Читать книгу Unter der Brücke - Petra Pansch - Страница 9

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Kraftlos und unruhig liegt Helga im Krankenzimmer. Sechs Wöchnerinnenbetten stehen ausgerichtet in Reih und Glied, drei links an der Fensterfront und drei rechts an der weißen Wand gegenüber. Die anderen Frauen schlafen bereits. Aber das macht es hier nicht angenehmer und leiser. Jedes, noch so kleine Geräusch, scheint durch die Höhe des Raumes ins Unermessliche reflektiert zu werden. Oder spielen die Nerven ihr einen Streich. Sie versucht zur Ruhe zu kommen, presst beide Hände auf ihren Bauch. Ihr Unterleib schmerzt noch nach der Prozedur vorhin im Untersuchungszimmer. Ein Arzt in Assistenz einer Krankenschwester haben nämlich diese ungewöhnliche Geburt zu Ende gebracht. Die Nachgeburt musste mit Presskraft unterstützt von außen, geholt werden. Dann endlich darf sie den neuen Erdenbürger, der gebadet, frischgewickelt und schreiend zu ihr gebracht wird, an die Brust legen. Er beißt kräftig zu, nuckelt die Milch und endlich kehrt Ruhe in Helgas Körper ein. Sie genießt dieses neue Gefühl und schaut sich dabei diesen kleinen Charakterkopf an. Ziemlich unförmig ist er, im Gegensatz zum ganzen Kerl, aber so putzig, besonders die sehr sparsam verteilten Haarbüschel in Feuerrot. Aber das wächst sich sicher noch raus, denkt sie. Nach Aussage ihrer Mutter hatte sie selbst als Baby rote Haare und heute sind diese glänzend dunkelbraun. Lange dauert dieses Zusammensein nicht, der noch Namenlose ist eingeschlummert, wird ins Säuglingszimmer gebracht und sie auf Wöchnerinnenstation. Alles muss eben seine Ordnung haben, obwohl der Kleine dabei wach wird und zum Steinerweichen schreit.

Ihr Mutterherz weint mit, aber das zählt alles nicht. Die Nachtschwester kommt mit einem Glas und Beruhigungstropfen. Die Bitteren werden von ihr ohne große Reaktionen geschluckt, sie will endlich Ruhe. Kurz danach schläft sie ein. Im Traum sieht sie sich auf einer Frühlingswiese mit vielen Blumen und einer ausgebreiteten Decke. Darauf eng aneinandergeschmiegt sitzt Helga mit ihrem Egon und lässt sich stürmisch küssen. Erst passiv, wie es sich für eine sittsame junge Frau geziemt, doch nicht lange, dann erwidert die Schöne, ohne groß zum Nachdenken und zu Atem zu kommen, sein Werben. Die Träumerin lächelt im Schlaf, als scheint sie zu ahnen, was jetzt geschieht. Es liegt nämlich mehr in der Luft als Knutscherei, die Zeit ist reif dafür. Ihr Kavalier greift gekonnt nach mehr…Nicht gerade sanft wird an ihr gerüttelt und sie hört laute Stimmen, es ist kurz nach fünf Uhr am nächsten Morgen und um diese frühe Zeit beginnt dieser Mittwoch in der Frauenklinik. Fiebermessen, Pulszählen und Verdauungsfragen prasseln auf sie ein und ihre Antworten sind einsilbig. Aber das ist die dicke Schwester gewöhnt, ihr gestärktes Häubchen sitzt kerzengerade auf dem schwarzen Dutt und die weiße Schürze spannt über dem großen Busen. Sie könnte eine gute Reklame für den Slogan sein: „Das Beste für den sozialistischen Erdenbürger ist die Muttermilch.“ Die ist gesund und (fast) immer vorhanden. Ganz anders ist das bei der herkömmlichen Säuglingsnahrung, bei Milasan und Babysan. Mit Routine schreibt die Pflegerin alles auf einem Bogen Papier und dann erst gibt es Frühstück. Danach werden die Neugeborenen von zwei jungen Schwesternschülerinnen gebracht. Sie liegen hungrig schreiend in einem geflochtenen Korb. Lächelnd heben die eines nach dem anderen heraus und reichen es den ungeduldig wartenden Müttern. Helga ist in Sorge, denn der Kleine ballt die Minifäuste und sein Kopf ist rot vor Anstrengung. Schnell legt sie ihren kleinen Schreihals an die Brust. Nun wendet sich alles zum Guten und er nuckelt zufrieden. Nach der Abfütterung schläft der kleine Racker, den Helga zärtlich Peter nennt, sofort wieder ein. Die satten Kinder werden wenig später wieder einsortiert und weggebracht. Alles muss seine Richtigkeit haben und läuft nach strengem Plan. Die Mütter dürfen nur auf ihrem Gang über die Flure die „Neuen“ hinter Glas beobachten oder werden zum „Unterricht“ an ihrem Kind gerufen. Dabei lernen sie, wie sie dann später zu Hause das Wohlergehen derer in den Griff bekommen. Dieser Tag und auch die nächsten bis zur Entlassung werden genauso gleichförmig ablaufen, außer heute, denn es ist Mittwoch und nachmittags ist eine Stunde Besuchszeit. Helga platzt vor Stolz und zählt die Stunden, sie will endlich ihrem Egon den Stammhalter präsentieren. Krampfhaft überlegt sie, wie sie ihrem Ehemann den Namen Peter schmackhaft machen kann.

Zuhause kommt Egon heute Morgen nicht richtig in die Gänge. Er ist müde, er ist nach dem Kneipenbesuch verkatert und ihm ist kalt. Am liebsten hätte er den Wecker gegen die Schlafzimmerwand gedonnert, aber er beherrscht sich, hüllt sich in den braungrünen Bademantel, angelt die Hauschuhe unterm Bett hervor und verschwindet mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand eine halbe Treppe tiefer, aufs Trockenklo. Später macht er Wasser heiß, holt Kaffee und Filter aus dem Küchenschrank. Nach dem starken Kaffee sieht die Welt schon etwas besser aus und ihm ist auch etwas wärmer, zumindest im Bauch und er greift zur ersten Zigarette. Heute traut er sich das, denn Helga schaut ihn nicht strafend an. Dann schmiert er sich ein Margarinebrot und gibt sich einen großen Löffel Pflaumenmus drauf. Lecker, das Süße mag er, mit viel Zucker und Zimt. Ihm geht es schon viel besser und nachdem er den Zigarettenstummel im Ascher ausgedrückt hat, zündet er sich eine neue an und greift zum Telefon, das noch von gestern Abend hier steht und ruft bei seinen Schwiegereltern in Altwarp an. In dieses kleine Kaff, das 20 Kilometer weiter weg vor sich hinträumt, wo man bei gutem Wetter den polnischen Nachbarn fast auf den Küchentisch schauen kann, dorthin bei diesem Schnee und Eis zu fahren, dazu hat er keine Lust. Also genießt er das Privileg, per Fernsprecher Rat in Frauensachen zu holen. Das ist das für ihn doppelt beglückend, er ist im Kinderheim groß geworden und kannte es nicht, nahestehende Menschen, um Rat fragen zu können. Egon akzeptiert und respektiert seinen Schwiegervater Paul, der ihm vieles auf seinem bisherigen Weg geebnet hat. Auch seine jetzige Funktion als Parteisekretär, hat er ihm zu verdanken. Die Schwiegermutter, das ist ein anderes Kapitel, die Trude ist auch Genossin und ziemlich selbstbewusst. Die möchte ihn formen, nach ihren Wünschen als gleichberechtigten Ehemann für ihre Tochter. Das passt ihm nicht, denn ein Mann ist immer noch der Mann und das Wichtigste im Hause und besonders im Hause Richter. Deshalb ist Egon froh, dass er den Bass seines Schwiegervaters am anderen Ende der Leitung hört. Die Glückwünsche über den Stammhalter fliegen hin und her. Beide Männer klopfen sich symbolisch auf ihre nicht gerade breiten Schultern und verabreden sich für den Abend in der Stammkneipe „Ums Eck“, um auf den Kleinen so einige Biere zu heben. Doch Egon bleibt nichts anderes übrig als nach Neu-Oma Trude zu verlangen, denn sein Schwiegervater kann ihm bei den Frauensachen nicht wirklich beraten, geschweige denn helfen. Also flötet er liebevolle Grüße an die Oma in die Muschel und stellt gleich darauf seine Fragen. Glücklicherweise nimmt ihm seine Schwiegermutter den peinlichen Kauf von Monatshygiene ab. Sie besorgt alles in der Kaufhalle, zum Glück hat sie auch noch Sicherheitsnadeln im Nähkorb, denn bei letzteren Dingen sieht sie schwarz. Solche Pikser sind im Moment schwer zu kriegen. Gegen Mittag wird sie alles im Krankenhaus abgeben. Egon atmet auf, so wird er heute Nachmittag allein bei seiner Helga sein. Seine Schwiegermutter verschweigt ihm tunlichst, dass sie jemanden Wichtiges im Krankenhaus kennt. Sie und ihr Mann werden schon vor der Besuchszeit ihre Tochter und den Kleinen sehen können. Die Beiden schmieren sich noch etwas Honig mit Worten ums Maul und wünschen sich als dann einen schönen Tag. Später singt Egon in falschen Tönen aber laut „Lieb mich so wie dein Herz es mag“, den Schlager von Frank Schöbel und Chris Doerk, vor sich hin, irgendwie ist er beschwingt. Am eisernen Waschbecken werden die schwarzen Bartstoppeln aus dem Gesicht rasiert und gleich darauf nickt er stolz seinem Spiegelbild zu. Ich bin jetzt Vater und Hüter einer sozialistischen Familie, möchte er am liebsten hinaus in den Morgen posaunen. Fix zieht er sich fürs Arbeitsgeschehen an, heute greift er sogar zum Anzug. Was sein muss, muss sein.

Unter der Brücke

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