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Es wird Ostern und zum Glück hat sich einiges im Leben der Familie Wagner verändert. Ein bahnbrechender Sieg ist zu verzeichnen, denn Klein Peter schläft des Nachts durch, als wäre ein Uhrwerk in seinem Bauch eingebaut. Nach einem letzten, kräftigen Zug aus der Nuckel-Flasche, gefüllt mit Kindernahrung, folgt kurz darauf ein zarter Rülpser und ihm fallen die himmelblauen Augen zu. Helga oder Egon, wenn er denn schon zu Hause ist, legen das satte Bündel vorsichtig in das weißlackierte Gitterbett im Schlafzimmer. Der Stubenwagen hat ausgedient, steht in der Bodenkammer und wartet auf weitere Einsätze. Aber die liegen in den Sternen. Die beiden Elternteile haben zwar ihr normales Eheleben wieder aufgenommen, aber Helga fühlt sich sicher und frei, jetzt mit der grünen Antibabypille. Sie will nichts mehr dem Zufall überlassen.

In diesem April steht ein weiterer Höhepunkt im sozialistischen Familienleben an, ihr Sohn wird seine Namensweihe erhalten. Ähnlich wie bei der kirchlichen Taufe, werden an diesem Festtag die kleinen Erdenbürger in die Gesellschaft der Arbeiter und Bauern aufgenommen. Es gibt eine Urkunde und 50 oder 100 Mark, je nach Finanzlage des Betriebes, der diese feierliche Aufnahme richten muss. Egon weiß bereits vorher, dass nur der kleinere Betrag im Sparbuch seines Sohnes auftauchen wird; das Ziegelwerk hinkt der Planerfüllung hinterher. Steine können nicht beliebig hochgerechnet werden, sie fehlen real fürs Fundament eines jeden Hauses. Das zweite Problem ist, er müsste eigentlich als Parteisekretär die Rede halten. Aber wie soll das gehen, er ist doch der Vater. Doch die Partei hat immer einen Rat, sein Schwiegervater als strammer Genosse wird die Zeremonie richten und auch die Rede halten.Der Speisesaal im Werk wird liebevoll geschmückt, mit künstlichen Blumen und rotem Fahnenstoff. Das Spruchband, das vorn über dem Rednerpult hängt, kann bleiben, denn das stimmt stets „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“. Überhaupt die gesamte Festgarnitur wird diesen Monat noch kräftig gebraucht, denn am 21. April, ein paar Tage später, feiert die SED den 20. Jahrestag ihrer Gründung.

Alle sind in Feierlaune, nur Peter spielt nicht mit. Bei dem zarten Jungen mit den noch immer roten Haaren, die jetzt üppig wachsen, wird eine Bronchitis diagnostiziert. Helga hat zum Glück einen guten Draht zur Kinderärztin in der Poliklinik, wo sie vor ihrer Mutterschaft so aufopferungsvoll als Krankenschwester arbeitete. Der Patient wird so eingestellt, dass er seinen Ehrentag gut überstehen kann.

Ein feierlicher Sonntag mit allem Drum und Dran. Später nach der offiziellen Feier haben Helga und Egon die beiden sozialistischen Paten, Trude und Paul Wagner, nebst einiger Genossen vom Parteikollektiv zum Abendbrot in ihre vier Wände eingeladen. Peter, die Hauptperson, schläft müde von seinem Auftritt und aller Medizin, erschöpft im Gitterbett. Helga und ihre Mutter haben ihn zu Bett gebracht und schauen auf den Kleinen. Mutter Trude will etwas von ihr, dass spürt Helga und wirklich, was sie jetzt zu hören bekommt, dass macht sie sprachlos. Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Es ist wie eine Befreiung aber gleichzeitig ein Albtraum. Ihre Mutter spricht stockend und betont, dass alles mit ihrem Vater Paul abgesprochen ist. Eigentlich hat der sie auf diese Lösung gebracht. Sie nimmt die Hand ihrer Tochter: „Du bist nicht glücklich mein Kind, dass merkt eine Mutter. Das Kind von morgens bis abends um dich herum, dass beengt dich und behindert dich in der Entfaltung deiner sozialistischen Persönlichkeit.“ Sie verschweigt tunlichst, dass ihr eigenes Interesse eigentlich im Vordergrund steht. Ihr fehlt eine Person, die sie bemuttern und verwöhnen kann. Da kam der gezielte Vorschlag ihres Göttergatten gerade recht, sich gemeinsam um die Erziehung ihres Enkels zu kümmern. Paul Wagner traut seinem Schwiegersohn keine starke Hand zu. Andere Gründe verschweigt er, aber das reicht schon. Helga ziert sich noch etwas und lässt sich von ihrer Mutter mit neuen, weiteren Argumenten bombardieren, bis sie scheinbar traurig ihre Einwilligung dazu gibt. Jetzt muss sie nur noch ihren Ehemann auf diese Schiene schieben. Ihre Mutter blinzelt ihr zu, beide Frauen wissen, was dafür die besten „Argumente“ sind.

Zwei Wochen später ist es dann so weit, der Trabant wird mit den Sachen des kleinen Peter beladen, der Junge in seine Babytrage gelegt und ab geht es nach Altwarp. Helga hat gar nicht lange gebraucht, ihrem Egon das andere, das frühere Leben, schmackhaft zu machen. Auch die Aussicht, dass seine Frau wieder arbeitet, findet er gar nicht schlecht. So wird sie sicher wieder die Frau sein, so wie er sie kennt. Alles scheint zu einem schnellen Ende und zu einem glücklichen, neuen Beginn zu kommen. Der Trabant tuckert über die Landstraße, über große Schlaglöcher und an den hohen Bäumen am Straßenrad vorbei, die erste zarte grüne Blätter tragen. Es wird Frühling im Land am Oderhaff, das früher Stettiner Haff hieß. Aber an diese alte Zeit da sollte oder wollte sich keiner zurückerinnern.

Peter, das Baby, mit seinen vielen Sommersprossen und dem lockigen, feuerroten Haarschopf braucht gar nicht viel zu tun, um zum Liebling seiner Großeltern zu werden, die jetzt eine ganz neue Rolle übernehmen. Oma Trude schüttet all ihre Liebe aus vollen Kannen über ihren Enkelsohn. Das Bürschchen, so klein es auch ist, nutzt das schon aus. Es kreischt zum Steinerweichen, um noch etwas vom süßen Honig um den Schnuller gestrichen zu bekommen, den er dann glücklich nuckelt und zu gleich darauf sanft schlummert. Opa Paul schaut wohlgefällig und stolz auf seinen Enkel, der nicht nur in Aussehen und Statur, die Linie der Familie Wagner verkörpert. Sogar in seinem lauten Schreien deutet er ein gewisses Durchsetzungsvermögen, dass er schon im zarten Kindesalter weiter fördern wird. Anders als die „angeheirate“ Familie Richter, deren Herkunft nicht einmal geklärt ist. Über seinen Schwiegersohn Egon existiert nur eine dünne Akte aus dem Kinderheim mit dem Vermerk „Mutter Tod, Vater unbekannt“. Er selbst hat sich seit Jahren väterlich dieses ungeschliffenen Jünglings angenommen und letztendlich haben sich seine Tochter und Egon verliebt. Das vermeintliche Ergebnis dieser Verbindung liegt jetzt hier im Kinderbett. Wohlgefällig nickt er, er kennt alle Zusammenhänge und will nichts, aber auch gar nichts, dem Zufall überlassen. Sollen die jungen Leute in der Stadt ihr Leben leben. Das ist besser für das Kind, das hier ein geregeltes Zuhause hat; so sinniert er, zieht die Bettdecke sachte bis fast unters Kinn seines Lieblings und geht ins Wohnzimmer. Er hört das altbekannte Abendgeräusch: Die Nadeln des Strickzeugs, dass seine Angetraute in ihren Händen hält, stoßen leise im Takt aneinander. Bequem, ihre müden Beine auf der Fußbank gelagert, sitzt sie in einem der beiden Sessel und das blaue Jäckchen für ihren Enkel ist fast fertig. Es fehlt nur noch das Bündchen und zufrieden streicht sie über das kleiner werdende Wollknäul, es weckt Erinnerungen, denn früher war es ursprünglich ein Pullover. Er fristete sein Dasein neben anderen Anzieh- und Spielsachen in der abgeschabten Holztruhe, die Erinnerungen ihrer geliebten Tochter Helga enthält, eingepackt in Zeitungspapier und nach Mottenkugeln duftend, oben auf dem Dachboden. Helga hatte gekramt, sich in vergangene Zeiten geträumt und wiederverwertbares gesucht. Hier kommt nichts um, hier wird aus altem, immer wieder neues. Wie jetzt diese Jacke im Waffelmuster. Paul klopft seiner Trude auf ihre Schulter, das ist schon eine große Liebkosung, denn er geht mit Zärtlichkeiten für sie sparsam um. „Wir sind doch keine zwanzig mehr und aus dieser Verliebtheit raus“, entgegnet er würdevoll, wenn Trude ihn ab und an vorwurfsvoll im Schlafzimmer anschaut. Zielgerichtet schaltet er jetzt das Fernsehgerät, einen Rafena Record, der auf vier schmalen Beinen neben der dunklen Anrichte steht, an. Es ist höchste Zeit, die „Aktuelle Kamera“ läuft bereits. Er zündet seine Casino-Zigarette an und lauscht, was der Nachrichtensprecher vermeldet. Der erste Atomreaktor sei in Rheinsberg ans Netz gegangen. Paul räuspert sich stolz und steuert seinen Kommentar bei, von der Überlegenheit des Sozialismus und so, so laut, als würde er am Rednerpult vor seinen Genossen stehen. Oma muss ihn stoppen und pikst ihn mit der Stricknadel sanft, um Ruhe zu bekommen. Das versteht er und zieht ab diesem Moment nur noch wortlos an der Zigarette bis zum Ende des Fernsehabends.

Unter der Brücke

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