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Der Winter unseres Stussvergnügens
ОглавлениеIch erinnere mich noch, wie ich das erste Mal mit Schaudern realisierte, dass der geistige Dämmerzustand nach der Krise noch weit schlimmer werden könnte als während der Rezession selbst. Im April 2011 nahm ich am zweiten Treffen des Institute for New Economic Thinking (INET) in Bretton Woods, New Hampshire, teil.2 Es hätte vermutlich bessere Orte als die White Mountains gegeben, um den Zeitgeist nach der Krise einer Fiebermessung zu unterziehen und die politische Ökonomie in der Praxis zu beobachten, doch die kleinen Sünden der Wirtschaftswissenschaftler hatten mich schon lange fasziniert, und das erste INET-Treffen, 2010 an der Cambridge University abgehalten, schien mir ein gewisses Versprechen zu bergen – zum Beispiel als Protestierende in der Aula des King’s College die IWF-Platitüden von Dominique Strauss-Kahn unterbrachen oder als Lord Adair Turner mutig erklärte, wir bräuchten einen deutlich kleineren Finanzsektor. Doch die Folgeveranstaltung fiel nicht nur aus klimatischen Gründen wesentlich unerfreulicher und frostiger aus. Das alptraumhafte Szenario begann mit einer Parade von Figuren, die niemand guten Gewissens als Vertreter eines »neuen ökonomischen Denkens« bezeichnen könnte: Kenneth Rogoff, Larry Summers, Barry Eichengreen, Niall Ferguson und Gordon Brown. Adair Turner wurde wie im Vorjahr für eine Rede auf die Bühne zitiert, wartete aber nur mit trüben Gemeinplätzen über »Glücksstudien« und Rationalität auf. Das Spektrum ökonomischer Positionen hatte sich deutlich verengt, und das Programm richtete sich offensichtlich vor allem an Journalisten, Blogger und Leute, die sich für komplexe, unkonventionelle Gedanken gar nicht interessierten, sondern Stars aus der Nähe sehen wollten – es zeugte von dem ungesunden Drang nach einem Denken, das um jeden Preis mit offiziösem Gütesiegel beglaubigt sein und nach etwas klingen sollte.
Viele Teilnehmer gaben ihre Ratlosigkeit offen zu: Die Krise war vorbei, nur was war eigentlich schiefgelaufen? Dass die in westlichen Ländern beschlossenen »Rettungspakete« ein politisches Debakel darstellten, erkannten alle an, wobei nähere Ausführungen darüber sicherlich weniger Konsens gefunden hätten. Manche meinten, der akute Handlungsdruck auf Seiten der Federal Reserve, des britischen Schatzamtes, der Europäischen Zentralbank und anderer Institutionen habe eine notwendige Phase der Reflexion und Reform blockiert. Was die Veranstaltung jedoch zu einem Alptraum machte, war eine ansteckende Lähmung, die an ein Reh im Scheinwerferlicht erinnerte: Die Konferenzteilnehmer gefielen sich zwar in der Rolle von Kritikern der neoliberalen Dekadenz, hatten jenseits vorgetäuschten Expertenwissens aber keine festen Ansichten darüber, worin das für die Krise verantwortliche intellektuelle Versagen überhaupt bestand – offenbar verband sie bloß ein vages Unbehagen am Zustand der Wirtschaftswissenschaft. Doch es kam noch schlimmer: Während die Autoritäten schwankten, hatten sich die Darsteller aus dem Gruselkabinett der Rechten wieder aufgerichtet, den Staub von den Kleidern geklopft und zu neuer Stärke gefunden. Ökonomen wie Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart besaßen auf dem INET-Treffen die Unverfrorenheit, die jüngste Weltwirtschaftskrise als ganz normalen Konjunkturzyklus darzustellen: Von Skandalösem oder Beispiellosem könne keine Rede sein. So begannen die im American Enterprise Institute und Cato Institute ausgebrüteten Doktrinen wieder in den Bereich des Respektablen einzusickern. Die Konferenzteilnehmer versuchten sich unterdessen weiter zu lösen – nur von was? Von der neoklassischen Mikroökonomie, von der Theorie der rationalen Erwartungen, von der Effizienzmarkthypothese, von dem Coase-Theorem, von pseudokeynesianischer Makroökonomie, von dem Pareto-Optimum, von der Public-Choice-Theorie, vom Ende der Geschichte – also wovon jetzt genau? Wie sollte man wissen, ob etwas faul war oder nicht, wenn man nicht einmal sicher war, welche Theorie einem Orientierung bieten könnte?
Der Leser mag einwenden, ich hätte mir diesen Alptraum selbst eingehandelt, denn wie sollte auch ein von George Soros ausgerichteter und finanzierter Rummel ein wirklich »Neues Ökonomisches Denken« hervorbringen?3 Wie zu erwarten, gab es in Bretton Woods kaum eine ernsthafte Debatte, ja nicht einmal einen flüchtigen Überblick über mögliche Alternativen in der Wirtschaftswissenschaft; stattdessen herrschte eine so drückende Nostalgie, dass die üppigen Desserts ranzig wurden. Eine bunte Riege von B-Promis – nach John Maynard Keynes sollte kein Ökonom je wieder die Bekanntheit eines Arnold Schwarzenegger, Bob Dylan oder auch nur Malcolm Gladwell erlangen – hoffte auf den erregenden Schauder einer gefahrlosen Grenzüberschreitung: Ihr Drang zur Dissidenz wurde durch die nüchterne Einsicht gezügelt, dass konkrete Abweichungen von der wirtschaftswissenschaftlichen Orthodoxie, der sie schließlich ihren bescheidenen Ruhm zu verdanken hatten, eher ungeschickt wären. An dem Dogma, dass in den letzten 75 Jahren schlechterdings nichts geschehen sei, was den Debattenraum über die vermeintlich durch Keynes und Hayek markierten Grenzlinien hinaus verschoben habe, zeigte niemand auch nur das leiseste Unbehagen. Viele Redner genossen es sichtlich, in den heiligen Hallen von Bretton Woods den Geist Keynes’ heraufzubeschwören. Meine Hoffnung, das INET könnte alternativen Strömungen der Wirtschaftswissenschaft ein Forum bieten, war eindeutig albern gewesen, denn wären dort Postkeynesianer, Regulationstheoretiker, Institutionalisten, Anhänger Hyman Minskys oder gar Marxisten chinesischer Couleur aufgetreten, dann hätte die intellektuelle Schickeria die Konferenz gemieden wie die Pest.4 Doch das alptraumhafte Szenario beschränkte sich nicht auf das INET oder George Soros. Es erwies sich als viel umfassender.