnt. Mit ein wenig Glück stehen den Fünfzigjährigen weitere vier mal sieben Jahre in geistiger Gesundheit und relativer körperlicher Fitness bevor, mit mehr Glück werden es fünf mal sieben Jahre, aber dass es noch sechs oder gar sieben mal sieben gesunde Jahre werden, dazu gehört schon sehr viel Glück, und darauf dürfen vielleicht unsere Kinder mal hoffen.

Die Jugend vorbei, die ersten Falten unübersehbar, die Erschlaffung der Haut, die abnehmende Wirkung auf Männer, die Scheu vor dem Vergleich mit jüngeren Frauen und die unterschwellige Furcht, von Ehemann/Partner/Freund durch ein sogenanntes Zitronentörtchen (Tom Wolfe, Fegefeuer der Eitelkeiten) ersetzt zu werden; die wachsende Aufmerksamkeit für Zeitschriftenartikel über die Themen Lifting, Hormonpillen, Kosmetik, die etwas teurere Mode, das Gefühl, trotz allem noch jung zu sein und zumindest Schönheitsoperationen noch nicht nötig zu haben, das ab jetzt zunehmend angegriffen und in Frage gestellt wird – man muss schon ein sonniges Naturell besitzen oder eine große Verdrängungskünstlerin sein, um angesichts einer solchen Häufung von Krisensymptomen nicht in Melancholie zu verfallen.

Es ist nicht daran zu rütteln: Der fünfzigste Geburtstag ist eine Zäsur. Ich glaube, dass man sich dieser Tatsache stellen, die von ihr ausgelösten düsteren Gefühle nicht verdrängen, sondern ausleben sollte, denn erst dann wird man frei für das Positive und Angenehme, das der neue Lebensabschnitt ja auch mit sich bringt. Erst dann kann man aufhören, der verlorenen Jugend nachzutrauern, und anfangen, sich auf die zweite Lebenshälfte zu freuen und mit einem gewissen Erstaunen zu erkennen, dass nicht alles schwerer, vieles sogar leichter wird.

Ebendeshalb wäre ein Initiationsritus für Fünfzigjährige tatsächlich hilfreich, am besten einer, der der vom Brockhaus genannten Inthronisation eines Königs gleicht, denn Fünfzigjährige haben alle Erfahrung, die man im Leben braucht, sie sind die Königinnen der Welt. Die Turbulenzen von Partnerfindung und Partnerwahl sind (normalerweise) vorbei, die Kinder sind entweder bereits aus dem Haus oder groß genug, um zu artikulieren, was man falsch macht bei ihrer Erziehung. Man gerät in ruhigere Fahrwasser, setzt, wenn man klug ist, weder sich noch den Liebsten dauernd unter Leistungsdruck und Erfolgszwang, hat sich etwas aufgebaut, kann seinen Kindern eine unaufdringliche Ratgeberin sein, seine Eltern milder betrachten und die solidarische Freundschaft der ebenso gereiften Gleichaltrigen genießen und endlich auch wieder vertiefen.

Wer fünfzig wird, gehört zum Club derer, die ihr Leben selbst bestimmen und es nicht mehr nötig haben, jeder Mode hinterherzulaufen, jeden Trend mitzumachen, jedem alles zu beweisen. Fünfzig zu werden, das bedeutet Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbewusstsein, eine gewisse Ausgebufftheit, in jedem Fall man selbst sein.

Warum aber gibt es ausgerechnet für diese tatsächlich einschneidenden Wechseljahre des Lebens keinen Initiationsritus? Ich vermute, weil wir Fünfziger-Jahre-Kinder die ersten jungen Fünfziger sind. Wer im 19. Jahrhundert fünfzig wurde, war alt – bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein war das noch so. Seit es Menschen gibt, ist man bis vor kurzem mit fünfzig alt gewesen.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann in Mitteleuropa so etwas wie ein Verjugendlichungsprozess. Und jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, spricht man von «jungen Alten». Wir haben es mit einem historischen Novum zu tun, und darum gibt es keinen Initiationsritus für Fünfzigjährige. Wir müssen ihn uns selbst erfinden, und das Innehalten, Zurückblicken, Vergleichen und Reflektieren in den Jahren der Lebensmitte ist vielleicht der erste Schritt dazu.

Nein, lieber Werner, den fünfzigsten Geburtstag einfach so übergehen kann ich nicht und will ich nicht, und bei den Gedanken, die mir dabei so in den Sinn kommen, handelt es sich weder um künstliche noch um überflüssige Grübeleien. Sie müssen sein, denn von nun an werden meine Schatten länger. Sie eines Tages zu überspringen, hoffe ich, aber wenn daraus eine begründete Hoffnung werden soll, muss ich jetzt irgendetwas dafür tun, und das ist zunächst einmal nachdenken und innehalten.

Aber zuallererst beschloss ich, die Sache offensiv anzugehen, und ich erstellte nun doch eine Gästeliste.

Reifeprüfung

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