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2. Familienkosmos:
Wie Mutter und Großmutter älter wurden
ОглавлениеAn jenem Tag, als meine Mutter fünfzig wurde, am 28. März 1968 war das, erwachte ich, schaute in die Kastanien, die grüne Knospen trugen, und dachte mir: Das war’s jetzt für sie! Nun würde wohl keiner ihrer Verehrer mehr mit einem Arm voll Tulpen zum Tee erscheinen, wie noch vor kurzem; in Zukunft würden sie nicht mehr gegen sechs Uhr morgens von einem Faschingsball nach Hause kommen, denn nun waren beide Eltern – alt. Mit fünfzig, war ich mir sicher, ist das Leben gelaufen.
Aber es kam anders. Der fünfzigste Geburtstag war nicht der Anfang vom Ende, sondern, wie meine Mutter später urteilte, der eigentliche Höhepunkt ihres Lebens. «Ab fünfundvierzig hatte ich meine besten Jahre!», sagte sie, und obwohl sie das nicht weiter begründete, schien mir klar, warum. Der Krieg, die Bombennächte in Dresden und die Flucht mit zwei kleinen Kindern aus dem Feuersturm lagen lange zurück und gehörten ebenso wie der Verlust des dritten Kindes kurz darauf zu einer Vergangenheit, die den Blick meiner Mutter verdunkelte, sobald sie davon erzählte, nach dem Essen, mittags, wenn wir beide noch allein am Tisch saßen. Der enorme Kraftakt danach, die Aufbaujahre, waren ebenfalls nichts, wovon sie mit Stolz berichtete wie andere ihrer Generation. Eher eine Zeit enormer Anforderungen an sie – oft wohl auch der Überforderung: Die schwierige Ehe mit einem nur äußerlich unversehrten Kriegsheimkehrer, die fünf Geburten in vierzehn Jahren, die Organisation von Arztpraxis und großem Haushalt hatten sie im Übermaß beansprucht und ihre Kräfte manchmal bis zur Erschöpfung aufgezehrt.
Jetzt aber fiel die Anspannung der Nachkriegszeit langsam von ihr ab: Die Kinder waren aus dem Gröbsten raus, die Praxis lief, und meine Mutter hatte plötzlich wieder Energien frei. So widmete sie sich neben der Arbeit in Praxis und Haushalt dem städtischen Theaterausschuss und sorgte dafür, dass man auch bei uns in der Provinz Handkes Publikumsbeschimpfung zu sehen bekam, war in FDP und Frauenring aktiv (ein paar Jahre später würde sie das erste Frauenhaus in Worms mitgründen) und machte das Beste aus dem, was eine Kleinstadt an gesellschaftlichem Leben zu bieten hat. Mit fünfzig hatte sie endlich das Gefühl, ihr Leben trotz der täglichen Hektik einigermaßen im Griff zu haben. Sie lebte gern, und sie lebte schnell. Wenn andere abends vor dem Fernseher saßen, ging sie ins Theater. Wenn zwischen Sprechstunde und Mittagessen eine halbe Stunde Zeit blieb, fuhr sie ins Hallenbad, um ihre Runden zu schwimmen. Wenn mein Vater abends seinen Wein trank, hängte sie «noch rasch» die Vorhänge auf, die sie zwischendurch gewaschen hatte. «Deine Mutter ist so tüchtig!», sagte dann die manchmal mithelfende Großmutter. Und deren Schwiegersohn verstummte angesichts so viel weiblicher Energie. Oder nannte meine Mutter missbilligend «überengagiert».
«Überengagiert» traf den Punkt durchaus. Wir Kinder fanden sie hektisch, heute würde man sagen «gestresst». Aber offenbar hielt ein gewisses Maß an Hektik oder Stress sie jung. Und sympathischerweise war sie weit davon entfernt, irgendeine Art von Superfrau darstellen zu wollen. Im Gegenteil: Sie hasste den Haushalt, Kochen und Backen waren ihr ebenso fremd wie meiner Großmutter, die nie in ihrem Leben etwa einen Kuchen zustande gebracht hat, und auch mein Vater konnte «natürlich» nicht einmal ein Ei in die Pfanne hauen. Dafür, das heißt für die geringen Ansprüche meiner Eltern an die Kochkunst im Allgemeinen und die tägliche Ernährung der Familie im Besonderen, hatte man Personal. Mittags kochte also die Haushälterin, sonntags eine meiner Schwestern, und abends gab’s Teewurst und Velveta-Ecken zu übrig gebliebenen Brötchen vom Morgen. Nein, die Küche war nicht die Umgebung, in der sich meine Mutter hätte wohl fühlen können.
Da lagen ihr die Praxis und das Gespräch mit den Patienten meines Vaters schon näher. Ihr eigentliches Feld war die Kommunikation, ihre große Begabung der Umgang mit Menschen. Die Aufmerksamkeit, die ihr von diesen zuteil wurde, wirkte auf sie wie eine Droge, wie ein Lebenselixier. Wenn sie einen Raum betrat, stand sie sofort im Mittelpunkt, das war für ihre Lebenszufriedenheit von existenzieller Bedeutung. Sie hatte «Erfolg», wie man so sagte.
Doch nahm sie die kostbare Währung Aufmerksamkeit nicht nur in Empfang, sie teilte sie auch wieder aus, freigebig und großzügig. Das machte ihren Charme aus. Keinen Charme der konventionellen Art – sie war nicht der Typ Dame, die fein lächelnd mit geneigtem Kopf ihr Gegenüber reden ließ und dabei ihre Weiblichkeit mit Komplimenten und Unterwerfungsgesten unterstrich; sie raspelte nie Süßholz. Ihr Charme beruhte auf ihren markantesten Eigenschaften: der Neugier und der Begabung, zu unterhalten. Langweilig war sie nie. Sie interessierte sich für alles und jeden, und das war in ihrer Gegenwart sofort zu spüren.
Nicht nur der Stress, auch diese Neugier und ihre Freude am Austausch mit anderen ließ sie jugendlicher erscheinen als andere Frauen ihres Alters und war im Grunde die Antriebskraft für alles, was meine Mutter bis zu ihrem Tod unternahm.
Auf alten Fotos wirken ja die Menschen oft älter, als sie nach Lebensjahren waren. Der altmodisch weite Anzug des Vaters, die frühe Glatze mit dem Haarkranz – all das macht ihn im Vergleich zu uns im selben Alter zu einem älteren Herrn. Meine Mutter jedoch kommt mir in ihren auf Figur geschnittenen Kostümen jung dagegen vor, so jung, wie ich mich heute fühle. Ganz anders wieder die Großmutter, ihre Mutter, die mit fünfzig keine Teenager mehr zu Hause hatte wie meine Mutter und ich, sondern tatsächlich schon Großmutter war und auch so aussah: Das immer dunkle Witwenkleid, die von einem Netz gehaltenen, hochgesteckten Haare und der stets melancholische Gesichtsausdruck tun ein Übriges, sie als Angehörige einer völlig anderen Generation identifizierbar zu machen. Weder mit fünfzig noch davor wäre es ihr je in den Sinn gekommen zu flirten, obwohl, nein: weil sie Witwe war; sie trauerte Jahrzehnte um den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte und der bereits nach Jahresfrist im Ersten Weltkrieg gefallen war. Und diese Trauer hatte sich in ihr schönes Gesicht eingegraben.
Als meine Großmutter fünfzig wurde, am 31. Mai 1942, warfen die Engländer gerade 1459 Tonnen Bomben über Köln ab, drei Jahre bevor sie, meine Mutter und meine Schwestern dann selbst im Feuersturm von Dresden um ihr Leben rannten. Am nächsten Tag, dem 1. Juni, begannen die Nazis in Auschwitz, Juden in großer Zahl zu vergasen.
In Berlin leisteten an jenem 31. Mai deutsche Künstler unter der Schirmherrschaft von Joseph Goebbels ihren «Dankbeitrag für die arbeitende Bevölkerung und für verwundete Soldaten», darunter als Ehrengäste Gerhart Hauptmann und Richard Strauss. Letzterer hatte Jahrzehnte zuvor einer meiner Urgroßtanten, mit denen er in Garmisch-Partenkirchen Tennis spielte, einen Heiratsantrag gemacht, jedoch einen Korb bekommen, weil er bayrische Kraftausdrücke in seine Rede flocht und ihm, wie man in meiner Familie gern erzählte, beim Essen das Sauerkraut aus dem Mund gehangen habe, «Genialität hin oder her». Das war vor seinen berühmten Opern, aber den Zarathustra hatte er wohl schon geschrieben. Die Tante, die sich kurz darauf mit einem anderen vermählte, musste sich, falls sie ihre Entscheidung je bereut haben sollte, angesichts der späteren Nazi-Nähe des Komponisten mehr als bestätigt sehen.
Als meine Großmutter also fünfzig wurde, tobte der Zweite Weltkrieg, sie war bereits vierundzwanzig Jahre Witwe und hatte eine Tochter im selben Alter, die zu ihrem Leidwesen das Studium abgebrochen hatte; nicht nur wegen des Krieges, sondern hauptsächlich um – «viel zu früh!», wie beide immer sagten – zu heiraten, und zwar ausgerechnet einen sehr katholischen jungen Mann aus Mainz, der zu den freigeistigen Dresdner Protestanten schlecht zu passen schien. Der Schwiegersohn war nun als Stabsarzt im Feld, und meine Großmutter ernährte mit ihrem kümmerlichen Fürsorgerinnen-Gehalt und ihrer Witwenrente ihre alte Mutter, die Tochter und die zweijährige Enkelin, meine älteste Schwester. Ich weiß, dass zeitweise gehungert wurde: «Wir haben Kartoffelschalen gegessen», sagte meine Großmutter vorwurfsvoll, wenn wir Kinder am Essen herummäkelten. Nach Feiern wird ihr an ihrem runden Geburtstag nicht zumute gewesen sein, zumal sie, ganz im Gegensatz zu ihrer Tochter, nicht gern im Mittelpunkt stand.
Ebenso wenig wird ihr das Alter, die Zahl fünfzig, bedeutet haben. Es veränderte nichts. Sie hatte mit dem Leben, soweit es die Liebe betraf, an dem Tag abgeschlossen, an dem ihr klar wurde, dass mein Großvater, der als vermisst galt, aus der furchtbaren Marneschlacht an der Westfront in Frankreich nicht wiederkehren würde. Nach Kriegsende war sie mehrfach ins Nachbarland gereist, um nach einer Spur von ihm zu suchen, einem Hinweis, wo genau er gefallen war, einem Grab – vergebens.
Seitdem trug sie Schwarz, viel später erst gemischt mit allem, was sich auf der Skala zwischen Schwarz und Weiß finden lässt. Ich kann mich nicht erinnern, je eine Farbe an ihr wahrgenommen zu haben – bis zu ihrem achtzigsten Geburtstag. Da, 1972 war das, hatten meine Mutter und ich im Damenoberbekleidungshaus meiner Heimatstadt so lange auf sie eingeredet, bis sie seufzend nachgab und einem mokkafarbenen Kostüm zustimmte, das wir elegant fanden und das zu den alten Rauchtopasen der Urgroßmutter passte. Sie trug es ein einziges Mal, zu diesem, ihrem letzten Fest.
«Wenn sie doch nur nochmal geheiratet hätte», sagte meine Mutter später oft, «und ich einen Vater bekommen hätte, dann wäre alles anders gelaufen! Hätte sie nicht ihren verdammten Treuewahn gehabt und wäre ich nicht mit diesem Idealbild von einem Ehemann aufgewachsen, hätte es euer armer Vater nicht büßen müssen.» So aber sah sich der mit Ansprüchen konfrontiert, an denen er nur scheitern konnte: Zuverlässiger Gatte und feuriger Liebhaber sollte er sein, liebevoller Vater, erfolgreicher Arzt und, zu allem Überfluss, auch noch Vaterersatz für sie selbst. Sie wollte gern aufschauen zu ihm, ihn bewundern, von ihm geführt werden. Doch er kam traumatisiert und gebrochen aus dem Krieg zurück, hatte verplombte Viehwaggons mit verdurstenden Juden gesehen und noch vieles erlebt, was vor uns niemals über seine Lippen kam. Nur meine Mutter deutete manchmal an, was in ihm arbeitete, wenn wir nicht verstanden, warum er mit vier gesunden Kindern und einer lebenslustigen Frau so depressiv war und schwieg und manchmal zu viel trank.
So hatten die beiden Weltkriege nicht nur meiner Großmutter, sondern auch meiner Mutter das Leben versaut (das Schicksal der Männer lasse ich jetzt mal außer Acht), obwohl sie erst 1918 geboren wurde. Das konnte meine Großmutter allerdings nicht voraussehen – ob ein kleines Mädchen einen Vater braucht, um später eine glückliche Ehe führen zu können, das war vermutlich damals noch keine Frage, die sich aufgedrängt hätte. Vielleicht hat meine Großmutter aber auch, klug, wie sie war, darüber nachgedacht und sich dennoch anders entschieden, und zwar so, wie es ihrem eigenen Interesse entsprach. Und das bedeutete: bedingungslos treu zu sein. Einen Liebesschwur, ein Versprechen zu halten, komme, was da wolle. Sie hatte sich die Entscheidung für meinen Großvater schwer genug gemacht – fünf Jahre waren sie verlobt gewesen, fünf Jahre hatte er geduldig auf ihr Jawort gewartet, weil sie sich nicht entschließen konnte: Sie bewunderte seinen großen Intellekt und seine moralische Integrität, aber es dauerte wohl einfach seine Zeit, bis sie sich in ihn verliebte. Und als ihre Entscheidung schließlich fiel, fiel sie für immer.
Die eigentliche Ehe der Großeltern währte nur so lange wie die Hochzeitsreise. Danach war mein Großvater ins Feld zurückgekehrt, hatte sich freiwillig an die Front gemeldet – «Überflüssigerweise!», wie meine Tante Marieluise heute sagt, «dieser Patriotismus, dieses heroische Getue gehörte zum guten Ton, das weißt du doch, für Ehre und Vaterland, wie das damals hieß» –, kehrte noch einmal kurz zurück, um sein kleines Mädchen, meine Mutter, im Frühjahr 1918 zu bestaunen, dann sahen sie ihn nicht wieder.
Meine Großmutter blieb untröstlich.
Und trug jahrzehntelang schwarz. Mit Hut und Schleier vorm Gesicht, «um nicht angesprochen zu werden». Stelle ich mir für meine Mutter als Kind auch nicht eben lustig vor. Warum sie ihr Trauersoll so übererfülle, haben wir sie später – mit einem kleinen Vorwurf in der Stimme – gefragt. Mehr als Treue bis in den Tod sei schließlich von niemandem verlangt. «Das mag sein», pflegte sie darauf kühl zu antworten, mit einem Soll allerdings habe das nichts zu tun. Und was von ihr zu verlangen sei, das bestimme sie selbst.
Sie war die einzige Großmutter, die wir hatten, heiß geliebt und hoch verehrt, aber klar, sie kam mir auch, schon ihrer strengen, dunklen Erscheinung wegen, uralt vor. Dass sie einmal jung und sehr schön war, konnte ich mir kaum vorstellen.
Das sieht man nur auf den wenigen Fotos, auf denen sie immer ein wenig melancholisch blickt. Bei ihren Freundinnen – auf einem Foto halten sich die jungen Frauen ernst um die Taille gefasst, sie mit aufgestecktem Haar und weißer, bis zum Kinn hochgeschlossener, gesmokter Bluse im langen dunklen Rock – ist ebenfalls kein Lächeln auszumachen. Man grinste eben nicht breit in die Kamera, wie wir es heute, auch ohne dass einer albern «Cheese» sagt, fast schon zwanghaft tun. Und war nicht das Leben überhaupt ernster damals, ebenso wie die Liebe, der noch eine schicksalhafte Bedeutung beigemessen wurde, im Leben einer Frau ohnehin.
«O doch, wir hatten so viel Spaß», sagte meine Großmutter zwar oft, oder nein, das klingt so nach Gegenwart, wahrscheinlich sagte sie «amüsiert»: «Wir haben uns derart amüsiert, ja, geradezu Tränen gelacht», zum Beispiel über jene Marktfrau, die meiner Aachener Urgroßmutter auf ihren Einwand, die Bohnen seien «aber bisschen groß», entrüstet «Na, in IHR Muul jon se noch quer rin!» entgegnet hatte, oder über den klugen Pinscher namens Hüti, der die Zeitung bringen und dazu Männchen machen konnte, sie anschließend aber zum Entzücken der Familie nicht hergab, sondern sorgfältig zerfetzte, oder den Kater Peter, der nur deshalb bewundert wurde, weil er sich entweder in die frisch gebügelte Wäsche bettete oder im Bücherregal mit dem Kopf auf der Bibel ruhte – schon als Jugendlicher war mir klar, dass dieser Spaß irgendwie anders war als unserer. Und die Kriterien, nach denen sich mal eine ganze Generation als «Spaßgesellschaft» bezeichnen würde, die hätte meine Großmutter sicher nicht mehr verstanden.
Wie es ihr wirklich in der Zeit ergangen ist, die man als Zenit des Lebens empfindet, als reifer Frau in ihren Fünfzigern also, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Die Feier, wenn es überhaupt eine gab, wird mitten im Krieg, wie gesagt, höchst bescheiden gewesen sein, und von den Gedichten, die bei uns in der Familie zu solchen Anlässen üblich waren – meine Mutter hat ihrer «Mami» garantiert etwas verfasst –, ist nichts gerettet worden bei der Zerstörung Dresdens. Diesen (offiziellen) Teil der Geschichte kennen wir wieder gut, denn davon hat uns meine Mutter immer wieder erzählt – von ihrer Flucht durch die im Feuersturm brennende Stadt mit den zwei kleinen Töchtern im Kinderwagen und der dritten im Bauch. Auch die Flucht meiner Großmutter nach Westen drei Jahre später, mit nichts als dem, was sie am Leibe trug, und wie sie ihren letzten Schmuck, die Broschen und Nadeln, die am Unterrock staken, bei den Bauern gegen Stücke Butter und Brot tauschte, um auf dem tagelangen Fußmarsch nicht zu verhungern – das ist ins kollektive Familiengedächtnis eingegangen.
Doch für Gefühle oder subjektive Befindlichkeiten war in solchen Überlebensgeschichten kein Platz. Und das ist möglicherweise der gravierendste Unterschied zu meiner fünfzigjährigen Mutter und erst recht zu mir heute: Über das Leben und den eigenen Standort darin nachdenken, über das Alter, über die Liebe, die Vergangenheit und die Zukunft, das kann man eigentlich nur dann, wenn das äußere Gerüst des Lebens festen Halt gibt.
Vielleicht ist auch die Frage, was die so dramatischen vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts im Innern meiner Großmutter verändert haben, ganz irrelevant angesichts der äußeren Verwüstungen. Ja, so würde sie es wohl selber sehen. Ob sie damals noch täglich an ihren toten Ehemann dachte, ob die strengen Falten, die sich in ihrem schönen Gesicht abzuzeichnen begannen und auf das nahe Alter hinwiesen, ihr je zu schaffen machten, ob sie traurig war, dass sie ihren Beruf als Fürsorgerin und damit ihre Unabhängigkeit aufgegeben hatte, und ob sie sich Sorgen darüber machte, wie nach dem zwar bescheidenen, aber doch eher großbürgerlichen Leben in Dresden ihre Zukunft in einer rheinhessischen Kleinstadt aussehen würde, wo sie fortan nur noch die Großmutter sein würde – davon wissen wir Kinder nichts.
Allerdings haben wir auch nie danach gefragt. Wir waren damals selber jung, unser eigenes Leben war aufregend, und die ewigen Kriegsgeschichten hingen uns sowieso zum Hals heraus: Wer im Überfluss aufwächst, möchte nicht dauernd daran erinnert werden, dass die Altvorderen vor wenigen Jahren noch gehungert und vor Angst gezittert haben. Der Krieg, der so viel im Leben meiner Familie verändert und zerstört hatte, gehörte für uns Kinder schon in eine weit entfernte Vergangenheit, die mit uns nichts mehr zu tun hatte.
Für mich als Jüngste lag sie besonders weit zurück: Einmal wurde bei Tisch über das «düstere Mittelalter» gesprochen («Mich hätte man als Hexe verbrannt!», rief meine Mutter dann immer gern in einem triumphierenden Ton), da fragte ich die Großmutter (ich war sieben oder acht), wie es damals so war für sie, im Mittelalter, und ob sie sich gefürchtet hat. Da lachte sie wieder mal Tränen.
Später wollte ich von ihr wissen, ob sie Angst vorm Sterben habe, und sie sagte einfach ja. Tot sein wolle sie gerne, nur das Sterben, das würde sie lieber überspringen. «Und wenn du – als Ketzerin – plötzlich vor Gott stehst?», bohrte ich weiter. «Dann klopfe ich nach der Beerdigung dreimal an die Decke», sagte sie, «dann wisst ihr Bescheid.» Das hatte allerdings schon die Urgroßmutter versprochen, und nichts war passiert ...
Als meine Mutter fünfzig wurde, gab es ebenfalls kein Fest. Vielleicht lag es daran, dass im selben Jahr die Hochzeit meiner zweiten Schwester gefeiert wurde. Vielleicht war aber auch die Stimmung zwischen meinen Eltern gerade so, dass ihnen nicht der Sinn nach Feiern stand. Es war eine schwierige Zeit für ihre Ehe. Mein Vater hatte gerade seine Analyse und die Ausbildung zum Psychotherapeuten hinter sich, auch meine Mutter hatte eine Analyse begonnen, die sie jedoch abbrach, weil sich – «Das nennt man Gegenübertragung!» – der Analytiker in sie verliebt hatte. Danach versuchte sie es mit einer Gruppenanalyse. «Alles für deinen Vater!», mit dem sie als Gesprächspartnerin mithalten wollte. Aber da hatte sie ebenfalls im Mittelpunkt gestanden und die Projektionen der männlichen Gruppenmitglieder unbewusst – «Ich konnte ja nichts dafür, dass die anderen Frauen so uninteressant waren!» – auf sich gelenkt.
Es war auch schwierig für mich. Die Herren Freud und Jung saßen stets mit am Tisch, es war viel von Über-Ich und Es die Rede, von Todestrieb, von unbewussten Wünschen, der allgegenwärtigen Sexualität, die alles, einfach alles bestimmte, aber mit meiner eigenen Erfahrung noch nicht allzu viel zu tun hatte.
Meine Großmutter wusste natürlich, dass die Ehe meiner Eltern alles andere als leicht war, und sie betrachtete die ganze Psychotherapie mit derselben Skepsis, die heute kritische Geister der Esoterik entgegenbringen: alles schön und gut, aber letztlich doch nicht ernst zu nehmen. Ein bisschen mehr Selbstbeherrschung bitte und Contenance, dann braucht man keine Psychotherapie, mag sie gedacht haben; ausgesprochen hat sie es nicht. Dazu war sie zu diskret und zu rücksichtsvoll. Sie hat sich auch nie etwas anmerken lassen, wenn gerade Krieg bei uns herrschte. Und meine Mutter, die sonst die Offenheit in Person war und nie mit ihren Gefühlen hinterm Berg hielt, sprach mit meiner Großmutter nicht über ihre Ehe. Ihrer Mutter, die in ihren Augen ja keine Ahnung hatte, was es hieß, verheiratet zu sein, wie viel tägliche Arbeit das war, traute sie nicht zu, ihre Lage beurteilen zu können.
Da jedoch der schwierigste Teil ihres Lebens hinter ihr zu liegen schien, ging es meiner Mutter selbst jetzt immer besser. Als sie es «mit Anstand» zu zwei Dritteln hinter sich gebracht hatte, war sie eher froh als melancholisch. Und immer noch so beschäftigt, dass ihr gar keine Zeit blieb, sich über ihr Alter groß Gedanken zu machen. Zumindest hat sie uns davon nichts mitgeteilt. Doch da sie so gut wie alles mitteilte, was ihr durch den Kopf ging, halte ich es für unwahrscheinlich, dass sie mit dieser Phase ihres Lebens ein Problem hatte.
Nein, vielmehr hatte sie in der Rückschau ja sogar von ihren «besten Jahren» gesprochen. Von Alter keine Rede und keine Spur. Dass ein Kind nach dem anderen das Haus verließ, machte ihr erst recht nicht zu schaffen. Krach gab es dagegen, weil mein Bruder nach dem Abitur nicht gleich ausziehen, sondern weiter die Bügeldienste der Haushälterin in Anspruch nehmen wollte. Doch diesen Konflikt, der sich über Monate hinzog und als «Hemdenkrieg» in die Familiengeschichte eingegangen ist – «Wir sind nicht dein Hemdenservice», hatte meine Mutter gezetert –, verlor mein Bruder schließlich. Sie setzte durch, dass sich der Psychologiestudent selbständig machte.
Als zuletzt ich die elterliche Wohnung mit achtzehn verließ, um zu studieren, war keine noch so kleine Melancholie bei meiner Mutter zu erkennen. Ich glaube sogar, sie war froh darüber: Nun – sie war fünfundfünfzig – konnte ihr Leben endlich beginnen.
Das sichtbare Alter kam später, und das ist eine merkwürdige Geschichte. Sie begann damit, dass mein Vater starb. Dass sein Tod ein Bruch im Leben meiner Mutter war, hatte mit dem Verhältnis der Eltern zueinander zu tun.
Meine Mutter war zwar eine Frau, die ebenso wie meine Großmutter emanzipiert und freiheitlich erzogen war und auch so dachte und sprach, im Grunde ihres Wesens aber gar nicht so leben wollte. Sie, die nur mit Frauen aufgewachsen war, maß dem Mann als solchem enorme Bedeutung bei. Dass sie meinen Vater zeitlebens mit Erwartungen und Ansprüchen konfrontierte, die er gar nicht erfüllen konnte, wusste sie. Sie erinnerte mich an Scarlett O’Hara aus Vom Winde verweht: eine verwöhnte, starke und erotische Frau, die trotz ihrer Eigenständigkeit nie ganz bei sich war, sondern immer vollkommen auf das andere Geschlecht fixiert blieb und sich insgeheim wünschte, vom stärkeren Mann dominiert zu werden.
Es blieb ihr verwehrt. Von Zeit zu Zeit jedoch forderte sie eine symbolische Geste von ihm, mit der er uns und dem Personal zeigen sollte, wer der Herr im Hause war: «Pascha, sprich jetzt ein Machtwort!», hieß es dann unmissverständlich zu seinem (und oft unserem) Leidwesen. «Pascha» war sein Kosename, und das traf exakt den Kern ihrer Beziehung. Ihr ganzes Leben drehte sich nämlich in Wirklichkeit um ihn. Alles, was sie tat und unternahm, tat sie mit Blick auf ihn und seine Reaktion darauf. Und ich glaube, nein, ich weiß, keines ihrer Kinder war ihr auch nur annähernd so wichtig wie er.
Wenn ich eine Art «Familienaufstellung» machen müsste, käme wohl eine kosmische Konstellation heraus: er die Sonne, sie die Erde, wir die übrigen Planeten. Er bildete das Zentrum ihres Lebens, sie kreiste um ihn herum, wahrscheinlich definierte sie sich sogar über ihn. Obwohl die Verbindung nicht glücklich war. Sie passten ja gar nicht zusammen, waren so verschieden, wie zwei Menschen verschieden sein und sich dennoch ineinander verlieben können.
Mit seinem Tod war dieser Lebensmittelpunkt plötzlich verschwunden. Da war sie erst sechzig und sah immer noch jung aus, doch alles änderte sich: Sie beschloss zu unser aller Erstaunen, «endlich alt» sein zu dürfen. Von Stund an verzichtete sie darauf, sich die Haare zu färben. Sie legte ein paar Kilo zu, trank vergnügt allabendlich ihren Rotwein und genoss, all das zu tun, was ihr gefiel. Es war ihr «wurscht», dass sich das Blond nun mit Grau mischte und fast ein wenig schmuddelig aussah, sie ließ sich keine Wellen mehr legen und toupieren, sondern die Haare kurz schneiden. «Wurscht» war ihr auch, dass ihr die engen Röcke nicht mehr passten. Sie kaufte sich weite und sogar Hosen – jetzt erst erfuhr ich, dass meinem Vater Frauen in Hosen nicht gefallen hatten. Wie er überhaupt alles Burschikose, nur andeutungsweise «Männliche» an Frauen abgelehnt hatte.
Plötzlich trug meine Mutter statt Kostüm und Perlenkette Hosen, Pullover und die Haare grau und kurz. Eine völlig andere Frau.
Wir waren perplex. Und erschraken anfangs fast, wenn wir sie nach ein paar Wochen wiedersahen und stets ein wenig mehr gealtert fanden. Dabei war sie gar nicht gealtert, die grauen Haare ließen diesen Eindruck entstehen. Aber das zu hören, ärgerte sie nicht einmal, es war ihr gleichfalls «wurscht». Vollkommen schnuppe. Sie lebte nun, wie sie es für richtig hielt. Ob uns das gefiel oder nicht. Und als ich meinte, sie sei doch noch jung, könne doch vielleicht nochmal einen Mann ... «Gott soll mich bewahren!», rief sie da aus, und die Emphase war so echt, dass ich endlich begriff: Sie wollte niemandem mehr gefallen, sie wollte nur noch frei sein.
So hatte sie auch keine Lust, nach der Rolle der Mutter nun die der Großmutter zu übernehmen, und verweigerte ihren Kindern den Dienst an den Enkeln. Dass meine Geschwister ihr das übel nahmen, machte ihr nichts aus. Sie habe vier eigene Kinder großgezogen (die dritte Tochter war noch während des Krieges im Alter von sechs Wochen am Keuchhusten gestorben), einen schwierigen Ehemann gehabt und ein Leben voll harter Arbeit hinter sich – sie habe ihr Soll erfüllt. Man möge sie in Gottes Namen eine «unwürdige Greisin» nennen, wie die von Brecht, in der sie ihren Spiegel fand. Sie sparte auch kein Geld mehr für Kinder und Enkel, sondern frönte endlich ihrer Leidenschaft und reiste um die Welt. Und wenn sie meinen Mann und mich in Köln und später in München besuchte, war sie voller Erlebnisse, erzählte enthusiastisch vom jüngsten Trip nach St. Petersburg und Kiew und verschonte uns dafür mit jenen Mitteilungen, mit denen andere ältere Mütter unsere Freunde nervten: Welche Neuigkeiten in der Heimatstadt die Runde machten, wer welche Krankheiten hatte und wer gestorben war.
Unser anfängliches Befremden verflüchtigte sich bald. Wir fanden uns damit ab, dass wir beim Kinderkriegen aus unterschiedlichen Gründen nicht auf die Hilfe unserer Mütter rechnen konnten und sehen mussten, wie wir allein zurechtkamen. Und arrangierten uns mit der unwürdigen Greisin.
Alle waren überzeugt, dass sie mindestens neunzig werden würde.
Doch wann immer wir mit ihr darüber reden wollten, wie ihre späten Jahre aussehen sollten, wich sie aus. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Das Thema Tod war tabu. Wenn wir Geschwister andeutungsweise fragten, ob sie irgendwas regeln möchte, antwortete sie beiseitewischend: «Macht alles, wie ihr wollt. Ihr werdet euch schon einigen.» Und dann vertagten wir die Sache, zumal uns schien, dass wir noch eine Menge Zeit dafür hätten.
Aber es kam wieder anders, als wir dachten. Ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag hatten wir groß und fröhlich gefeiert, danach war sie in die Türkei aufgebrochen – und wurde verfrüht zurückgeflogen, am Tropf hängend und in Begleitung einer Krankenschwester. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten. Drei Tage später war sie tot. Damit hatte niemand, auch kein Arzt, gerechnet, und sie selbst vielleicht am allerwenigsten («In Wahrheit hielt sie sich für unsterblich», sagte mir ihre beste Freundin nach der Beisetzung). Im Krankenhaus hatte sie noch bei völliger geistiger Klarheit von dem jungen türkischen Arzt geschwärmt, der «ein reizender Mensch» gewesen sei: Er habe sie sogar geküsst – ihre Begeisterungsfähigkeit schien ungebrochen. Keiner von uns hielt für möglich, dass ihr Leben schon an sein Ende gelangt war.
Vier Wochen später kam ihre Ansichtskarte bei uns an – enthusiastisch wie immer und mit vielen Ausrufezeichen beschrieb sie in ihrer großen dynamischen Schrift die Schönheit von Pamukkale und das prächtige Ephesos ...