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4. Siebziger Jahre:
Die WG als Fortsetzung der Erziehung mit anderen Mitteln

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Wir schliefen auf dem Boden. Auf einer Matratze mit Bettzeug, das die Ordentlichen unter uns tagsüber mit einer groben Berberdecke in Naturfarben oder einem Überwurf aus leichtem indischem Tuch bedeckten, einem Stoff in allen Rotschattierungen von Dunkelviolett bis Hellorange, in den wir Mädchen uns auch an heißen Sommertagen hüllten. Vor der Matratze lag der immer leicht verfilzte Staubfänger-Flokatiteppich. Als Tisch für den gemütlichen Teil des Lebens dienten Obstkisten, über die man eine Spanholzplatte legte, angestrichen und lackiert in den Modefarben Orange, Braun, Petrol oder Senf.

Die Obstkisten, die einst Orangen aus Jaffa bargen, gaben diesem studentischen Wohnstil den Namen: Jaffa-Möbel-Kultur. Dazu gehörte unbedingt ein großer Schreibtisch. Wer Platz genug hatte, nahm eine Tür und legte sie quer über jene Böcke, wie sie Maler unter ihren Tapeziertischen verwenden. Das sah eindrucksvoll nach Arbeit aus, vor allem, wenn sich darauf Bücher und Papiere türmten, politische Flugblätter und Pamphlete vom Marxistischen Studentenbund (MSB) Spartakus, vom Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) oder vom Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB), viele Ausgaben Kursbuch, Konkret und Pardon, dazu die Mao-Bibel und die üblichen Wälzer von Marx/Engels, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, Ernst Bloch, Norbert Elias, Robert Jungk, Erich Fromm, Die Zweierbeziehung von Jürg Willi, Die offene Ehe vom Ehepaar O’Neill und Summerhill von Alexander S. Neill. Der Rest der Möbel – Sessel, Sofas, Stühle, Schränke: vom Sperrmüll. Oder vom elterlichen Speicher, noch besser vom großelterlichen. Ein Vorkriegsküchenschrank mit Aufsatz in gelbweißem oder hellblauem Schleiflack machte sich toll in einer WG-Küche. Oder ein fadenscheinig gewordener Ohrensessel vom Großvater im Flur neben dem Telefon – wer so etwas in den gemeinsamen Haushalt «einbrachte», hatte Pluspunkte.

Die Zimmer wurden farbig gestrichen, eine Wand meist anders als die übrigen drei, und mit Plakaten geschmückt. Bei den Kunstsinnigen hingen Drucke: Magrittes Eisenbahn im Kamin, Picassos Friedenstaube, Geometrisches von Paul Klee oder Morbides von Max Ernst, alternativ auch Modern-Psychedelisches in Pink und Orange; von einer etwas ausgefalleneren Vorliebe zeugten Jugendstilmotive: Beardsleys Dame mit dem Pfauenmantel zum Beispiel. Musikfans pinnten sich Porträts der toten Ikonen Jimi Hendrix oder Janis Joplin an die Wand, bei Naturwissenschaftlern und Pazifisten war Einstein beliebt, und zwar der mit der herausgestreckten Zunge, bei den Linken grüßten Marx/Engels/Lenin im Profil oder Lenin allein mit Schiebermütze und erhobener Faust, Che Guevara als Siebdruck oder der dicke Mao Tse-tung mit Buddhalächeln, je nach politischer Präferenz. Bei den Engagierten fand man garantiert eins der berühmten Plakate von Klaus Staeck: «Deutsche Arbeiter! Die SPD will Euch Eure Villen im Tessin wegnehmen!» oder auch «Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?» als Schriftzug auf dem Bild von Dürers Mutter. Bei den Romantikern schließlich blickte eine schöne schwarze Frau sehnsüchtig gen Himmel, zu den Worten von Martin Luther King, die in großen Lettern über ihr offenbarten: «I HAVE A DREAM.»

Wichtig waren außerdem: leere bauchige Zwei-Liter-Rotweinflaschen mit Bastmäntelchen, auf denen viele abgebrannte Kerzen noch mehr Wachstränen vergossen hatten, Räucherstäbchen für den Abend zu zweit und, abgesehen von den Büchern, natürlich die Plattensammlung, deren Zusammensetzung darüber Auskunft gab, mit wem man es zu tun hatte. Pink Floyd war unerlässlich, die Stones, die Doors, Santana durften nicht fehlen, Elvis war nach seinem Tod wieder O. K., Mikis Theodorakis ein Muss. Die Stereoanlage war oft das Einzige, was richtig Geld gekostet hatte und als Statussymbol akzeptiert wurde. Alles andere musste mit geringsten Mitteln ein Maximum an Wohnlichkeit erzeugen oder was wir damals dafür hielten. Frei von Konsumzwängen wollten wir sein. Antibürgerlich. Das Gegenteil von spießig.

Obwohl fast alle Studentenbuden ähnlich aussahen, obwohl wir alle unabhängig vom Geschlecht die Haare lang trugen, in den gleichen dunkelblauen oder olivfarbenen Parkas herumliefen und uns in die gleichen engen Jeans zwängten – ich habe mich nach dem Vorbild einer Freundin mal selber in eine hineingenäht und kam nur unter größten Mühen wieder heraus, andere legten sich mit ihnen in die Badewanne –, kamen wir uns unerhört individuell vor. Dass wir in Wahrheit eher uniform aussahen, wurde uns nicht recht bewusst, weil wir uns weniger untereinander als vielmehr von unseren Vätern und Müttern unterscheiden wollten. Und das taten wir. Das war Teil jener normalen Emanzipation von den Eltern, die jede Generation vollzieht und die «Abnabelung» genannt wird.

Der Gemütlichkeit von Nierentisch und pastellfarbenen Tütenlampen, die unsere behütete Kindheit in warme, gelbe Lichtkegel getaucht hatten, setzten wir unsere Obstkisten- und Backsteinregale entgegen. Die elterliche Sesselgruppe im Halbkreis um den Fernseher, der wie ein Hausaltar in der Ecke thronte, erschien uns genauso spießig wie der Gummibaum und die Stores an den Fenstern. Wir hatten nichts zu verbergen und brauchten daher keine Vorhänge. Gardinen zur Abschirmung der Innenwelt vor fremden Blicken von außen waren uns verhasst. Die Tulpenvase auf dem Esstisch, die Anrichte, auch Vertiko, Buffet (oder wie bei uns eingedeutscht Büfett) und nur bei Avantgardisten schon Sideboard genannt und mit Porzellanfiguren, Kerzenleuchtern oder Fotos im Silberrahmen bestückt, das kostbare Sonntagsservice oder Zinnteller hinter den Glastüren der Geschirrschränke – all diese Versatzstücke bürgerlichen Wohnens waren für uns unmöglich geworden.

Der Bruch zwischen dem Wohn- und Lebensstil unserer Eltern und dem unseren war größer, als er normalerweise zwischen den Generationen ist, denn dahinter verbarg sich mehr als die übliche Abnabelung. Wäre es nur darum gegangen, hätte ich meine Miniröcke getrost noch ein paar Jahre länger tragen können. Ich trennte mich ungern von ihnen, trug sie noch im ersten Semester, bis ein Kommilitone hörbar fragte, wer denn «das nette anachronistische Mädchen» sei ...

Da beschränkte auch ich mich auf Jeans und Parka. Unisex war angesagt, äußerlich langweilig, unansehnlich, aber doch aufregend, denn was da allmählich die gesamte Mode eroberte, war vor allem ein Zeichen der sich anbahnenden Befreiung aus alten Rollen und Mustern. Männer und Frauen sind gleich; männliche und weibliche Rollen und Verhaltensmuster sind gesellschaftlich konstruiert, Konvention – und darum für uns nicht mehr gültig. Hier, in dieser neuen Sicht auf das Geschlechterverhältnis, lag der eigentliche Bruch mit unseren Eltern, was sie zunächst nicht sahen. Sie sahen nur, dass sich Männer und Frauen äußerlich immer mehr anglichen. Oft waren sie von hinten kaum noch zu unterscheiden. Für uns war das mehr als eine Äußerlichkeit: Wir wollten nicht mehr auf unsere Körper reduziert werden, nicht mehr das ewig lockende Weibchen spielen, nicht mehr sexy sein – was uns eben noch, in der Pubertät, so erstrebenswert schien. Der Unisex-Look war der einfachste Weg aus der Barbiepuppen-Falle, aber es ging natürlich um viel mehr, um Ebenbürtigkeit mit den Männern. Würde, Selbstbewusstsein und dieselben Rechte im Leben waren nun unser Ziel.

Wie ehrgeizig dieses Ziel war, in wie weiter Ferne es lag, wie viele Jahre und Jahrzehnte Kampf es kosten würde, wie sehr und wie oft wir uns dabei noch selbst im Wege stehen würden, wie tief sich patriarchales Denken in die Köpfe eingegraben hatte, auch in unsere, und wie unendlich schwierig es vor allem für die Männer (bis heute) sein würde, neue Rollen- und Verhaltensmuster zu finden – von alldem ahnten wir kaum etwas. Wir fingen einfach irgendwie an, und wir begannen mit der ersten Änderung dort, wo es am leichtesten war: bei der Kleidung, mit Äußerlichkeiten. So wurden Jeans, Boots und Parka die Uniform einer kämpfenden Generation.

«Was für eine schrecklich unerotische Zeit», sagten meine Eltern, «da muss es einem doch vergehen, wenn die Kerle so aussehen.» Der kleine Unterschied zwischen den Geschlechtern, bei dem bürgerliche Menschen damals noch nicht an das Buch von Alice Schwarzer dachten, sei schließlich «vive la différence!» – das Salz in der Suppe, eine Sichtweise, der sich auch meine Freundinnen und ich nicht ganz verschließen konnten. Denn mit der «différence» zwischen den Geschlechtern entschwand manch andere Sitte, deren Notwendigkeit – «Formen sind das Schmieröl der Gesellschaft!» – uns viele Jahre lang eingehämmert worden war. So bedauerten meine Freundin Jutta und ich beispielsweise durchaus, dass uns auf den Partys, die nun Feten hießen, niemand mehr vorgestellt wurde. Wenn man später ins Gespräch kam, wurde man nach seinem Vornamen gefragt, das musste genügen. Und dass einen keiner mehr zum Tanzen aufforderte, bewahrte uns Mädchen zwar davor, erst warten und dann womöglich mit einem Deppen auf die Tanzfläche zu müssen, enthielt uns gleichzeitig aber auch die kleine hübsche Spannung vor, mit der wir früher, in Tanzstundenzeiten, auf die Bewerber gelauert hatten.

Mit den alten Formen ist manches über Bord gegangen, was wir als so übel nicht empfunden hatten. Und wenn mir heute wieder mal einer jener jüngeren Herren im Businessanzug in Flugzeug oder Bahn weder ein angedeutetes Nicken zukommen lässt, bevor er sich in den Sitz neben mir fallen lässt, noch hilft, meinen Koffer aus dem Gepäckfach zu wuchten, und wenn mir dieselbe Sorte Mann am Ausgang die Tür auf die Nase knallen lässt, dann verfluche ich manchmal 68 & Co und was sie bei denen angerichtet haben, die von ihren guten Ideen nicht mal einen Bruchteil mitbekommen haben.

Offenbar hat alles seinen Preis, und offenbar ist ein gewisser Verlust an Formen, Manieren, Höflichkeit und gutem Benehmen der Preis für unsere Emanzipation, zumindest war er es in den zurückliegenden Jahren, obwohl es mir nicht einleuchtet, warum man nicht beides zusammen – gute Formen und die Emanzipation haben kann. Wie wollte ein Mann überhaupt begründen, einer gleichgestellten, ebenbürtigen Frau mit geringerer Höflichkeit zu begegnen als einer nachrangigen oder abhängigen? Nach dem Motto: Wer Geld verdient und Entscheidungen trifft, muss sich die Tür selber aufmachen und den Mantel allein ausziehen? Die Logik wäre seltsam. Übrigens, nebenbei bemerkt: Ich helfe selbstverständlich auch einem Mann aus dem Mantel, falls es sich gerade anbietet. Und die Tür hält man, wenn man kein Stiesel ist, auch als Frau jedem Nachfolgenden auf. Aber vielleicht kriegen wir es ja noch hin, der Kampf ist längst nicht ausgestanden, selbst wenn junge Frauen und Männer heute meinen, die Sache sei nicht mehr der Rede wert und Feministinnen seien inzwischen so überflüssig wie Pferdekutschen im Straßenverkehr.

Wem die Abnabelung nicht weit genug ging, der strebte ins Ausland. Als ich nach einem Jahr Studienaufenthalt in den USA und einer ausgedehnten Rundreise durch Südamerika wieder in mein Konstanzer Universitätsstädtchen zurückkehrte, fühlte ich mich emanzipiert. Erwachsen sowieso.

War ich es? Und: War es eigentlich eine schöne Zeit, die Studienzeit? Manchmal neige ich, wie alle Menschen, rückblickend dazu, sie zu verklären. Aber wenn ich versuche, mich genau zu erinnern, muss ich zugeben, dass ich viele zwiespältige Erfahrungen gemacht habe und dass ich diese Zeit im Grunde genommen kein zweites Mal erleben möchte. Die Uniformität im Äußeren wie im Denken, vor allem aber das autoritäre Gehabe der «antiautoritären» linken Männer überall in den Vorlesungen und Seminaren, in den Kneipen und Wohngemeinschaften, die latente Aggressivität, die einem entgegenschlug, wenn man sich nicht anpasste oder unzeitgemäße Anschauungen vertrat – das alles gefiel mir nicht, widerstrebte meinem Wesen. So stand ich, wie mir oft schien, eher am Rand als mittendrin, und manchmal fühlte ich mich sehr einsam in jenen Jahren.

Doch prägend waren sie für mich wie für alle meiner Generation und für die weitere Entwicklung nötig und wichtig, denn wir wurden nicht nur zum Nachdenken herausgefordert, sondern auch gezwungen, unseren eigenen Standpunkt zu finden. Deshalb möchte ich diese Zeit nicht missen. Nicht zuletzt wegen der Erfahrungen, die ich im Zusammenleben mit anderen in der Wohngemeinschaft gemacht habe. Die WG, damals schon ein nicht mehr ganz brandneues Kürzel für das zwanglose Zusammenleben junger Menschen unterschiedlichen Geschlechts unter einem Dach, war die Fortsetzung der Erziehung mit anderen Mitteln.

Die Achtundsechziger hatten damit angefangen. Sie wollten das Gegenmodell zur bürgerlichen, spießigen, autoritären Familie erproben. Neue, bessere Familien aus freien Individuen, die aus freiem Entschluss zusammenlebten, sollten ihre Kinder besser erziehen und so eine neue, bessere Gesellschaft verwirklichen. So wurde die WG zum Normalfall der studentischen Lebensform, für uns bereits eine Selbstverständlichkeit, für unsere Eltern etwas immer noch Fragwürdiges, für die Großeltern etwas Skandalöses, aber eines hatten alle miteinander übersehen, auch wir: Fern von der elterlichen Kuratel, wähnten wir uns frei und erwachsen. Wir glaubten, keine Erziehung und keine Erziehungsberechtigten mehr zu brauchen. Dabei erzogen wir einander gegenseitig. Oder versuchten es zumindest.

Als ich 1973 anfing zu studieren, war ich erst einmal in eine sogenannte Bude gezogen. Da rückte mir der Vermieter auf die Pelle. Also Umzug ins Studentenwohnheim, danach erste gemeinsame Wohnerfahrung mit einer Freundin, die jäh endete, weil diesmal die Vermieter, die unter uns wohnten, weder den «Lärm» unseres Plattenspielers noch abendlichen Herrenbesuch duldeten. Ich ging ins Ausland. Nach meiner Rückkehr aus den USA aber, 1975, musste alles ganz schnell gehen. Das Semester begann, und ich bezog ein WG-Zimmer in der Konstanzer Altstadt. In dieser WG bündelte sich wie in einem Brennglas jene Zeit Mitte der Siebziger, ihre Stimmungen, ihre politischen Glaubenssätze und die Typen, die sie hervorbrachte. Denn meine WG war so individuell und so typisch zugleich wie nur möglich. Deshalb soll hier von ihr die Rede sein.

Ich beginne mit jener Nacht, in der ich gegen ein Uhr morgens nach Hause kam und gleich wusste, was los war: Die Kälte des alten Hauses umfing mich, ich war todmüde, aber jetzt musste ich in den dunklen Keller hinunter, denn ein Blick auf die Ofendienstliste belehrte mich darüber, dass ich, bevor ich die Wohnung als Letzte verließ, hätte Kohlen nachlegen müssen: Ich hatte den Ofen ausgehen lassen, deshalb sollte ich besser dafür sorgen, dass die Bude wieder warm wurde, bevor die anderen aus ihren diversen Kneipen zurückkehrten.

Ich griff mir also eine Zeitung, den Kellerschlüssel und stieg hinunter in den alten, kalten Kohlenkeller mit der Funzel an der Decke und den Spinnweben in allen Ecken. Eine langwierige Prozedur stand mir bevor: Die Asche musste herausgeholt, Papier zusammengeknüllt und so gestopft werden, dass es Luft zum Brennen hatte, dann kam das Holz dazu, nicht viel, kleine dünne Scheite, sie mussten nur den ersten Flammen genug Nahrung bieten, damit die Kohlen, die man in geringer Menge dazulegte, Zeit hatten, Feuer zu fangen. Um schließlich die Glut so zu schüren, dass sie nicht gleich wieder erlosch, mussten nun Kohlen in kurzer Folge nachgefüttert werden, Schaufel um Schaufel, ohne dabei das Feuer zu ersticken – manchmal dauerte es Stunden, bis man den Ofen wieder im Griff hatte.

Ich setzte mich auf das ausrangierte Sofa mit der abgewetzten Samthaut, das frühere Bewohner in den Keller entsorgt hatten, so, dass ich das Feuer im Blick hatte, und sinnierte darüber, woher ich kam und wohin ich ging und wie sich die zweite Hälfte meines Studentenlebens bisher anließ.

Ich wohnte nun im Hochparterre eines alten Hauses von vor der Jahrhundertwende, die WG hatte ihr schönstes Zimmer auf dem Schwarzen Brett angeboten, also hatte ich mich aufgemacht zu einem Antrittsbesuch. Dass ich keinen von ihnen kannte, schreckte mich nicht – neue Leute kennenzulernen, war ich gewohnt nach meinem Jahr in der Neuen Welt. Und dass die WG als «linkes Nest» berühmt-berüchtigt war, machte mir ebenfalls nichts aus, denn nach einem Jahr unter mehr oder weniger ahnungslosen, entweder konservativ-biederen oder gänzlich unpolitischen Collegestudenten in den USA hatte ich einen gewissen Nachholbedarf an Streit und Auseinandersetzung. In Amerika hatte ich indessen gelernt, dass man mit Offenheit und Neugier am leichtesten Sympathien gewinnt. Und so wollte ich den zukünftigen Mitbewohnern begegnen.

Sie residierten in einer Altbauwohnung direkt am Rhein, und von dem frei gewordenen Eckzimmer aus blickte man auf einen komischen Heiligen, der sich grau und steinern auf der Balustrade vor dem Fluss in die Höhe reckte. Da wollte ich wohnen, am Rhein, meinem Fluss von jeher. Nun saß ich aber erst mal in der Küche, die aussah wie alle Küchen in allen WGs zu dieser Zeit, mit aufgehängten Henkeltassen unterm Holzboard und verklebten Gewürzen darauf, hielt meinen Kaffeebecher fest und blickte erwartungsfroh in die Gesichter um mich herum, drei Männer und eine Frau, und ich wusste, das WG-Leben würde nicht ganz einfach werden.

Birgit, die etwas älter war als ich, wohnte im Zimmer nebenan. Sie studierte Psychologie und Philosophie, hatte raspelkurze Henna-Haare, kaute Fingernägel und wusch täglich ihre Kleidung, auch den Pullover, der dann auf Handtücher gebettet den gesamten Platz auf der Waschmaschine im Bad einnahm, weshalb diverse Necessaires und Rasierutensilien auf den Fußboden wanderten.

In den ersten Wochen musterte mich Birgit ziemlich kritisch. Als sogenannte undogmatische Linke und aktive Feministin engagierte sie sich stark in ihrer Frauengruppe. Dort besprach man, nein, «frau», wie sie konsequent sagte, Beziehungsprobleme, analysierte die Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern und beriet sich darüber, wie frau sich unabhängiger machen könne von den Typen. Da sie sich gerade von ihrem Freund getrennt hatte, war ihr die Frauengruppe zur Aufarbeitung der gescheiterten Beziehung wichtiger denn je. Außerdem interessierte sie sich für weibliche Selbstheilungsmethoden bei Pilzinfektionen unter Zuhilfenahme von Quark oder Joghurt, lehnte Tampons als künstlichen Eingriff in den natürlichen Fluss des Blutes ab, und nachdem sie den Aluminiumstreifen mit den eingeschweißten Monatspillen in meinem Zahnputzglas entdeckt hatte, bat sie mich zu einer Aufklärungsstunde bei Kräutertee in die Küche. Ob ich mir nicht bewusst sei, was ich mir antue mit der hormonellen Bombardierung meiner Eierstöcke, fragte sie vorwurfsvoll; dass ich mir – langfristig! – die Gesundheit ruiniere und doch schließlich wissen könne, dass die Pharmaindustrie eine Männermafia sei, der Profit bekanntermaßen über Frauengesundheit gehe, und dass ich mich mit der Pillenfresserei nicht zuletzt als willfähriges Sexualobjekt für Männer erweise, die sich bei mir also um nichts zu kümmern brauchten.

Sexualobjekt sei ich aber nicht, widersprach ich, noch nie gewesen! «Wenn schon, dann Sexualsubjekt, bitte schön: Ich pflege selbst zu entscheiden, wann und mit wem ...» Und was die Pille angehe, so sei ich als Arzttochter ... Weiter kam ich allerdings nicht. «Ach so, dann ist ja alles klar», sagte sie spöttisch und ein bisschen mitleidig, das habe sie sich schon gedacht, dass es mir schwerfalle, mich von meiner bürgerlichen Prägung und den damit verbundenen Gewissheiten freizumachen, dem naiven Glauben an Forschung und Wissenschaft und Fortschritt.

«Aber verdanken nicht gerade wir Frauen der Pille unsere Freiheit?», fragte ich: «Wir müssen keine Angst mehr haben, ist das denn nichts? Wenn ich denke, was meine Mutter noch ausstehen musste, nicht nur vor der Ehe, erst recht danach, als sich immer sofort ein Kind einstellte, drei allein mitten im Krieg, und sie nicht wusste, ob ihr Mann zurückkommt ...»

«He, wir haben 1976, der Krieg ist schon ein bisschen her, was erzählst du mir denn da für Dönekes?», erwiderte sie spöttisch. «Wir müssen jetzt nicht mehr alles glauben, was Schering uns einredet und es Freiheit nennt, damit wir allzeit bereit sind und die Männer endlich können, wie sie wollen. Du musst mal aufwachen, wir sind ein Stückchen weiter inzwischen, wir Frauen.»

In ihre Frauengruppe lud sie mich nicht ein, ich war für sie keine Feministin, auch wenn ich Emma abonniert hatte und Häutungen von Verena Stefan las. Feministinnen trugen ihre Haare nicht mehr lang wie ich und malten sich im Gegensatz zu mir auch nicht an.

Jeden Morgen maß Birgit ihre Temperatur, so lernte frau ihren Körper kennen, wusste, wann ihr Eisprung war, und konnte Vorsorge der unbedenklichen Art treffen. Es gab noch andere natürliche Methoden, mit dem eigenen Zyklus vertraut zu werden, so natürlich, dass man nicht mal ein Fieberthermometer brauchte, nur die Finger und einen Spiegel, um zu erkennen, wann frau fruchtbar war und wann nicht: «Die männerdominierte Gynäkologie kann mir gestohlen bleiben!» Das ging mir aber nun wirklich zu weit, so natürlich wollte ich es nicht haben, ich tat ja auch Süßstoff in meinen Tee und benutzte ein Deo, und damit war klar, dass ich ein hoffnungsloser Fall blieb.

Birgit liebte es, die Wohngemeinschaft ab und zu mit neuen Ideen aufzumischen, über die dann stundenlang diskutiert werden musste. Eine davon verfocht sie desto hartnäckiger, je mehr Ablehnung ihr von uns entgegenschlug: Alle sollten ihre Türen aushängen. Das war ihr Lieblingsprojekt. Geheimnisse seien pubertär, Privatheit müsse als ein überkommenes bürgerliches Ideal betrachtet werden, die neue Zeit erfordere einen anderen Umgang mit uns und unserem Leben, wir sollten unsere Verklemmtheit ablegen und unser Leben offen führen – das war ihr Ziel, ihre spezielle Interpretation der Botschaft, dass das Private politisch sei.

Natürlich gab es oft Streit in der WG, und wenn ich bei den hitzigen Diskussionen am Küchentisch zu vermitteln versuchte, warf Birgit mir vor, dass ich die Widersprüche nicht aushalten könne. War ihr Maß an Widerspruch von andrer Seite jedoch voll, zog sie sich in ihr Zimmer zurück und ließ sich ein paar Tage nicht mehr blicken.

Da ich einer streitbaren und diskussionsfreudigen Familie entstamme, fand ich unsere Auseinandersetzungen zwar grundsätzlich akzeptabel, aber manchmal wurde es mir einfach zu viel, mich für alles rechtfertigen zu müssen, für die Männer, die ich küsste, die Filme, die mich beeindruckten, und die Bücher, die ich las: «Wie, du hast nur Literatur des 19. Jahrhunderts belegt – plus ‹Geniekult im Sturm und Drang› –, und das als politischer Mensch und Feministin? In welcher Zeit lebst du eigentlich?», hieß es dann. Oder: «Was, du fährst Weihnachten noch nach Hause, zu Christstollen und Tannenbaum? Wohl nicht abgenabelt von Mami und Papi, unsere Petra.» Wer auf sich hielt, lehnte Weihnachten ab – als hohl gewordene bürgerliche Tradition, als Mischung aus Sentimentalität und Konsumrausch – und verbrachte den Heiligabend in der Stammkneipe, beim Spanier.

Birgit war die entschieden Unkonventionellste von uns allen. Wochenlang tat sie nichts im Haushalt, und wenn man ihr das vorhielt, fragte sie mit ironischem Tonfall zurück: «Sind denn die Frauen mal wieder für Ordnung und Sauberkeit zuständig? Ihr Jungs seid doch schon groß, das könnt ihr doch schon selber.» Dann aber, wenn zumindest einer der Jungs, nämlich Olaf, bereits zweimal tätig geworden war, wenn wir alle trotzig abwarteten, was passieren würde, und sich schließlich das Geschirr in den Himmel stapelte, krempelte Birgit plötzlich die Ärmel hoch, wusch alles ab, räumte auf, putzte und kochte anschließend sogar noch für uns alle. Da fanden wir sie dann direkt liebenswert. Kam aber nur zweimal im Jahr vor. Sonst ging sie den Männern mit ihrer Frauengruppe auf die Nerven. Allerdings ging ich den Männern ebenfalls auf die Nerven, weil ich den Haushalt immer organisieren und durchplanen und meine bürgerlichen Vorstellungen von Ordnung nicht ablegen wollte.

Die nämlich waren verpönt. Dienstpläne waren für Spießer. Bei uns galt die Devise: Jeder sieht, was zu tun ist, und tut es – wenn er denn gerade Zeit hat. Leider hatten wir alle wenig Zeit, und manche gar keine. Nur wo es sich absolut nicht vermeiden ließ, zum Beispiel für die Kohlenheizung im Keller, musste ein Plan her. Und neben dem Telefon lag ein Buch, in dem man notieren sollte, wie viele Einheiten man vertelefoniert hatte. Olaf kümmerte sich am Monatsende um die Abrechnung und bekam jedes Mal einen Tobsuchtsanfall, wenn sich herausstellte, dass wieder dreißig bis vierzig Einheiten nicht aufgeschrieben worden waren.

Die Männer bei uns fühlten sich als die politischen Köpfe; Olaf stand den Maoisten nahe, studierte Politologie und Geschichte und schrieb gerade eine Magisterarbeit über die deutsche Arbeiterbewegung. Morgens las er den politischen Teil der FAZ im Bett, weil die am besten und objektivsten über China berichtete, wie er sagte, und wenn seine Freundin da war, bekam sie das Feuilleton. Lieber sah er es, wenn sie schon mal in die Küche ging und Kaffee machte.

Heiner studierte Jura, gehörte zum MSB Spartakus und sympathisierte mit der DKP. Da ich sowohl die DDR als auch die Sowjetunion von Reisen kannte – ein Teil meiner Familie lebte in Sachsen, ich studierte Russisch und hatte schon in den ersten beiden Studienjahren Sprachaufenthalte in Moskau, Leningrad und Wolgograd absolviert –, konnte ich mit ihm streiten. Und er verteidigte kunstvoll, was ich beklagte: Mauer, Überwachung und Zensur als Schutz der Gesellschaft vor ihren Feinden, Schutz nicht zuletzt für jene, die den imperialistischen Einflüsterungen des Westens zu erliegen drohten und ihrem besseren Land den Rücken kehren wollten. Der Weltkapitalismus war auch für den Mangel in den Geschäften verantwortlich, er strangulierte die Wirtschaft im Osten, und überhaupt stünden hier die Kinderkrankheiten eines Systems zur Debatte, das seine Chance erst noch bekommen musste – der Sozialismus war ja nicht das Ziel an sich, sondern lediglich der Übergang zum Kommunismus, dem erstrebenswerten idealen Endzustand der Gesellschaft.

In diesen Diskussionen begriff ich vor allem eines: dass sich mit Sprache alles machen lässt, wenn man sich nur die Deutungshoheit anmaßt. Offensichtliches Unrecht, grobe Mängel, eindeutige Missstände kann man so interpretieren und darstellen, dass der Moralist und Ankläger plötzlich als politischer Ignorant dasteht. Dass und wie mit Sprache Macht ausgeübt werden kann – «Wie, du hast das Kapital nicht gelesen?» –, lernte ich weder in der Literatur noch in der Literaturwissenschaft, sondern in meiner WG, in den Vollversammlungen des Asta, in den Kneipen und an den Uni-Büchertischen.

Die Grundsatzdiskussion mit Heiner wiederholte sich glücklicherweise nicht allzu oft, denn Heiner selbst hatte keinerlei Interesse, sich mit einem in seinen Augen abgedrifteten Maoisten, einer nur beschränkt ernstzunehmenden politischen Romantikerin (mir) und einer Hardcore-Feministin herumzuschlagen, die ihn, mit meiner Unterstützung, ständig auf die Pseudoemanzipation der Frauen in den Ostblockländern hinwies, die zwar Presslufthämmer betätigen, nicht aber im Zentralkomitee am Tisch der Mächtigen sitzen durften, weil sie ja nach der Arbeit noch den Haushalt zu erledigen hatten.

Mit Olaf habe ich mich zunächst am wenigsten vertragen. Ich hasste es, wenn er spät nach Hause kam und dann die Stereoanlage aufdrehte, obwohl er wusste, dass ich den nächtlichen Ofendienst schon versehen hatte – wir unterschrieben immer, dass wir Kohlen nachgelegt hatten, so viel Ordnung musste sein bei uns Anarchisten – und längst im Bett lag und schlief. Olaf kam selten allein; wenn seine Freundin dabei war, gab er meistens schnell Ruhe, manchmal aber brachte er Leute zum Feiern mit. Einmal ging es besonders wüst zu, es war zwei Uhr morgens, ich hatte ein Seminar um neun und kochte vor Wut. Ich beschloss, die Party zu sprengen. Stand auf und lief schnurstracks zu Olafs Zimmer am anderen Ende des langen Flurs neben der Küche. So, wie ich war, im geringelten Baumwoll-Nachthemd. Leider hatte mein Auftritt nicht den von mir gewünschten Effekt: Alle waren bester Laune und freuten sich außerordentlich, mich in meinem bizarren Aufzug zu sehen; selten in meinem Leben bin ich weniger ernst genommen worden. Olafs juveniler Geschichtsprofessor setzte sofort sein breitestes Grinsen auf, ergriff meine Hand und zog mich zu der Historikergruppe um sich herum. Olaf rief: «Mensch, Petra, jetzt sei mal locker und komm her, hier ist ein Wein für dich», und eh’ ich mich’s versah, tanzte ich zu Summer in the City von Lovin’ Spoonful und amüsierte mich doch noch ziemlich gut.

Von da an lief es besser mit uns. Eigentlich fand ich Olaf sogar sehr nett mit seinen langen dunklen Jesuslocken, die ihm bis auf die Schultern fielen, und seinem braunen Vollbart. Er kaufte gern ein, und da ihm Essen wichtig war, kaufte er bessere Sachen als wir anderen. Zum Beispiel frischen Fleischsalat vom Metzger. Darauf freute sich Olaf dann den ganzen Tag. Wenn er später den Kühlschrank öffnete und nur noch einen kleinen Rest davon vorfand, war der Abend gelaufen.

Ich aß keinen Fleischsalat, aus Angst vor den Mayonnaise-Kalorien, sondern bevorzugte fettarmen Gummi-Edamer, den niemand wollte außer mir, verstand aber gut, dass Olaf wütend wurde.

Den Fleischsalat aß regelmäßig der dritte Mann in unserer WG auf: Michael. Er aß überhaupt viel, kaufte jedoch selten ein und spülte nie. Michael studierte Germanistik und Geschichte im vierzehnten Semester, und ein Ende war nicht abzusehen. Er war freischwebend links und viel zu undiszipliniert, um sich mit irgendeiner Theorie näher zu befassen. Auch Lesen war nicht seine Sache, obwohl er Literatur studierte, er las Bücher stets nur an und benutzte für Seminararbeiten Zusammenfassungen und Literaturlexika. Oder schrieb Seminararbeiten von anderen ein wenig um. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, mit Inbrunst über die Texte zu diskutieren. Ich glaube, ich sah Michael («Bin halt ein oraler Typ») immer nur sitzen, reden, essen und trinken oder sitzen, reden, trinken und rauchen. Entweder in unserer Küche oder in der Kneipe. Und wenn er in der Uni war, traf man ihn in der Cafeteria, weil es in der Bibliothek aus irgendeinem Grund nicht auszuhalten gewesen war.

Beim Abendessen in der Küche benahm sich Michael so, dass alle anderen wie gebannt auf seinen Teller starrten, und das amüsierte ihn. Er pflegte sich nämlich nicht eine Scheibe Brot zu nehmen, sondern deren fünf. Die stapelte er so aufeinander, dass sie völlig deckungsgleich wurden. Dann zog er Margarine, Wurst und Käse mit großer Geste zu sich heran und begann, mit affenartiger Geschwindigkeit die fünf Brote eins nach dem anderen zu schmieren, zu belegen und zu verzehren, kaum dass er seine Suada dabei je unterbrach. Anschließend kam sofort die Kippe in den Mund.

Da die Wölbung seines Bauches immer stattlicher wurde und die vielen Gutedel-Viertele sein Gesicht mit dem rotblonden Bart noch roter färbten, nahm Michael sich plötzlich drei Dinge vor, die einen ganzen Mann erforderten: Er wollte abnehmen, das Rauchen aufgeben und Sport treiben – alles gleichzeitig. Darüber konnte er dann wochenlang reden. Das Abnehmen bewerkstelligte er mit Schorle: Statt sieben Viertel Gutedel trank er jetzt vierzehn Schorlen vom selben Wein, wenn wir zusammen ausgingen. Er rauchte zwei lange Abende nicht, sprach aber von nichts als der riesengroßen Zigarette, die einem Zeppelin gleich über seinem Kopf schwebe und ihm das Leben vergälle. Am dritten Abend siegte der Zeppelin. Dass er Sport trieb, hat keiner je gesehen, angeblich war er schon ein paar Kilometer am See gelaufen, wenn wir ihn im Biergarten entdeckten.

Michael hatte zu allem eine Meinung und große Pläne für sein Leben. Die Promotion war das nächste Ziel nach dem Examen und die beste Möglichkeit, sein Leben genauso weiterzuführen wie bisher. Mit Frauen hatte er wenig Glück, trotzdem beriet er andere gern in Lebens- und Liebesnotlagen, denn sein Erfahrungsschatz aus zweiter Hand war in tausend Kneipenstunden bemerkenswert angewachsen. Vor allem für mich entwickelte er eine Art brüderliche Bevormundung, verpackte seine eifersüchtige Kontrolle meines Liebeslebens geschickt in Ironie und Witz und kommentierte stets, was ich tat und unterließ.

Mein neuer Freund zum Beispiel fand keine Gnade vor ihm. Erstens war er mit sechsunddreißig viel zu alt für mich – «Da kommt dein Daddy wieder», pflegte Michael laut durch die WG zu brüllen, wenn ich abgeholt wurde –, außerdem sah er mit schwarzem Vollbart, schwarzer Hornbrille und schwarzem Rollkragenpullover viel zu gut aus. «Geradezu affig», wie Michael meinte, «macht wohl auf französischer Intellektueller, das gefällt unserer Petra natürlich!» Und zu allem Überfluss fuhr er einen großen Citroën. Mit einem Wort: die ideale Hassfigur für Michael. Aber auch Olaf mokierte sich über diesen Typen, der es mir angetan hatte, beanstandete seinen Was-kostet-die-Welt-Ton, in dem er am Telefon nach mir verlangte, und als mich Olaf (oder war es Michael?) vor einem seiner Besuche dabei erwischte, wie ich heimlich das Klo putzte, war ich fällig. Hohn und Spott wurden über mich ausgegossen: «Sind wir plötzlich ein Putzteufelchen geworden, weil der schicke Lover zu Besuch kommt? Ei der Daus! Muss sich unsere Petra ein bisschen genieren für den Dreckstall, in dem sie haust? Hat es wohl gern sauber, der Spießer, kann dir ja eine Putzfrau spendieren, wenn er so viel Geld hat.»

Ich setzte eine stoische Miene auf, erklärte, es gebe tatsächlich Ästheten im Gegensatz zu ihnen beiden, besprühte mich mit Opium, der neuesten Kreation von Yves St. Laurent, dem Geburtstagsgeschenk meines Freundes, und ging aus, um ihn zu treffen.

Als die Geschichte mit dem Citroënfahrer nach einem halben Jahr vorbei war, lobte Michael meine Klugheit und meinen sicheren Instinkt dafür, was beziehungsweise wer mir gut tue und wer nicht, und versprach, mir ein Viertele zu spendieren oder auch zwei, wenn ich mit ihm zusammen ins «Weinglöckle» ginge.

Einmal aber kam es zum Eklat. Olaf hatte ihn mehrfach darauf hingewiesen, dass er – «Herrgottsack!» – endlich das Geschirr spülen solle, Michael hatte es versprochen, war dann allerdings in die Weinstube enteilt – «Nur auf ein einziges Viertel!» –, hatte Bekannte getroffen und die Zeit vergessen. Nun stand auch der letzte Kaffeebecher schmutzig herum, obwohl wir Berge von Geschirr besaßen – jeder, der irgendwann in dieser Wohnung gelebt hatte, war offenbar ohne seine Sachen weitergezogen. Olaf sah rot. Er, der blasse, besonnene Olaf mit dem Jesusgesicht, sah nicht nur rot, er lief auch so an, öffnete das Küchenfenster und begann, Tasse um Tasse, Teller um Teller, verklebt und eklig, wie sie waren, aus dem Fenster zu werfen. Birgit und ich und der gerade mit leicht geröteten Äuglein weinselig heimgekommene Michael standen in der Tür zur Küche und sahen zu wie vom Donner gerührt. Aber Olaf hörte erst auf, als alles draußen und alles kaputt war. Dann verließ er wortlos die Küche.

«Filmreif», sagte Michael, jetzt müsse er sich erst mal von dem Schreck erholen, steckte sich eine Zigarette in den Mund und lief schnurstracks zurück ins «Weinglöckle». Ich ging zum Fenster und sah hinunter. Ein Berg bunter Scherben türmte sich im Kellereingang unter uns.

Anderntags berief Olaf eine WG-Sitzung ein, forderte von jedem 50 DM und kaufte mit Michael zusammen die gebrauchte Spülmaschine eines Nachbarn.

Das alles und wie mein Leben nach dem Examen weitergehen sollte, bedachte ich, als ich das Feuer in unserem gottverdammten Ofen bewachte. Plötzlich hörte ich Schritte im Keller und erschrak zu Tode. Eine große dunkle Frau näherte sich, nein, es war Olaf, der Langlockige, der inzwischen heimgekommen und die Kellertür angelehnt gefunden hatte. Er hatte sich mit seiner Freundin gestritten und setzte sich zu mir aufs Sofa, um seinen Frust loszuwerden. Und da saßen und erzählten wir noch, als der, Ofen längst munter bollerte und für viele Stunden versorgt war. Am Ende küssten wir uns und gingen ins Bett, jeder in seins, denn eines war klar geworden, wir verstanden uns verdammt gut und wollten, dass das so bliebe. Also entschieden wir uns gegen die Liebe in jener Nacht und für die Freundschaft, und sie hat bis zum heutigen Tag gehalten.

Reifeprüfung

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