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Wo Rauch ist, ist auch Toast

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Es gibt eine Unmenge von Büchern und Artikeln über die Krise. Viele Leser, die 2009 und 2010 begierig zugriffen, fühlten sich nach der Lektüre jedoch weniger informiert als vorher, was schlimm genug ist. Hinzu kommt, dass man einen Alptraum nicht freiwillig ein zweites Mal durchlebt, sondern lieber wieder aufwacht. Zuletzt scheint solche Literatur deshalb nur noch Fans dramatischer Zusammenbruchsgeschichten angesprochen zu haben. Die große Mehrheit hatte sich dagegen schon 2012 aus ernsthaften Debatten ausgeschaltet und war vor dem Tsunami zu spät gekommener Weisheiten geflüchtet.

Eine kurze Zeit lang versuchten Karikaturisten und Fernsehkomiker, aus der ganzen Geschichte einen Witz zu machen. Darin klagten idiotische Banker, die sture Öffentlichkeit wolle einfach nicht verstehen, dass sie als Einzige den von ihnen angerichteten Saustall auch wieder ausmisten könnten, wobei sie sich ebenso mürrisch wie reuelos zeigten, als Uncle Sam ihnen genau zu diesem Zweck ganze Lkw-Ladungen Geld schickte. Wie so oft verblasste die Satire neben der Wirklichkeit, als Hank Greenberg, ehemals Chef des Versicherungsgiganten American International Group (AIG), die US-Regierung für mangelnde Großzügigkeit bei der Rettung seines Konzerns verklagte.7

Auch wenn bitterböser Humor urkomisch sein kann, ruft er in diesem Fall eine nagende Stimme auf den Plan: Sind Witze über die unsichtbare Hand nicht etwas billig? Ist Lachen wirklich die angemessene Reaktion auf den Alptraum der Krise? Haben sich deren Mitverursacher nicht vielleicht selbst (einiges) ausgeschüttet vor Lachen, während das Finanzsystem auf den Abgrund zusteuerte? Zumindest in den Sitzungen des Offenmarktausschusses der Federal Reserve herrschte offenbar große Heiterkeit, wie die grafische Darstellung der dort von 2001 bis 2006 protokollierten Lacher in Abbildung 1.1. zeigt. Der Appell an den Sinn für Humor, auf dass wir es sind, die zuletzt lachen, ist nicht unbedingt das beste Mittel gegen Krisenmüdigkeit.

Abb. 1.1: Heiterkeit in der Federal Reserve


Quelle: Federal Reserve FOMC Transcripts, Grafik: Daily Stag Hunt

Der Filmemacher Adam Curtis empörte sich: »Trotz der Desaster sind wir [noch immer] in der Welt der Ökonomen gefangen.«8 Wir müssen jedoch zwischen der Welt der Ökonomen und der der Neoliberalen differenzieren, die viele Linke fälschlicherweise gleichsetzen. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass die Neoliberalen an die von manchen Ökonomen verbreitete Bilderbuchversion des Laissez-faire-Prinzips zumeist gar nicht glauben. Auch wenn sie sich in der Öffentlichkeit oder selbst im Grundkurs Wirtschaftswissenschaft zu ihr bekennen, spielt sie in anspruchsvolleren internen Diskussionen keine Rolle und wird von der politischen Praxis des Neoliberalismus klar missachtet.

Das neoliberale Plädoyer für wirtschaftliche Ungleichheit kann auch zu einem Plädoyer für Ungleichheit im Bereich des Wissens führen, wie wir in Kapitel 2 eingehend untersuchen werden. Leser von Michel Foucault sind mit dem Gedanken vertraut, dass der Neoliberalismus die Ontologie des Subjekts in der modernen Gesellschaft transformiert; übersehen wurde in dieser Traditionslinie dagegen, wie er spiegelbildlich dazu auch der Bedeutung der Existenz eines »Marktes« als solchem eine neue ontologische Bedeutung gibt.

Was an der Fülle nachträglicher Krisenerklärungen irritiert, hat Maureen Tkacik beschrieben:

»Dass an den letzten zehn Jahren etwas unhaltbar war, ließ sich leicht feststellen. Die Wahrheit jedoch – dass eine gesamte Ideologie unhaltbar geworden war – haben wir noch immer nicht begriffen. Und deshalb überbieten sich nun Journalisten, Ökonomen, Intellektuelle und Finanzmanager bei der Publikation von Büchern, die sich meist wie die Memoiren von Leuten lesen, die sich weniger dumm vorkommen wollen. Das heutige Finanzsystem wurde zu dem Zweck errichtet, dass wir uns alle dumm vorkommen, und im Zuge seiner Errichtung verdummten seine Architekten selbst.«9

Die Krise hat nicht nur eine massenhafte, weithin stumm erduldete Verarmung bewirkt, sondern auch unser Vertrauen in die eigene Fähigkeit zerstört, das System, in das wir heute eingezwungen sind, adäquat zu begreifen. Es gehört zum guten Ton, das groteske Schauspiel von Gruppierungen wie der Tea Party, der Goldenen Morgenröte, den Wahren Finnen und dem Front National aufs Schärfste zu kritisieren – aber kann die Linke wirklich behaupten, sie sei seit 2007 so viel nüchterner und intelligenter gewesen? Das Problem, dem ich mich in diesem Buch nähern will, lautet: Wie schaffen es diejenigen, die der unerwarteten Befestigung der neoliberalen Vorherrschaft mit Entsetzen ins Auge blicken, sich weniger dumm vorzukommen? Wie müsste eine erhellende Intellectual History der Krise und ihrer Folgen aussehen?

Wenn es um die Rolle des Nostradamus der Krise geht, hat offenbar jeder seinen Favoriten – das schwierige Thema der Prognostik werde ich in Kapitel 5 behandeln. Hier geht es mir zunächst um jene nominellen Linken, die sich schon vor langer Zeit von der marxistischen Eschatologie eines Zusammenbruchs des Kapitalismus, gefolgt vom Übergang zum Sozialismus, verabschiedet haben, nur um sich heute auf ein ungerührtes Bekenntnis zur Unwissenheit zurückzuziehen. Ein beliebiges Beispiel dafür aus den Reihen der Journalisten (zu den Ökonomen komme ich später) bietet Ezra Klein mit einer Besprechung des Krisen-Dokumentarfilms Inside Job:

»Inside Job ist vielleicht dort am stärksten, wo er detailliert die Interessenkonflikte unterschiedlicher Akteure mit Blick auf den Finanzsektor schildert, wobei es sich um ›Konflikte‹ gerade deshalb handelte, weil die Akteure auch gewichtige Gründe dafür hatten, ihre Sache gut zu machen – etwa Reputation, Geld, Zuspruch und Arbeitsplatzerhalt.

Gerade das macht die Finanzkrise letztlich so beängstigend. Die Komplexität des Systems überforderte Marktteilnehmer, Experten und Aufsichtsbehörden erheblich. Selbst nach dem Ausbruch der Krise waren die Geschehnisse teuflisch schwer zu begreifen. Manchen gelang es zwar, die richtigen Zusammenhänge in der richtigen Weise zum richtigen Zeitpunkt herzustellen, aber besonders viele waren es nicht, und ihre Methoden lassen sich nicht einfach reproduzieren, sodass wir ihren Erfolg zur Norm machen könnten. Klar ist dagegen, dass die Komplexität unserer zentralen Systeme weiter zunehmen wird, wir selbst aber nicht klüger werden.«10

Dass sich manche Vertreter der »moderaten Linken« zu Angriffen auf diesen populären Dokumentarfilm bemüßigt fühlten, zeugt an sich schon von einer düsteren Lage. Noch bezeichnender ist, wie unverblümt sie epistemologische und wissenssoziologische Grundannahmen der Neoliberalen übernehmen. Experten jeder Couleur warfen nach der Krise die Hände in die Luft und erklärten, die Wirtschaft sei einfach zu komplex, um sie zu verstehen – lieber betrachtete man die große Rezession als ein Naturereignis und ging wieder zur Tagesordnung über. Diese kulturelle Schwäche bestand schon vor der Krise, aber bei der Blockade von adäquaten Reaktionen auf das Debakel hat sie geradezu Wunder gewirkt. Wie in Kapitel 2 und 3 beschrieben und in Kapitel 6 genauer seziert, haben die Neoliberalen zum Problem von Wissen und Unwissen eine komplexe Position entwickelt. Nachvollziehen zu können, wie sie Unwissenheit als politisches Instrument einsetzen, hilft uns bei der Bewältigung der Tatsache, dass wir offenkundig für dumm verkauft wurden. Außerdem könnte sich dabei zeigen, dass es für die Linke an der Zeit ist, wieder selbst eine plausible Wissenssoziologie auszuarbeiten.

Der erste Schritt zu einer Wissenssoziologie und -geschichte der Krise besteht in der Erkenntnis, dass die Antworten auf sie auf unterschiedlichen Ebenen erfolgt sind, deren Botschaften sich in Inhalt und Zeitpunkt zwar nicht immer decken, aber schließlich so ineinandergreifen, dass sie jedwede nicht von den Banken und dem Finanzsektor kontrollierte politische Reaktion vereiteln. Die Steuerung dieser unterschiedlichen Ebenen erfordert Geschick. Es gibt zum einen die Ebene der allgemeinen Kultur, auf der die etablierten neoliberalen Bilder menschlicher Selbstentfaltung mit dem spürbar einsetzenden Zusammenbruch einer ganzen Lebensweise konfrontiert waren. Es gibt die Ebene öffentlich wirkender Wissenseliten wie der Mont Pèlerin Society, die kurzzeitig gelähmt waren und danach die Aufgabe hatten, das anhaltende akademische Geschwätz über die aus den Fugen geratene Welt aus dem Stegreif in eine neue Ordnung zu bringen. Es gibt (worauf ich in meiner Analyse großen Wert lege) ein allgemeines neoliberales Drehbuch für strategische Reaktionen auf schwere Krisen. Und schließlich gibt es die Wirtschaftswissenschaftler an den Universitäten. Sie waren zwar nicht der einzige Priesterorden, der sich im Besitz des ehrfurchtsvoll »die Ökonomie« genannten Schlüssels wähnte, aber ihr Wirken nach dem Einsetzen der Krise erwies sich als entscheidend, und zwar in einer meines Erachtens sowohl von Insidern wie der Öffentlichkeit kaum begriffenen Weise. Auch wenn sich die neoliberale und die neoklassische Tradition nicht aufeinander reduzieren lassen, verdankte sich das Wiedererstarken der Neoliberalen nach der Krise ganz wesentlich dem Zusammenspiel der Wirtschaftswissenschaft mit den Ebenen der Kultur und der Wissenseliten. Die neoklassische Wirtschaftslehre war in den anderthalb Jahrhunderten ihrer Geschichte nicht durchweg neoliberal orientiert; heute jedoch arbeiten beide Strömungen unübersehbar Hand in Hand. Deshalb widmen sich Kapitel 4 und 5 ausgiebig dem Wirken der Ökonomen nach 2007.

Wenn es um die Beziehung zwischen ökonomischem Wissen und Politik geht, zitieren Experten häufig ein Diktum von John Maynard Keynes aus seinem Hauptwerk Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes: »Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste.«11 So elegant seine Prosa auch war, Keynes’ rudimentäre Wissenssoziologie hat sich als falsch erwiesen. Ökonomische Ideen haben nicht etwa, wie in einer gepflegten Séance aus der Zeit der Jahrhundertwende, durch ektoplasmische Schreiben der Verblichenen Eingang in die alltägliche Politik gefunden, sondern durch einen Prozess, der zugleich konkreter und komplexer ist, als die leicht tendenziöse Selbstschmeichelei des Ökonomen Keynes unterstellt.

Wirtschaftslehren erringen die Vorherrschaft, weil sie auf starken geistigen Trends in anderen Bereichen der Kultur und oftmals anderen Disziplinen aufbauen, und sie benötigen ihrerseits Förderer und Finanziers, um Ökonomen und schließlich die breitere Gesellschaft für sich zu gewinnen. Ideen mögen ein Handelsgut sein, aber sie werden nicht einfach vermarktet, auch wenn die Neoliberalen anderes behaupten. So wie die Geschichte sind auch die Ideen von Menschen gemacht, aber nicht in ungebrochener, direkter Weise. Ideen haben die gemeine Angewohnheit, sich auf ihrem Weg durch den Diskursraum zu verwandeln; manchmal schaden ihnen ihre Anhänger mehr als ihre Gegner. Außerdem scheinen Menschen mitunter von Natur aus unfähig zu begreifen, was man ihnen vorsetzt, und kreative Missverständnisse führen das Denken auf ausgetretene Pfade zurück. Im Getümmel dubioser Signifikanten ist die große Lüge König; doch das schließt nicht aus, dass das sie umgebende Stimmengewirr in den Dienst politischer Zwecke gestellt werden kann. Werden bestimmte Grundvorstellungen als neutral und selbstverständlich dargestellt, dann können sie umso besser als politische Bastionen dienen, um die Geschichte in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wenn sich bestimmte Lehrgebäude allen Widrigkeiten zum Trotz, etwa in einer Weltwirtschaftskrise, behaupten; wenn Wissen und Macht in einem Zustand der Erstarrung konvergieren, dann gibt es zweifellos etwas zu erklären.

Untote leben länger

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