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3. Let’s Twist Again:
Kindheit im Wirtschaftswunderland

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Was haben Max Schmeling, Hildegard Knef, Martin Walser, Franz Josef Strauß, Herbert von Karajan, Joseph Beuys und Wernher von Braun gemeinsam? Oder Leni Riefenstahl, Willy Brandt, Werner Heisenberg, Albert Speer, Fritz Walter, Dietrich Bonhoeffer, Marlene Dietrich, Jürgen Habermas und der Papst?

Sie alle sind zwischen 1900 und 1930 geboren, in jenem Dreißig-Jahres-Zeitraum, den man im Allgemeinen für eine Generation veranschlagt. Alle gehören also ein und derselben Generation an und sind doch so verschieden!

Und wenn man statt an die Prominenten dieser Generation an die vielen Unbekannten denkt, die ebenfalls zwischen 1900 und 1930 geboren wurden, dann erscheint es – auf den ersten Blick – noch absurder, von einer bestimmten Generation voller Gemeinsamkeiten zu sprechen. Denn was soll schon ein Hamburger Kaufmann mit einer gleichaltrigen bayrischen Metzgersgattin gemein haben? Oder ein katholischer, seit dreißig Jahren verheirateter, mit vielen Kindern und Enkeln gesegneter Handwerksmeister aus dem Schwäbischen mit einer kinderlosen, aus der Kirche ausgetretenen, geschiedenen Journalistin in Berlin?

Wenn ich nur das Leben meiner Mutter mit dem vergleiche, was ich über das Leben meiner Schwiegermutter weiß, einer einfachen Bäuerin, die ein Jahr jünger war als meine Mutter, sehe ich so wenig Gemeinsamkeiten, dass es mir fast abwegig vorkommt, von so etwas wie einer «Frauengeneration» zu sprechen. Auf den ersten Blick hatten meine Mutter und meine Schwiegermutter weder durch ihre Herkunft noch durch ihre Bildung, noch durch ihren Lebensweg etwas gemein.

Und doch gibt es etwas zutiefst Einschneidendes, was beide und alle Angehörigen ihrer Altersgruppe so eng verbindet, dass es berechtigt ist, von einer Generationen-Erfahrung zu sprechen: den Krieg. Die instabile Weimarer Demokratie, die Massenarbeitslosigkeit, Hitler, Göring, Goebbels, die Atmosphäre des Nationalismus und Antisemitismus, die Bombennächte, Flucht, Vertreibung, Hunger, Trümmer, die verlorene Heimat, das verlorene Hab und Gut, die im Krieg verlorenen oder Versehrten Liebsten und manchmal auch der verlorene Glaube – diese Erfahrungen haben fast alle Frauen ihrer Generation gemacht, so unterschiedlich sie auch leben mochten.

Auf den Begriff «Generation Trümmerfrau» hat man diese Gemeinsamkeit gebracht. Zu ihrem gemeinsamen Schicksal gehören die Männer, die im Krieg gefallen sind, und die anderen, die zwar zurückkehrten, aber völlig verändert waren, ebenso wie die Spätheimkehrer, die nicht nur völlig verändert waren, sondern auch eine völlig veränderte Welt vorfanden und sich schwer taten, sich in sie einzufügen. Es war die um ihre Jugend und um ihre besten Jahre betrogene Generation.

Während der Jahre, in denen die Männer im Krieg waren, mussten die jungen Frauen allein auf sich gestellt ihr Leben meistern, die Kinder großziehen, mit Not und Entbehrung fertig werden. Gezwungenermaßen lernten sie, sich selbständig und unabhängig von ihren Männern durchs Leben zu schlagen. Als die Männer zurückkamen und wieder ihre alte Stellung des Familienoberhaupts einnehmen wollten, knirschte es in den Familien. Man brauchte kein Familienoberhaupt mehr, schon gar kein geschlagenes, an Körper und Seele verwundetes – niemanden, der den Krieg verloren hatte und mit ihm die Ehre, das Ansehen.

Das Ende des Krieges, das war in Deutschland auch so etwas wie der Anfang vom Ende des Patriarchats. Die Männer wussten es nur noch nicht. Die Frauen ahnten es, aber sagten es nicht, versuchten, es die Männer nicht oder möglichst wenig spüren zu lassen, spielten das alte Spiel des Patriarchats noch mit, obwohl sie es nicht mehr wirklich ernst nahmen. Man schwieg davon.

Man schwieg von vielem, damals, nach dem Krieg. Man schwieg vom Krieg, von deutschen Kriegsverbrechen, von deutscher Schuld. Man schwieg von den Steinen, die in die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte geworfen worden waren, vom «Judensau»-Gebrüll, vom Verschwinden der Juden aus dem öffentlichen Leben und aus ihren Häusern, von den Arisierungen und von Auschwitz. Und man schwieg von den alten Nazis, die nach und nach wieder in jene Positionen gelangten, die sie vor und während des Krieges innegehabt hatten.

Das Schweigen fiel leicht, denn man hatte zu tun. Wiederaufbau. Versorgung der Bevölkerung. Integration der Flüchtlinge. Vergessen, was war. Vorwärts schauen, nicht zurück. Mit der alten Disziplin, dem alten Fleiß, der verinnerlichten Ordnungsliebe wurden die Trümmer aus dem Weg geräumt, mit ihnen die Vergangenheit, und auf einmal war Deutschland Fußballweltmeister, erlebte ein Wirtschaftswunder, ein Fräuleinwunder, wurde von den westlichen Siegern als Bollwerk gegen den Kommunismus gebraucht, schloss Freundschaft mit den Feinden von einst. Plötzlich war es so, als ob Deutschland den Krieg gar nicht verloren hatte, ja, als ob diese zwölf Jahre unter Hitler nur eine kurze Episode, ein Irrtum der Geschichte gewesen wären.

In diese Zeit wurde ich hineingeboren. In Worms am Rhein. Es war ein guter Ort und ein guter Zeitpunkt, wie ich heute, ein halbes Jahrhundert danach, sagen kann. Fünfzig Jahre wachsender Wohlstand in ununterbrochener Freiheit liegen hinter mir – welch ein Unterschied zum Leben meiner Mutter und ihrer Generation! Uns wurde wirklich, wie es Altkanzler Helmut Kohl mit seinem Hang zum Pathos einmal ausgedrückt hat, die «Gnade der späten Geburt» zuteil. Eine doppelte Gnade, wie ich gleich hinzufügen muss. Wäre ich nur ein paar hundert Kilometer nordöstlich von Worms auf die Welt gekommen, wäre mein Leben völlig anders verlaufen. Statt Freiheit die Stasi und die Partei, die immer recht hat. Statt Wohlstand Knappheit, Schlangestehen, Warten auf Zuteilung. Arbeiterkinder wurden bei der Bildung bevorzugt. Ich als Arzttochter hätte da – wie meine sächsischen Cousins – schlechte Karten gehabt.

Wäre ich standhaft geblieben, wenn die Herren von der Stasi mir das «Angebot» gemacht hätten, mit ihnen zusammenzuarbeiten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir Wessis vorsichtig sein sollten mit Verurteilungen von Menschen, die achtzehn, zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt waren, als sie die Verpflichtungserklärung unterschrieben. Und dass wir mit umso größerer Achtung und Respekt jenen Ossis begegnen sollten, die mit schlotternden Knien nein gesagt haben, als sie gefragt wurden – wir Wessis sollten froh und dankbar sein, dass wir in einem Land aufwachsen durften, das keine Helden nötig hatte.

Die «Gnade der späten Geburt» und die Tatsache, in einem geteilten Land aufgewachsen zu sein, das rechtfertigt nun eben doch die Rede von den Generationen. Bei aller Verschiedenheit der Millionen Einzelschicksale gibt es zu jeder Zeit etwas alle Überwölbendes, das den Angehörigen einer Generation und eines Landes gemeinsam ist wie der gestirnte Himmel über ihnen.

Dennoch kann ich natürlich nur über die Erfahrungen in der einen Hälfte des Landes sprechen. Was aber ist es, was die westdeutschen Nachkriegskinder miteinander verbindet? Welche prägenden Ereignisse, welche einschneidenden Erlebnisse teilt die «Generation Nierentisch»?

Dass «wir Weltmeister» waren, war mir, Jahrgang 1955, als Kind natürlich nicht bewusst. Fußball spielte weder für mich noch für die anderen Mädchen eine Rolle. Aber wahrscheinlich hatte das Ereignis trotzdem Einfluss auf das Schicksal der in dieser Zeit Geborenen. Die Fußballweltmeisterschaft von 1954 war Balsam auf die Wunden der geschlagenen, von aller Welt verachteten Nation. Sie hat den Menschen ein bisschen von ihrem verlorenen Selbstbewusstsein und ihrer Selbstachtung zurückgegeben. Erste Ansätze von Zuversicht und Optimismus zeigten sich. Wirtschaftlich ging es steil aufwärts. Die Rückkehr Deutschlands in die Völkerfamilie wurde vorbereitet, es gab erste diplomatische Beziehungen zu Israel, und eine enge Freundschaft mit dem bewunderten Siegerland USA bahnte sich an.

Wirkte sich das auf unsere Erziehung aus? Wurden wir milder, liebevoller erzogen als die im Krieg und unmittelbar nach dem Krieg Geborenen? Meine beiden älteren Schwestern behaupten das. Weniger streng auf jeden Fall. Die körperliche Züchtigung kam bei uns Fünfziger-Jahre-Kindern langsam, aber sicher aus der Mode. Auch wenn mein Volksschul-Klassenlehrer, Herr Z., noch seinen Rohrstock überm Pult liegen hatte («Das ist mein langer Finger!») und dann und wann dem einen oder anderen damit auf die Hände schlug, auch wenn meine Freundin Monika und ihr Bruder zu Hause noch richtig verdroschen wurden (ihr Vater sagte damals immer: «Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!») – im Vergleich mit unseren älteren Geschwistern hatten wir zweifellos die größeren Freiheiten. Vielleicht kann man sogar sagen, wir hatten die unbeschwerteste Kindheit seit Jahrzehnten! Die Unbeschwertheit zeigte sich in dem, was unsere Begeisterung hervorrief zu jener Zeit. Für meine erste Leidenschaft reichten zwanzig Pfennig. Dafür gab’s am Kiosk ein kleines Päckchen im Spielkartenformat. Darin: fünf Foto-Kärtchen in einer Papierhülle, die man erst aufreißen musste – der spannendste Teil des Vergnügens, denn man wusste nie, was man bekam für sein Geld.

Doch bitter war die Enttäuschung, wenn ich zum dritten oder vierten Mal dieselben reitenden, Lasso schwingenden Cowboys aus Old Surehand in der Hand hielt; oder die Massenszene mit den kämpfenden Indianern aus Der Schatz im Silbersee; oder den sterbenden Mario Adorf als Schurken in Winnetou 1. Schurken, Indianer und Cowboys interessierten uns nicht. Diese Szenen aus den Karl-May-Filmen waren auch nicht viel wert, es gab zu viele davon. Wir waren erpicht auf die großen und edlen Vier, also Winnetou und Old Shatterhand, Nscho-tschi und Ribanna, die beiden Indianerinnen, die für uns die Helden erst interessant machten. Denn was war ein Mann ohne Frau? Wie sollten Männer ohne Frauen Gefühle zeigen? Die Frau an seiner Seite verlieh dem Mann ein menschliches Gesicht, nur so konnte er zum Ziel unserer Sehnsüchte werden. Nein, der tollste Mann und kühnste Held war nichts ohne die eine wunderbare Frau, die ihn liebte. Ohne Frau keine Liebesgeschichte, und ohne Liebesgeschichte konnte uns die ganze Männerwelt mit ihren dauernden Kämpfen den Buckel runterrutschen. Jungs, die sich prügelten, hatten wir auf dem Schulhof, die mussten wir nicht auch noch auf der Leinwand bewundern. Und dass die Liebe im Leben das Wichtigste war, das wussten wir Mädchen von Anfang an, und zwar schon lange vor der Pubertät.

Offenbar wussten das aber die Marketingstrategen der Karl-May-Filme ebenfalls, und die Kärtchen mit den emotionaleren Szenen waren rar und unendlich kostbar. Denn auf der Suche nach den tollen Bildern mussten wir ganz viele doofe kaufen, und das taten wir auch, bis wir unsere Winnetou-Alben voll hatten.

Mit der Liebe war das freilich so eine Sache bei Karl May. Wenn ich es richtig im Kopf habe, war Nscho-tschi Winnetous Schwester und Old Shatterhand versprochen; der Häuptling der Apachen wiederum liebte Ribanna. Die Paare konnten zueinander nicht kommen, dafür hatte ihr Schöpfer und Männererotiker Karl May gesorgt – wie sonst hätten die Freunde auch aufeinander konzentriert bleiben und nach vollbrachten Taten gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten können? So mussten die beiden indianischen Schönheiten rasch das Zeitliche segnen, und deshalb gab es eben nur wenige kostbare Szenen mit Frauen; man gewöhnte uns also früh daran, dass unsereins – zumindest in der Kunst oder dem, was wir dafür hielten – schön zu sein, zu leiden und rechtzeitig zu verscheiden hatte, damit der Mann seine Lebensbahn einsam oder mit Blutsbruder unbeirrt weiterziehen konnte.

Die Karte mit dem höchsten Tauschwert, in dessen Besitz ich nach langer Entbehrung und im Tausch gegen viele, viele andere Bilder gelangte, war ein wunderschönes Szenenfoto von Nscho-tschi, die, auf einem Felsen sitzend, Old Shatterhand von unten herauf anlächelt, während er ihr von oben die berühmte Schmetterhand zärtlich-väterlich auf die Schulter legt. Dieses Bild hatte Seltenheitswert, und das Exemplar, das ich eines glücklichen Tages ergatterte, war an den Rändern ganz aufgeraut und an den Ecken umgeknickt vom vielen Anschauen und Bestaunen. Die anderen Trümpfe waren ein Porträt Ribannas und jene dramatische Szene, in der sie todesmutig mit dem Grizzly kämpft. Dass der Grizzly ziemlich ausgestopft wirkte, war nebensächlich. Wichtig war, dass Karin Dor Ribanna spielte – in meinen Augen die schönste Frau der Epoche, zumal sie meiner ältesten Schwester ähnlich sah, wie ich fand. Sie war der einzige Filmstar, den ich je um ein Autogramm anschrieb, und als der Briefträger es in meinem frankierten Rückumschlag tatsächlich brachte, pinnte ich es mir glücklich übers Bett.

Auch Marie Versini als Nscho-tschi stand hoch im Kurs bei den Mädchen, von ihr hatte ich sogar einen Bravo-Starschnitt mit Reißzwecken an die Rauten- und Girlandentapete meines Kinderzimmers geheftet, direkt über dem Bronze-Kreuz und dem auf Holz aufgezogenen Konterfei vom neuen Papst Paul VI.; beides hatte ich gerade zu meiner Erstkommunion erhalten. Meine Mutter fand sowohl die zur Schau gestellte Frömmigkeit ihres jüngsten Kindes – «Musst du immer in die Kirche rennen, wenn wir spazieren gehen wollen?!» – als auch besagte Zusammenstellung auf meiner Wand äußerst befremdlich, sagte allerdings nicht viel dazu. Später teilten noch Pierre Brice und Lex Barker fast in Echtgröße den Platz mit Papst und Kreuz, Karin Dor und Marie Versini. Damit war die Wand endgültig voll.

Mein Herz aber gehörte ausschließlich Lex Barker, und mit der Wahl zwischen Winnetou und Old Shatterhand kristallisierte sich für uns Acht- bis Zehnjährige die Entscheidung für ein bestimmtes Männerideal heraus. Es kam nämlich durchaus darauf an, ob man nun für Pierre Brice mit den dunklen Wallehaaren und dem niedlichen Grübchen am Kinn schwärmte oder den härteren, männlicheren Lex Barker bevorzugte. Der kam mit seinem Ich-habe-schon-alles-gesehen-im-Leben-Ausdruck in den gegerbten Gesichtszügen (ähnlich wie Gary Cooper, in den ich ebenfalls verliebt war seit dem Film Ariane – Liebe am Nachmittag mit Audrey Hepburn) meinem Traum vom anderen Geschlecht sehr nahe. Es gefiel mir auch, dass er nur wenige Worte verlor, aber zur rechten Zeit die Pranke hob, um einen Unwürdigen mit einem Schlag zu erledigen – deshalb hieß er ja Shatterhand. So musste ein Mann sein, so einen würde ich mal haben wollen. Und als meine Mutter nach der Lektüre eines Lex-Barker-Interviews in irgendeiner Zeitung meinte, er antworte «auch nicht dümmer als andere», bekam ich Herzklopfen vor Stolz und Freude.

Meine Freundinnen teilten meine Liebe nicht, sie gaben Winnetou den Vorzug. Was er für Augen habe, schwärmten sie, wie schön er sei, wie er lächle, so sympathisch und weich. Dass er Franzose und Indianer war, ließ ihn gleich noch exotischer und attraktiver erscheinen. Da konnte kaum einer mithalten. Diese Mädchen wählten später in der Schule Französisch statt Altgriechisch und verknallten sich in die hübscheren Austauschschüler aus Frankreich mit den langen dunklen Haaren und viel Erfahrung im Küssen – wir anderen konnten zugucken. Und an allem war Pierre Brice schuld! Während ich niemals einen Mann getroffen habe, der mich auch nur entfernt an Lex Barker und meine frühe Liebe erinnert hätte. Aber wahrscheinlich habe ich nicht mal Ausschau nach so einem gehalten – vielleicht ist es mit der frühen Prägung auf das andere Geschlecht ja doch nicht so weit her, jedenfalls, wenn man sich anschaut, wie unsere Partner heute aussehen.

Die Begeisterung für jene Filme hatte noch etwas bewirkt: Ich las sieben dicke Karl-May-Bände durch, meine Freundin Sigrun sogar fünfzehn, und das war «für ein Mädchen», wie es hieß, nicht schlecht.

Dann hatte ich genug von der rauen Männerwelt, den endlosen Weiten der Prärie mit den vielen Riesenkakteen darin, in denen ich erst Jahre später (durch Arno Schmidt) Phallussymbole erkannte, und kehrte gern, wenn auch nur kurz, in die heile Kinderwelt der Enid Blyton zurück, wo es statt Kakteen und Indianern Fünf Freunde gab, die alle Rätsel lösten, und Hanni & Nanni, die – wie das Doppelte Lottchen – schon deshalb ein Erfolg waren, weil sich jede von uns so einen Geschwisterklon gewünscht hätte, um sich nie im Leben allein zu fühlen. Dann war es mit den Kinder- und Jugendbüchern aber allmählich vorbei.

Wir bereiteten uns weiter auf das Erwachsenenleben vor. Die neue Stellvertreterin dieser Welt hieß Barbie, zwanzig Zentimeter hoch und mit Wespentaille, Endlos-Beinen und langer blonder Mähne bis zum Po ausgestattet. Dazu verfügte sie über eine Garderobe im Stil von Jackie Kennedy und winzige Utensilien wie Schminkkoffer, Handtaschen, Pumps und Tennisschläger. Stundenlang wurde diese Puppe an- und umgekleidet und frisiert, wir probierten ihr Kostüme, Abendkleider, Skihosen und Babydolls an, fasziniert von der perfekten Ausrüstung en miniature. Ebenso faszinierte uns die Tatsache, dass Barbie kein Baby und auch kein Kind, sondern eine Frau war. Wir spielten also nicht die Mutter – wir verhandelten auf Augenhöhe, obwohl wir wussten, dass Barbie uns mit ihrem Atombusen und den Stöckelschuhen die entscheidenden Attribute einer erwachsenen Frau voraushatte. Ken, der dazugehörige Mann, interessierte uns weniger, weil seine primären Geschlechtsorgane nur dezent – allzu dezent, unserer Meinung nach – durch eine klitzekleine Wölbung angedeutet, also praktisch nicht vorhanden waren. Kein Vergleich mit den sauber definierten Brüsten von Barbie.

Die Großmutter meiner Freundin Bettina hatte einen Spielzeugladen, deshalb bekam ihre Enkelin alles, was auf diesem Sektor neu und teuer war: Sie wiegte die erste Babypuppe mit «echten» Schlafaugen, sie hatte die erste, die in die Windeln pieseln konnte, was man oben mit einem Fläschchen in sie hineinfüllte, sie führte uns stolz die erste sprechende Puppe vor, die zehn Sätze («Ich habe Hunger», «Ich habe Durst», «Ich will spielen» etc.) herunterschnarrte, wenn man hinten eine kleine Schnur mit rundem Plastikring aus ihrem Hals herausgezogen hatte, und nun eben die Attraktion dieser Jahre: Barbie und Ken.

Mit Barbie und Ken spielten wir alle Liebesszenen durch, die wir aus Filmen oder Büchern kannten, oder wir erfanden selber dramatische Geschichten, deren einziges Ziel es war, am Ende die beiden im Kuss zu vereinen. Dass dabei Barbies Busen immer etwas sperrig war und sich ihre Gliedmaßen nicht biegen ließen, störte uns nicht weiter. Es störte uns auch nicht, dass in Wirklichkeit keine Frau aussah wie Barbie. Im Gegenteil, das war ja das Tolle: Sie war viel hübscher als die Frauen, die wir kannten, ähnelte allenfalls Brigitte Bardot, die unsere Eltern so verrucht und sexy fanden. Sexy war Barbie auch, und sexy – das war überhaupt neu damals, das wollten alle werden oder sein, nicht mehr nur schön wie die Diven aus den alten Hollywood-Schinken, sondern sexy und verwöhnt, mit einem Schmollmund wie die Bardot oder Marilyn Monroe.

Mir wurde diese Puppe aus erzieherischen Gründen vorenthalten, meine Eltern sprachen von ihr in einem Ton, als handele es sich um Pornographie, um die scheußlichste Ausgeburt des amerikanischen Geschmacks. Irgendwann gaben sie jedoch auf, wie eigentlich meistens, wenn man hartnäckig und lange genug jammerte, und versprachen, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Zu Nikolaus fand ich meine Puppe dann zwischen Mandarinen und Walnüssen im Schuh. Aber welche! Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte keine bekommen. Es war eine Petra, die deutsche Barbie für Arme. Ich war zerschmettert. Mit der konnte ich mich nicht sehen lassen. Meine Mutter hatte wieder mal bewiesen, dass sie keine Ahnung hatte, was wirklich wichtig war. Mit Petra war mein Vergnügen an diesen Puppen dahin, ich legte sie weg und beschloss, mit dem Spielen aufzuhören und erwachsen zu werden.

Es war die Zeit, in der sich junge Frauen wie meine Schwestern die Pferdeschwänze abschnitten, die Petticoats weglegten und Bubikopf zur engen Hose trugen. Zu Hause übten sie mit Handtüchern hinterm Po den Twist zu Chubby Checkers Let’s Twist Again, und wir übten mit. Wer beim Twisten am weitesten herunterkam und in der Hocke ein Bein ausstrecken konnte, ohne umzufallen, hatte gewonnen. Oder auch, wer gleichzeitig in die Knie gehen und den Oberkörper nach hinten biegen konnte, das war sogar noch schwerer. Eine meiner Schwestern kaufte sich einen Minirock und führte ihn der Familie vor, er war hellgrün wie der Frühling draußen und ließ zum ersten Mal die Knie sehen. Doch statt des Beifalls, den sie erwartet hatte, setzte nun eine endlose Diskussion darüber ein, ob der Minirock an sich vorteilhaft war oder nicht. Und das, obwohl meine Schwester die hübschesten Beine von allen hatte!

Die Freunde der Schwestern kamen ins Haus – von den Eltern «Verehrer» genannt, was wir schon damals ulkig fanden –, wurden begutachtet und danach beurteilt, wie sie sich benahmen. Einer dieser «Verehrer» aber tauchte eines Tages nicht mehr auf, war in Ungnade gefallen, worüber alle in der Familie Bescheid wussten außer mir. Man sprach vor mir nicht darüber, sondern erging sich in Andeutungen, und die Schwester, die mit ihm aus gewesen war, legte sich zu Bett und war krank. Vergeblich zermarterte ich mir das Gehirn, was er sich Schreckliches hatte zuschulden kommen lassen. Unter dem Vorwand, ihre Hilfe zu benötigen, zog ich mit meinen Hausaufgaben an ihr Bett und gab keine Ruhe, bis ich erfuhr, was passiert war. Meine Schwester wand sich zwar ein wenig, ließ sich alles nur langsam aus der Nase ziehen, schließlich entnahm ich aber ihren Worten, dass es irgendwie zu einem Kuss gekommen war, keinem jedoch, wie ich ihn mir immer gedacht hatte, als das Schönste, ‘das Nonplusultra, den Höhepunkt schlechthin, wenn man mit einem Jungen «ging»; etwas muss diesmal anders gewesen sein, obwohl meine Schwester durchaus verknallt gewesen war zuvor. Sie benutzte dramatische Worte wie «überfallen» und «abgeknutscht» und «gegen meinen Willen», sie habe sich nicht wehren können – es sei schrecklich für sie gewesen, ein Schock. Und ich war froh, das erfahren zu haben, denn alles, was man wusste, konnte einen ja selber nicht mehr so unvorbereitet treffen wie meine arme Schwester, dachte ich.

Mit dem Twist begann für uns die Moderne. Rock ‘n’ Roll war noch ein richtiger Tanz, mit vorgegebenen Schritten, und ohne Tanzpartner lief nichts. Der Twist aber läutete das Zeitalter des Alleintanzens ein, was meine Mutter kurioserweise als einen Rückschritt empfand, in eine Zeit wie vor dem Walzer, als man sich beim Tanzen noch nicht anfassen durfte. «Tanzen ist doch auch Mittel zum Zweck», sagte mein Vater, nachdem er kopfschüttelnd einen Blick auf eine Party meiner Geschwister geworfen hatte, und meinte, «unerotischer» ginge es ja nun nicht mehr. Und er gab mir die Lebensweisheit mit auf den Weg, dass ein Mann schon beim Tanzen zeige, was er im Bett draufhabe. Natürlich hat er sich so derb nicht ausgedrückt, sondern wie immer die französische Version für Sex benutzt, nämlich «faire 1’amour», das fand er romantischer. Klar, dass mein Vater ein Tänzer war. Er hatte übrigens nicht recht, wie meine Lebenserfahrung sagt.

Nach dem Twist kamen die Beatles, Esther & Abi Ofarim und John F. Kennedy. Dessen berühmte Schöneberger Rede «Ich bin ein Berliner» wurde als Single angeschafft und ergriffen abgespielt. Alle mussten zuhören, auch ich, obwohl ich nicht wirklich begriff, was daran so bedeutsam war. Ich wusste nur: Alles, was mit der Mauer zusammenhing, war ein wunder Punkt in meiner Familie. Ein Teil war ja «drüben» geblieben, in Meißen und Freiberg und Jena, ständig wurden Päckchen gepackt und irgendwelche Medikamente in Kaffee und Reis versteckt und nach drüben geschickt. Und an Weihnachten stellte meine Mutter in alle Fenster, die zur Straße gingen, Kerzen und registrierte genau, welche Nachbarn das nicht taten und also nicht an unsere Schwestern und Brüder «in der Ostzone» dachten. «Aber das können die drüben doch gar nicht sehen», sagte ich und begriff von der Antwort nur, dass es darauf offenbar nicht ankam.

Als Kennedy umgebracht wurde, war das für uns, was der Anschlag auf das World Trade Center einmal für meine Kinder sein wird: Ein Moment, an den man sich genau erinnert, auch wenn man noch sehr jung ist und sich kein bisschen für Politik interessiert. Einen Fernseher hatten wir damals noch nicht, so erfuhren meine Eltern beim Frühstück aus der Zeitung vom Attentat. Meine Mutter kam zu mir in den Flur gerannt, als ich mich gerade auf den Weg in die Schule machte, und ich erschrak, weil sie weinte, als sie mir zurief, dass Kennedy tot sei. «Jetzt gibt es sicher wieder Krieg mit Russland», sagte sie, und in der Schule taten wir dann alle sehr aufgeregt und fanden es interessant, vielleicht zum ersten Mal in unserem Leben über ein politisches Ereignis zu sprechen.

Amerika stand in Deutschland hoch im Kurs, jedenfalls in der Bundesrepublik. Die Eltern waren immer noch dankbar für die Befreiung durch die Amerikaner und deren Care-Pakete, sie liebten den jugendlich-smarten Kennedy, der so einen ganz anderen Typus von Politiker verkörperte als unser alter Adenauer, und für uns kam sowieso alles, was wir «salopp» oder «lässig» fanden, von jenseits des Atlantiks: der Beat (auch wenn die wichtigsten Bands, die Beatles und die Stones, Engländer waren), die Blue Jeans, die immer länger werdenden Haare und Coca-Cola.

Letzteres war mir – wie den meisten Kindern – zu meinem großen Ärger verboten, weil es angeblich unserer Gesundheit schadete: «Herzrasen» bekomme man vom Koffein, behauptete meine Mutter, einen «Colarausch» nannte sie das in dem ihr eigenen Hang zur Dramatik. Dieses Wort aber machte die Sache richtig attraktiv. Einmal, wir waren noch in der Volksschule, wagten wir etwas Unglaubliches: Wir, drei neunjährige Mädchen, trafen uns, schick gemacht, heimlich am Nachmittag in der Stadt; ich zum Beispiel hatte eine alte Röhrenhose meines Bruders angezogen, die die Knöpfe vorne hatte, und ich fühlte mich äußerst verwegen darin: Schulmädchen trugen normalerweise Rock, und wenn Hose, dann eine aus Helanca mit Steg und Reißverschluss an der Seite. Wir steuerten die einzige italienische Eisdiele der Stadt an, nahmen an einem fragilen Tischchen Platz und bestellten mit rotem Kopf «eine Cola». Vor lauter Angst, es könne jemand hereinkommen, der uns kannte und uns bei unseren Eltern verpetzen würde, vor allem aber, weil die Kellner uns «Signorina» nannten und spaßeshalber mit uns flirteten, kamen wir aus dem Giggeln nicht mehr heraus. Schließlich verschluckte ich mich und bekam einen Hustenanfall. Das Gleiche wiederholte sich etliche Jahre darauf mit der ersten (und vorläufig letzten) Zigarette. Nur war da mein Gewissen noch schlechter, denn meine Geschwister und ich hatten meinem Vater versprochen, bis zum achtzehnten Geburtstag nicht zu rauchen. Die hundert Mark, die uns für den Verzicht in Aussicht gestellt waren, holte ich mir später trotzdem ab – wie meine drei Geschwister zuvor, die nach ihrem Achtzehnten dann sofort mit meinem Vater ganz offiziell um die Wette qualmten.

Meine Freundin Bettina, die mit dem Spielzeugladen zu Hause, war auch in Modedingen ganz vorn. Sie erschien als Erste mit Minirock im Gymnasium und wurde prompt nach Hause geschickt, um sich «was Anständiges» anzuziehen. Sogar der Vatikan kümmerte sich damals noch um unsere Klamotten und geißelte Miniröcke als frivol und provokant. Und verbot Frauen im Minirock den Zutritt zum Petersplatz. Unsere Lehrer bekamen also Schützenhilfe von höchster Stelle. Aber wir waren nicht mehr aufzuhalten. Mit kurzer Zeitverzögerung liefen alle im Mini herum, mal im Rock, mal im Hängekleidchen à la Sandie Shaw (Puppet On a String), wir warfen unsere Strumpfgürtel in den Müll und stiegen auf Nylonstrumpfhosen um (die wir noch bei jeder Laufmasche zum «Aufmaschen» für 50 Pfennige in die Strumpfboutique trugen) – später sollten wir uns sehr wundern, warum einige Männer die ollen Strapse erotisch fanden und uns partout wieder darin sehen wollten ...

Was über dem Minirock saß, erregte ebenfalls das Missfallen der katholischen Kirche: Der sogenannte Sexy-Pulli galt als Gipfel der Verworfenheit, lag er doch schockfarben und so eng am Körper an, dass sich unsere schwellenden Formen schön darunter abzeichneten und deutlich zu erkennen war, wer BH trug und wer nicht. Auch darüber konnten wir stundenlang diskutieren. Jutta fand es «ohne» gewagt und stellte bleischwer die zentrale Frage: «Können wir uns das überhaupt leisten?» Wir, mit unserem Babyspeck auf den Hüften. Diese Frage beschäftigte uns Tag und Nacht. Nichts machte uns mehr Sorgen als der Gedanke, dass der Po zu dick und der Busen zu klein sein könnte – nicht mal die nächste Mathearbeit.

Wir hatten deshalb eine eigene Diät entwickelt, und sie hat sogar funktioniert: morgens zwei Scheiben Knäckebrot, abends zwei Scheiben Knäckebrot und mittags so viel, wie wir wollten. Damit konnten wir zwar nicht Twiggy werden, das Mannequin (so hießen Models damals noch) jener Jahre, aber das wollten wir auch gar nicht. Twiggy war eher abschreckend: «Sieht aus wie ‘ne Hundehütte – in jeder Ecke ein Knochen», sagten die Jungs, und wir hörten es nicht ungern. Dass Twiggy auch den Eltern nicht gefiel, war dagegen völlig unerheblich.

Manchmal hatten wir allerdings die Nase voll von unserer Diät, gingen ins Café und ließen diverse Kuchen auffahren. Danach fühlten wir uns moralisch so am Boden, dass wir uns zur Strafe eine Nulldiät auferlegten, bis uns fast die Sinne schwanden. Der Höhepunkt in dieser Phase weiblichen Masochismus war bei mir erreicht, als ich während so einer Nulldiät einen Tanzstundenfreund zu Hause erwartete, ihn mit zwei Stück Käsekuchen bewirtete und zu seiner Verwunderung nur schwarzen Kaffee und Wasser trank. Sigrun, die exzessiv mithungerte, wollte sogar zu rauchen anfangen, weil man dann den leeren Magen nicht so spüre, wie sie meinte; ihr wurde sofort schlecht, deshalb ließ sie es bleiben. Die Freundin meines Bruders empfahl Appetitzügler, die wir uns heimlich in der Apotheke besorgten, bekamen davon aber Herzrasen und Schweißausbrüche. Natürlich war uns schon bekannt, dass man sich auch den Finger in den Hals stecken konnte, um in der Gier angefressene Kalorien schnell wieder loszuwerden. Und ich glaube, es gab auch in dieser Generation nur wenige Mädchen mit scheinbaren Gewichtsproblemen, die diese Methode nicht ausprobiert haben. Wahrscheinlich waren wir gut genährten Nachkriegskinder die Ersten, mit denen der ganze Hungerwahnsinn der Frauen seinen Anfang nahm.

So fiel kurioserweise der Beginn der Emanzipation mit einer neuen Unterdrückung zusammen. In der Mode zeigte sich das aufs anschaulichste: Während wir unsere Körper von allem befreiten, was einengte und zwickte – Korsagen, Hüftgürteln, BHs, Miedern und Unterröcken –, und selbstbewusst Figur und Beine zeigten, mussten wir uns gleich wieder quälen und kasteien, um überhaupt im Mini herumlaufen zu können.

In der BH-Frage gehörte ich zur Fraktion derer, die ihn für überflüssig hielten, was in meinem Fall allerdings keinen Mut erforderte: Einerseits entsprach das dem progressiven Zeitgeist, was mir wichtig war, andererseits besaß ich die Unterstützung meiner Eltern, die BHs in so jungen Jahren aus medizinischen Gründen («Das macht nur einen Hängebusen») ablehnten, und drittens hatte ich gut reden, weil es bei mir so viel gar nicht zu halten gab. Schließlich entschieden wir pragmatisch: Es hatte was Befreiendes, so ein wippender Busen, und sexy war es auch, aber zum Reiten, im Sportunterricht und in der Tanzstunde griffen wir gerne auf den festen Halt zurück.

Als ich mit Jutta einmal im pink- und orangefarbenen Sexy-Pulli irgendwann im Jahr 1967 beim «Einkehrtag für katholische Mädchen» erschien, wo man uns beibrachte, wie der wünschenswerte Lebenswandel junger Mädchen aussah, und uns im Umgang mit dem anderen Geschlecht unterwies, dienten wir gleich als Beispiel dafür, wie man sich als «anständiges» Mädchen nicht anzog; und uns wiederum wurde im Laufe der Veranstaltung klar, dass wir hier mit unseren Fragen nicht weiterkamen.

Die wichtigste davon lautete, warum Sex vor der Ehe verboten war, warum es so erstrebenswert sein sollte, sich «das» unter allen Umständen für die Hochzeitsnacht «aufzuheben». Die zweitwichtigste Frage war, wie sich die Kirche zur Pille verhielt, die – das ahnten wir schon mit sicherem Gespür – unser Leben wenig später im Vergleich mit dem unserer Mütter komplett verändern würde. Diese Frage beantwortete Papst Paul VI., genannt «Pillenpaul», im Jahr darauf mit seiner Enzyklika Humanae Vitae, in der alle künstlichen Verhütungsmethoden – auch für Ehepaare! – für tabu erklärt wurden: «Ehe und eheliche Liebe sind ihrem Wesen nach auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft ausgerichtet ... Was dann psychologisch Trieb und Leidenschaft betrifft, so meint verantwortungsbewusste Elternschaft ihre erforderliche Beherrschung durch Vernunft und Willen.» Verwerflich sei somit jede Handlung, «die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes oder im Anschluss an ihn beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkungen darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel».

Diese Enzyklika ist bis heute uneingeschränkt gültig. Für meinen einst so katholischen Vater war hiermit das Maß voll. Das, sagte er bitter, könne er als Arzt nicht mehr verantworten, und trat aus der Kirche aus. Auch meine Mutter schäumte vor Wut über das Edikt eines «Zölibatären», der ihrer Meinung nach «keine Ahnung» hatte, wovon er sprach. Und wir – wir fühlten uns allein gelassen mit den Fragen und Problemen unserer Pubertät. Für Jutta und mich und viele andere verschwand mit dieser Enzyklika ein Stück unseres Vertrauens in die Kirche, ihre Autorität und ihren Schutz. Die Zeit der Ablösung begann, unsere Kindheit ging zu Ende.

Zu Ende ging auch die Nachkriegszeit. 1968 war, wie bekannt, eine Zeitenwende, die Europa und Amerika gleichermaßen veränderte, und man kann nicht behaupten, dass wir Jüngeren das nicht mitbekommen hätten. Schon uns Dreizehn-, Vierzehnjährigen dämmerte, dass die studentischen Tumulte weit weg im fernen Berlin Einfluss auf unser Leben haben würden. Wir sahen abends in den Nachrichten zuerst die Bilder aus Vietnam, wo amerikanische Soldaten Agent Orange, ein Giftgas und Entlaubungsmittel, auf den kommunistischen Vietcong im Dschungel warfen, und danach, wie riesige Fahrzeuge in Berlin eine Art Kanonenrohr auf untergehakte Studenten richteten, die «Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh» skandierten, um sie mit einem gewaltigen Schwall Wasser außer Gefecht zu setzen. Obwohl wir die Zusammenhänge kaum durchschauten und das Ziel der Studentenproteste für uns verschwommen blieb, wurden doch auch wir vom Geist des Aufruhrs und der Opposition gegen das «Establishment» und den «Muff von tausend Jahren» erfasst. Bob Dylan sang The Times They Are A-Changin’, die Engagierten unter uns spielten Biermann-Lieder, sangen Spiel nicht mit den Schmuddelkindern von Franz Josef Degenhardt zur Gitarre und hörten Dieter Süverkrüp, Hannes Wader, Hanns Dieter Husch und Reinhard Mey auf billigen Kassettenrecordern. Die anderen, die weniger Bürgerlichen mit den längeren Haaren, die angehenden Rock ‘n’ Roller, sahen die Revolution eher lässig, beschränkten sich auf den Kampf gegen die Leistungsgesellschaft, indem sie auf der «Gammlerbänkchen» genannten Steinumfassung der städtischen Grünanlage herumhingen, rauchten und die vorbeiziehenden Mädchen kommentierten.

Von einem Tag auf den anderen beschlossen wir, in der Schule kein Morgengebet mehr zu sprechen und nicht mehr aufzustehen, wenn der Lehrer das Klassenzimmer betrat. Wir Mädchen hörten auf, vor Erwachsenen zu knicksen. Und die Abiturklasse, der mein Bruder angehörte, war 1968 die erste, die auf die Feier mit den Reden zwischen Lorbeerbäumchen, klassischer Musik und Schulchor verzichtete. Ein Affront sondergleichen. Der Direktor war empört und verletzt, die Abiturienten haben sich ihre Zeugnisse im Sekretariat abgeholt.

Bis zu unserem Abitur und darüber hinaus hielt der antikonservative Furor samt entsprechender Reaktion noch an, und dass es keine Abifeier für niemanden mehr gab unter diesem Direktor, war nur das äußere Zeichen für eine nachhaltig vergiftete Stimmung. Auch die Lehrerschaft war ja gespalten, und die Trennungslinie verlief keineswegs geradlinig zwischen Jung und Alt. Natürlich gab es unter den jüngeren Lehrern mehr Liberale, mit denen wir diskutierten, aber eben auch solche, die gegen den «linken Mob auf den Straßen» wetterten, bis vor kurzem noch ordentlich studiert hatten und nun in Anzug und Krawatte vor uns standen; und dann waren da noch, wie zu allen Zeiten, die typischen Fachlehrer der Naturwissenschaften, die sich nie einen Kommentar zu etwas außerhalb ihrer Mathematik/Biologie/Erdkunde/Physik abringen ließen und jeden Diskussionswunsch durch Abfragen von Sachwissen im Keim zu ersticken wussten.

Vor allem aber unterrichteten an unserem altsprachlichen Gymnasium etliche Oberstudienräte, die ihr Rüstzeug als Schulmeister in der braunen Zeit erworben hatten und sich dessen nicht schämten. Sie sorgten dafür, dass weiterhin ein wahrhaft autoritärer Geist aus Kaiser- und Nazizeit in den alten Mauern herrschte, verfochten eine Pädagogik der Einschüchterung und der Repressionen, die manch einem von uns bis heute Albträume beschert. Einer von denen, die uns erfolgreich Angst einflößten, hielt zwei Wahlsprüche als pädagogische Maximen bereit, einer griechisch, der andere lateinisch, die er so oft zum Besten gab, dass sie keiner von uns je vergessen wird: «Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen» (Ho mä dareis anthropos ou paideuetai) lautete die erste Lehre und – auf seine eigene Person bezogen – «Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten» (Oderint dum metuant) die zweite.

Wie erstaunt war ich, als ich kürzlich das erste Zitat in Uwe Timms wunderbarer Erzählung über seine Freundschaft mit Benno Ohnesorg Der Freund und der Fremde wiederfand – aber in welch anderem Kontext! Was für uns das Trauma der autoritären Erziehung auf den Punkt brachte, das war für Timm, der sich seine Bildung selbst erarbeitet und mit Mühe und Begeisterung über den zweiten Bildungsweg angeeignet hat, ein Spruch, der ein großes Privileg, das Glück vom Lernen in Worte fasst: «Angeregt durch Lehrer – wenn sie denn selbst von ihrem Stoff angeregt waren –, war das freiwillige Lernen fast immer eine Lust, die Lust, sich neu zu finden», schreibt Timm über seine Lernerfahrung. Und so klingt denn auch die Übersetzung bei ihm gleich viel netter: «Der nicht geschundene Mensch wird sich nicht bilden.»

Nein, von der Lust zu lernen war bei uns in der Schule weniger die Rede. Zum Glück konnte sie uns nicht in allen Fächern ausgetrieben werden. Und dann gab es ja – vereinzelt – noch Persönlichkeiten, die uns tief beeindruckt haben, weil man ahnte, was das Leben mit ihnen angerichtet hatte. So jemand war unser alter Lateinlehrer. Er hatte, wie er sagte, «seine Lektion» gelernt. Freimütig sprach er vor uns über seine Mitgliedschaft in der NSDAP – «Ich war auch dabei, jung und dumm, wie ich war» –, erzählte von seiner Begeisterung, mit der er in den Krieg gezogen war: «Dulce et decorum est pro patria mori – das haben wir geglaubt, und das verzeihe ich dem alten Horaz nie!» Manchmal schlug er dabei in einer Aufwallung von Zorn mit seinem Stock auf das Pult. Doch wenn er dann ganz leise «Ich schäme mich dafür» hinzufügte, hätte man in der Klasse eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Er hatte das Aufstehen der Klasse schon in der Sexta abgeschafft: «Bleibt sitzen, Kinder, und wirbelt nicht so viel Staub auf», sagte er immer. Jetzt konnte er es kaum ertragen, wenn seine gleichaltrigen Kollegen auf alte Prinzipien wie Gehorsam und Unterordnung pochten.

Diese Prinzipien wurden nach wie vor geschätzt, auch von den meisten Eltern. Ein Deutschlehrer, der in der Klasse über uns Katz und Maus von Günter Grass lesen ließ, wurde wegen der darin enthaltenen Onanieszene von Eltern mit einem Skandal überzogen und unter Mithilfe des Kultusministeriums derart fertiggemacht, dass er wenig später nicht nur entnervt unsere Schule verließ, sondern auch Deutschland den Rücken kehrte und ins Ausland ging.

Die Trennlinie zwischen liberal und konservativ, fortschrittlich und reaktionär verlief durch die ganze Gesellschaft, und unsere Schule war weit entfernt davon, homogen oder gar voller «Revoluzzer» zu sein. Im Gegenteil, sie galt als sehr konservativ, als eine, in der die «Arztkinder» (zu denen in der Tat fast ein Drittel der Schüler zählte) den Ton angaben, und der war keineswegs links. Die beiden neusprachlichen, reinen Jungen- und Mädchengymnasien konnten ebenfalls nicht gerade als Hochburgen umstürzlerischen Treibens gelten. Als «links» war man bei uns allerdings bereits verschrien, wenn man für Willy Brandt war, da musste man noch gar keine Sympathie für Demonstrationen und Sit-ins und die «Kommune 1» haben, und selbst von solchen moderaten Linken gab’s nicht viele. Ihnen schien es indessen unbegreiflich, wie man nicht von Brandts Ostpolitik, dem Aussöhnungsgedanken, seinem Reform-Mut überzeugt sein konnte, während die anderen wie ihre Eltern vom Ausverkauf deutscher Interessen redeten, vom Verrat an den Heimatvertriebenen – bösartige Hetzer nannten Willy Brandt sogar, auf seine uneheliche Herkunft anspielend, immer noch, wie schon Adenauer, «Herrn Frahm».

Welch ein Aufruhr herrschte in unserer Klasse, als Rainer Barzel diesen Willy Brandt 1972 per Misstrauensvotum stürzen wollte – wir verfolgten das Bundestagsgeschehen live im Sozialkundeunterricht. «Was seid ihr emotional!», rügte der Sozialkundelehrer bei der anschließenden hitzigen Diskussion, und tatsächlich, sowohl die Emotionalität der politischen Debatte, die später in ein verbittertes Freund-Feind-Denken ausartete, als auch der unerbittliche Ernst, mit dem wir diskutierten, sind vielleicht die hervorstechendsten Eigenschaften, die wir von den Achtundsechzigern übernommen haben. Eigenschaften, die zusammen mit einem gewissen Hang zum Moralisieren und zum Missionieren den nachfolgenden Generationen so auf die Nerven gegangen sind, dass die einen sich lieber nachsagen ließen, «null Bock» und keine Ahnung von Politik zu haben, die anderen aber zur konsumfreudigen Generation Golf der neuen Spaßgesellschaft mutierten und mit alt- und postachtundsechziger Spaßbremsen wie uns lieber nichts zu tun haben wollten.

Dabei empfanden wir selber uns natürlich nicht als Spaßbremsen, sondern als die vielleicht erste deutsche Generation, die tatsächlich auch den Spaß im Leben zu einem Lebensziel erhob. Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit – das waren die Eigenschaften der Eltern-Generationen, Eigenschaften, die offensichtlich weder mit selbstbewusstem, kritischem Denken noch mit Lebensfreude etwas zu tun hatten und später von Oskar Lafontaine als «Sekundärtugenden» denunziert werden sollten. Wir wollten vor allem frei von Zwängen sein, ganz anders leben als unsere Eltern und, ja: Spaß im Leben haben.

Reifeprüfung

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