Читать книгу Wie Europa die Welt eroberte - Philip Hoffman - Страница 12
Ein Modell des militärischen Turniers
ОглавлениеWir verstehen jetzt ein wenig besser, warum Herrscher in den Krieg zogen. Für tiefer gehende Erkenntnisse brauchen wir das bereits erwähnte Turniermodell, das erklären wird, warum Westeuropas Herrscher in der Schießpulvertechnologie solche Fortschritte erzielten und warum ihre Kollegen anderswo in Eurasien zurückfielen. Obwohl es sich um ein mathematisches Modell handelt, lässt es sich ganz einfach mit Worten erklären – das hat den Vorteil, dass alle Gleichungen in Anhang A verschwinden können, wo diejenigen Leser, die mit ökonomischen Modellen vertraut sind, im Detail nachvollziehen können, was hier vor sich geht. (Oder Sie schauen in die Fußnoten, wo ich die wichtigsten Konzepte in einfache Algebra übersetzt habe.) Alle Leser, die sich keine Gleichungen ansehen möchten, lesen einfach meine Zusammenfassungen hier im Text. Sie reichen aus, um nachzuvollziehen, welche Erkenntnisse über das frühneuzeitliche Europa und den Rest der Welt unser Modell zu bieten hat.
Wir brauchen ein Modell, das uns erklärt, wieso welche Entscheidungen über Krieg und Militärausgaben getroffen werden, um den Sinn hinter all den Kriegen in Westeuropa aufzuspüren und nachzuvollziehen, wieso man so viele Ressourcen in sie hineinsteckte. Außerdem muss es die Verbesserungen in der Militärtechnologie erklären, und es darf nicht nur für Westeuropa gelten, sondern muss auch auf das übrige Eurasien anwendbar sein. Andernfalls wird es uns kaum dabei helfen, die entscheidenden Unterschiede zwischen Europa und Asien zu identifizieren.
Ein aus der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur abgeleitetes elementares Modell zu Konflikten und Wettbewerb ist hier ein greifbarer Ausgangspunkt.18 Auch wenn es komplexere Modelle gibt, die die Muster von Krieg und Frieden und von Militärausgaben, die wir in der Moderne beobachten können, besser zu erklären vermögen, sind sie weniger aussagekräftig, was die Rüstungstechnologie betrifft und den nahezu ununterbrochenen Kriegszustand, in dem sich Europa und Teile Asiens in der Frühen Neuzeit befanden.19 Und das einfache Modell reicht aus, um die letztendlichen Ursachen für Europas Vorherrschaft in der Schießpulvertechnologie herauszuarbeiten. (Leser, die etwas vertrauter mit ökonomischen Theorien sind, blättern einfach zu Anhang A.)
Beginnen wir ganz einfach damit, dass wir von zwei Herrschern der Frühen Neuzeit ausgehen, die erwägen, ob sie einen Krieg führen sollen oder nicht. (Die Argumentation ist die gleiche, wenn die außenpolitischen Entscheidungen in den Händen von Ministern, Beamten oder gewählten Vertretern liegen. In dem Fall können wir das Wort „Herrscher“ kurzerhand durch „Ministerpräsident“, „Chefberater“, „führender Parlamentarier“ o. Ä. ersetzen. Der Einfachheit halber werden wir hier weiterhin einfach „Herrscher“ sagen.) Wer den Krieg gewinnt, dem winkt ein bestimmter Gewinn – das kann vielerlei sein: Ehre, ein spezifisches Territorium, wirtschaftliche Vorteile, ein Anrecht auf die Thronfolge oder auch ein Sieg über die Feinde des „rechten Glaubens“.20 Damit das Ganze nicht zu kompliziert wird, nehmen wir an, dass der Verlierer nichts erhält. Aber selbst wenn der Herrscher eine Strafe dafür zahlen muss, dass er den Krieg verloren hat oder nicht in der Lage war, sein Königreich gegen einen Angriff von außen zu verteidigen, so bleibt das Modell im Wesentlichen gleich.21
Um den Krieg gewinnen zu können, muss der Herrscher bestimmte Maßnahmen ergreifen, wie sie in der Frühen Neuzeit üblich waren. Zunächst einmal muss er eine Armee aufstellen oder eine Flotte bauen lassen, und um das zu bezahlen, muss er ein Steuersystem einrichten. Die entsprechenden finanziellen und politischen Kosten fallen bereits an, bevor der eigentliche Krieg beginnt. Wenn ein Herrscher beispielsweise als Erster in seinem Land dem Volk Steuereintreiber auf den Hals hetzt, so muss er in Kauf nehmen, dass dies zu politischen Unruhen führt, noch bevor er auch nur einen Pfennig eingenommen hat, um seinen Krieg zu finanzieren. Der Einfachheit halber setzen wir voraus, dass diese Kosten feststehen und für beide Herrscher gleich sind.22
Neben diesen Fixkosten muss ein Herrscher bestimmte Ressourcen aufbringen, um den Krieg gewinnen zu können. Diese messen wir, indem wir alles Geld zusammenzählen, das er für Waffen, Kriegsschiffe, Befestigungsanlagen, Versorgungsgüter und Militärpersonal ausgibt. Zu dieser Summe können wir den Wert von zwangsverpflichteten Soldaten und beschlagnahmten Ressourcen hinzurechnen. Beide spielten im Europa der Frühen Neuzeit in der Regel keine so große Rolle, aber wir können ihren monetären Wert schätzen, indem wir ausrechnen, was es kosten würde, die gleiche Anzahl an Söldnern anzuheuern (die man in ganz Europa relativ einfach bekam) und die beschlagnahmten Ressourcen von privaten Händlern zu kaufen.
Die resultierende Summe ist ein bestimmter Geldbetrag; was für den Herrscher aber weit mehr wiegt, das sind die politischen Kosten, die das Mobilisieren der Ressourcen mit sich bringt. Diese Kosten sind möglicherweise genauso wenig pekuniärer Art wie der Gewinn, der dem siegreichen Herrscher winkt (wie etwa Ruhm oder der Sieg über die „Heiden“). Wenn die zur Kasse gebetenen Untertanen eine Revolte anzettelten (wie es im frühneuzeitlichen Europa und Asien nicht selten geschah), waren die politischen Kosten besonders hoch. Niedrig waren sie, wenn sich potenzielle Offiziere oder Soldaten freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, wie beispielsweise die Adligen im frühneuzeitlichen Europa oder, um ein modernes Beispiel zu nennen, die Amerikaner nach Pearl Harbor. Um dies in unserem Modell abzubilden, stellen wir uns vor, dass jede einzelne Einheit mobilisierter Ressourcen für den Herrscher mit den gleichen konstanten politischen Kosten einhergeht. Die Gesamtsumme der politischen Kosten, die auf den Herrscher zukommen, ist dann diese Konstante multipliziert mit dem gesamten monetären Wert der Soldaten, Matrosen und Ausrüstungsgegenstände, aus denen das Militär des Herrschers besteht. Diese Konstante nennen wir die variablen Kosten des Herrschers (bzw. synonym dazu seine politischen Kosten) des Mobilisieren der Ressourcen. Auch wenn diese Kosten für jeden einzelnen König oder Fürsten feststehen, variieren sie von Herrscher zu Herrscher – bei einigen sind sie niedrig, bei anderen umso höher. Des Weiteren wollen wir annehmen, dass es eine Obergrenze dafür gibt, wie viele Ressourcen sich ein Herrscher verschaffen kann. Diese Grenze wird durch die Anzahl der Steuerpflichtigen oder die Größe des Königreichs definiert – oder durch die Möglichkeiten des Herrschers, sich Geld zu leihen.23
Wie im einfachsten wirtschaftswissenschaftlichen Konfliktmodell wollen wir annehmen, dass die Chancen des jeweiligen Herrschers, einen Krieg zu gewinnen, proportional zu den Ressourcen sind, die er mobilisiert. Wenn also beide Herrscher gegeneinander in den Krieg ziehen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass einer von beiden gewinnt, proportional zur Höhe seines Rüstungsetats.24 Die Herrscher wägen diese Wahrscheinlichkeit, den Wert des Gewinns und die variablen und fixen Kosten, mit denen sie konfrontiert sind, gegeneinander ab und beschließen dann, ob sie in den Krieg ziehen oder nicht. Dann entscheiden sie, welche Ressourcen sie aufwenden wollen.25
Wenn ihm die Kosten zu hoch sind oder der zu erwartende Gewinn zu niedrig ist, kann ein Herrscher beschließen, dass der Krieg nicht wert ist, gekämpft zu werden, und sich zurückziehen, wie es die Niederlande im 18. Jahrhundert verschiedentlich taten (oder es zumindest versuchten).26 Dann schont er alle seine Ressourcen und muss nicht einmal die Fixkosten bezahlen, aber er hat auch keine Chance auf den Gewinn. Wenn er eine Strafe dafür zahlen muss, dass er sich nicht gegen einen Angriff von außen verteidigt, sinken dadurch lediglich die Fixkosten, ansonsten bleibt das Modell unverändert.
Falls nur einer der beiden Herrscher in den Krieg ziehen will, so trägt er die Fixkosten für Armee, Marine und Steuersystem, erhält aber auf jeden Fall den Gewinn, denn schließlich gibt es keinen Gegner. Außer den Fixkosten muss er keine Ressourcen für das Militär aufwenden, genau wie der Herrscher, der sich gegen den Krieg entschieden hat. Es kommt also weder zu Kampfhandlungen, noch gibt es Militärausgaben, die über das Ausheben einer Armee und die Einrichtung eines Steuersystems hinausgehen. Dieses Ergebnis bezeichnen wir als Frieden, denn auch wenn einer der Herrscher für Militär und Steuersystem Geld ausgegeben hat, um diesen Zustand zu finanzieren, kommt es doch zu keinerlei Konflikten und zu keiner Mobilisierung militärischer Ressourcen.
Und wann kommt es zu seinem solchen friedlichen Ausgang eines Konflikts (den wir in der Sprache der Wirtschaft als „Gleichgewicht“ bezeichnen)? Erstens: wenn die Fixkosten hoch sind (aber nicht höher als der Wert des Gewinns) oder das Land bzw. die wirtschaftliche Macht des einen Herrschers viel größer ist als die des anderen Herrschers. Und zweitens: wenn ein Herrscher seine Ressourcen zu wesentlich niedrigeren politischen Kosten mobilisieren kann als der andere. Der Grund ist klar: Niemand will gegen einen Gegner kämpfen, der viel größer und mächtiger ist oder der für Humankapital und Kriegsmittel nur ganz geringe politische Kosten zahlt.27 In der Realität gibt es hier natürlich, wie bei allen Modellen, Ausnahmen. Dennoch ist ein friedlicher Ausgang besonders wahrscheinlich, wenn die Herrscher von vornherein nicht in derselben Liga spielen.28
Wann ziehen die Herrscher nun in den Krieg? Laut Turniermodell müssen dazu mehrere Bedingungen erfüllt sein. Eine Voraussetzung ist, dass beide Herrscher mit ähnlichen variablen Kosten rechnen müssen, wenn sie Ressourcen mobilisieren, und dass der Gewinn, um den sie kämpfen, mehr wert ist als die Fixkosten für den Aufbau von Finanzsystem und Militärapparat. Eine weitere Voraussetzung ist, dass die beiden Länder von der Größe oder Wirtschaftskraft her ähnlich groß sind und dass beide Herrscher in etwa gleichem Umfang in der Lage sind, sich Geld zu leihen. Hier gibt es einen gewissen Spielraum, denn der Herrscher eines kleinen Landes, der sich leicht Darlehen besorgen kann, könnte durchaus gegen einen größeren Gegner ins Feld ziehen, der keine Kredite aufnehmen kann, sich dafür aber bei den Ressourcen seines riesigen Landes bedienen kann.29
Die hier genannten Bedingungen für einen Krieg (ein wertvoller Gewinn, niedrige Kosten für die Einrichtung von Steuersystem und Heer, keine großen Unterschiede hinsichtlich der Größe oder der Möglichkeit, Soldaten und Ausrüstung zu beschaffen) erscheinen uns heute möglicherweise selbstverständlich, aber wie wir später sehen werden, sind sie einer der Hauptgründe dafür, warum Ostasien am Ende in der Schießpulvertechnologie hinter Westeuropa zurückblieb.
Das Turniermodell birgt noch weitere wichtige Implikationen. Insbesondere zeigt es, wann die Rüstungsausgaben beider Herrscher besonders groß sind – eine wesentliche Grundlage für Fortschritte in der Rüstungstechnologie. Bei unserem Modell erfordern umfangreiche Rüstungsausgaben einen Krieg, denn ohne Krieg29 wird keiner der beiden Herrscher all seine Ressourcen mobilisieren. Allerdings garantiert die Tatsache, dass ein Krieg geführt wird, noch nicht, dass auch besonders viel Geld für das Militär ausgegeben wird, denn es gibt auch Kriege, die mit begrenzten finanziellen Mitteln geführt werden. Damit in einen Krieg möglichst viel Geld investiert wird, muss erstens der Gewinn, der den Kriegsparteien winkt, besonders wertvoll sein, und zweitens müssen die politischen Kosten für die Mobilisierung der nötigen Ressourcen für beide Herrscher besonders gering sein. Der Grund dafür ist (laut Modell), dass die Gesamtmenge der Ausgaben beider Herrscher für ihr Militär gleich dem Wert des Gewinns ist, dividiert durch die Summe der politischen Kosten der Mobilisierung von Soldaten und Material. Damit das Endergebnis möglichst groß ist, muss der Zähler dieses Quotienten – der Wert des Gewinns – groß sein, der Nenner – die Summe der politischen Kosten – klein. Es reicht auch nicht aus, dass die variablen Kosten der zwei Herrscher für Soldaten und Material ähnlich hoch sind; nein, auch diese Kosten müssen klein sein, damit ihre Summe (also die Gesamtkosten beider Herrscher für die Mobilisierung von Ressourcen) möglichst gering ausfällt.30 Dieser Umstand wird auch erklären, warum Südasien schließlich in der Entwicklung der Schießpulvertechnologie ins Hintertreffen geriet.
Und noch eine Implikation dieses Modells ist erwähnenswert: Wenn es zu einem Krieg kommt, dann ist das Verhältnis der durch die Herrscher mobilisierten Ressourcen umgekehrt proportional den politischen Kosten, die ihnen drohen.31 Daher mobilisiert der Herrscher mit den geringeren politischen Kosten – genau wie man es erwarten würde – mehr Soldaten und Material, und dementsprechend stehen seine Chancen besser, den Krieg zu gewinnen.