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Die Neue Bündner Zeitung brachte wie erwartet am Montag, dem 20. Juni, einen Artikel zum Mord vom Samstag. Doch die umfangreiche Berichterstattung über die letzten Vorbereitungen des Eidgenössischen Schützenfestes, die zeitnah kurz vor Eröffnung erst abgeschlossen werden würden, rückten den Mord auf eine der hinteren Seiten, dazu nur als mageren Einspalter und unaufgeregt gehalten: «Totes Fräulein aus dem Thurgau im Täli aufgefunden …»

Pünktlich um sieben Uhr begann in Küblers Arbeitszimmer eine Besprechung mit Caminada und Marugg.

Der Major begrüsste die beiden mit den Worten: «Guten Morgen, die Herren. Vielleicht ist es gar nicht mal so schlecht, dass schon am Donnerstag die eidgenössische Fahne in Chur eintrifft und damit die Eröffnungsfeier stattfinden kann. Das wird den Mord spätestens dann ganz in den Hintergrund schieben. Denn wer ist nicht irgendwie mit dem Fest verbunden und kann dessen Beginn kaum erwarten? Wir haben alles getan, dass unsere kleine Stadt das grosse Fest gut ausrichten wird, und das wird uns nun zum Vorteil gereichen.»

Damit hatte er zweifelsohne recht, dachte Caminada. Schon vor Wochen hatten die Stadt und einige der umliegenden Gemeinden ihre Schulen geschlossen, damit die Kinder für die Hilfsdienste geschult werden konnten, und sei es nur als Patronenhülsensammler, in der Warnerjugend oder im Bereitstellen der Turnhallen für die vielen zu erwartenden Gäste. Insgesamt standen deshalb tausendsiebenhundert aktive Helfer im Einsatz.

Zudem machte ein weiteres Stadtgespräch, gemischt mit den ersten Gehässigkeiten, die Runde. Die gepfefferten Preise der Hotels und Gasthäuser sorgten an den Stammtischen für hitzige Diskussionen und zündrote Grinder. So manch einer glaubte überdies, grossspurig zu wissen, dass die kleine Stadt mit dem grossen Fest überfordert sei, und tat seine Weisheiten dazu kund. Das heisse, trockene Wetter staute die Hitze in den riesigen Festzelten schon jetzt unangenehm. Der warme Südwind wehte zudem täglich zügig durchs Tal und somit auch durchs Festgelände, was die Schützen alles andere als schätzen würden, wurde des Weiteren auf und ab diskutiert. So mischte sich die Vorfreude mit Anspannung.

Ab diesem Montag hatte das Landjägerkorps zusammen mit dem Stadtpolizeiamt für Recht und Ordnung auf dem Festplatz zu sorgen. Bei den erwarteten über einhunderttausend Besuchern während der drei Wochen kämen sie mit ihren wenigen Mannen mit Bestimmtheit an den Anschlag. Deshalb mussten sie erst recht bereit sein, mahnte an diesem Morgen der Major Caminada und Marugg, als wüsste es nicht schon längst ein jeder Landjäger im Kanton, denn auch aus den Seitentälern wurde der eine oder andere vorsorglich tageweise dafür abgezogen.

Vor allem der schwer abzuschätzende Mehrverkehr bereitete allen zunehmend Sorgen. In Chur selbst besassen erst einige hundert Einwohner ein Fahrzeug, doch als Verkehrsknotenpunkt zwischen Norden und Süden und als Hauptstadt Graubündens zog die kleine Stadt zwangsläufig viel Verkehr von ausserhalb an. Die einzige Durchfahrtstrasse, die ausserdem mitten durchs Städtchen führte, ging zeitweise im Trubel fast unter – und das schon bevor das Eidgenössische begonnen hatte. Immerhin hatten die Stadtväter vor drei Jahren beschlossen, sofort die meisten Strassen zu teeren, um die Staubverschmutzung in den Griff zu kriegen, ohne dauernd Sulfitlauge auf die Naturstrassen zu versprühen, damit sich eine bindende Schicht bilden konnte.

Dazu kam, dass seit Kriegsende der Verkehr monatlich zunahm, und das rasant. Im Herbst 1947 hatte das Stadtpolizeiamt, das vor einem Jahr endlich aus dem kleinen Wachtstübli im Rathaus in das grosse Gebäude an den Kornplatz umziehen konnte, einen BMW-Seitenwagentöff erhalten. Letzte Woche wurde sogar der zweite angeliefert, welchen der Stadtratsausschuss aufgrund des Eidgenössischen angeschafft hatte. Das Landjägerkorps erhielt hingegen noch immer kein Fahrzeug zugesprochen, was für zünftig Unmut in seinen Reihen sorgte. Gemäss Begründung der Kantonsregierung fehlte es nicht an den nötigen Finanzen, aber an einem eidgenössischen Verkehrskonzept, das aktuell in Bundesbern ausgearbeitet würde und das im nächsten Jahr auf dem Tisch liegen würde und dann kantonal umzusetzen sei.

«Also», die tiefe Stimme des Majors, in der immer ein militärischer Kommandoton mitschwang, riss Caminada aus den Gedanken, «wir bleiben selbstverständlich am Mord dran, aber im Moment hat das Eidgenössische oberste Priorität. Und da diese Möckli aus Amriswil im Kanton Thurgau stammt, haben wir hier vor Ort kein so grosses Kschnorr, als wenn es eine Einheimische gewesen wäre.» Er blickte den Landjäger und Marugg an. «Ihr wisst, wie ich’s meine?»

«Major», meldete sich Caminada zu Wort, «wir bekommen beides unter einen Hut. Natürlich werden wir rund ums Fest für Recht und Ordnung sorgen, doch solange der Mörder frei rumläuft, können wir keine Ruhe geben, müssen dem ins Genick steigen – Politik hin oder her.»

«Jaja, Caminada. Aber sind wir ehrlich. Was wissen wir denn schon über diese Möckli, ausser dass die mit grosser Sicherheit mit den liederlichen Gestalten aus dem Täli angebandelt haben wird, und schon ist’s passiert. Ausserdem bin ich mir ziemlich sicher, da wissen einige im Täli bereits, wer sich mit diesem Mord derart versündigt hat, dass der Herrgott die Himmelspforten für denjenigen auf ewig geschlossen hält. Schau, Landjäger Caminada, das ist wie damals mit dem Fall des alten Gruber, auch darüber wird Gras wachsen.»

«Und die Stola?»

«Was soll mit der schon sein?»

«Sie muss einem Geistlichen gehört haben. Und da stellt sich mir die Frage – wie wird diese zur Todesschlinge?», insistierte Caminada, denn Mord blieb für ihn Mord, egal, wer das Opfer war.

«Landjäger Caminada!» Der Major stand auf. «Mir hat der Bischof am Samstag doch persönlich garantiert, dass sie gestohlen wurde – dem Täli-Diakon Veranzze, der hat genau so eine besessen und hält sich öfters dort hinten auf.»

«Gut, dann befragen wir den. Mir ist nämlich erst gestern zu Ohren gekommen, dass dieser Diakon sich spätabends, als diese Lola tanzte, in der Dunkelheit in den Meiersboden aufgemacht hatte, und ich wüsste gerne den Grund. Ein guter Freund von mir, er ist Lokführer, ist am besagten Abend kurz vor dem letzten Brückli beim Sassal mit der Arosabahn an Veranzze vorübergefahren, wie schon oft, und hat ihn zum Meiersboden hochlaufen sehen. Er hat mich deswegen angerufen, als er von der Geschichte gehört hatte.»

«Nein!» Der Major schlug dabei resolut seine Faust auf den Tisch.

«So, und warum nicht?» Caminada gab sich keine Blösse, er kannte den Major, seit er vor über zwanzig Jahren den Dienst unter dessen Kommando angetreten hatte. Er hielt es, wie ihm sein strenger Vater es immer wieder gesagt hatte: «Walti, wer anständig fragt, der hat ein Recht auf eine anständige Antwort.»

«Das ist ein frommer Gottesmann, und der Bischof bürgt persönlich für seine Gefolgschaft.»

«Na ja, wenn man sich so umhört, muss dieser Anselmo Veranzze sich hin und wieder mit einigen im Täli angelegt haben. Dass der kein Wässerchen trüben kann, will ich mal bezweifeln. Anscheinend ist er öfters wortmässig ausfällig geworden bei seinen –»

«Sternawettersiach no mol!», unterbrach mit donnernder Stimme der Major, «hier geht’s um Mord und nicht um Wässerlitrüben, Walter. Versündige dich nicht vor dem Herrgott, indem du den Ruf der Kirche besudelst. Dass ein ehrbarer Katholik dort hinten nicht willkommen ist, ausser bei den Tschinggen, das versteht sich ja von selbst.»

«Vor Gott und dem Gesetz sind wir alle gleich. Das wäre es ja noch, dass wir hier einen Bogen um die Kirche machen müssten. Ob Hans oder Heiri, um den Mord zu lösen, müssen wir alle befragen können, und deswegen wird keiner gleich zum Mörder gestempelt. Und ausserdem bin ich meines Wissens dem Mann noch nie begegnet.» Caminadas Stimme blieb fest und ruhig. Er würde sich bei seinen Ermittlungen niemals einen Maulkorb aufbinden lassen, dafür war sein Rückhalt im gesamten Korps zu gross und sein Gerechtigkeitsempfinden zu stark ausgeprägt.

Das schien auch der Major wieder zu begreifen, obwohl sein Gesichtsausdruck noch immer zornig blieb. «Respektvoll und diskret, wenn es denn schon ums Verrecken sein muss. Aber diese Woche kümmert ihr euch um das Eidgenössische wie schon lange geplant. Wir brauchen jeden verfügbaren Mann für einen gelungenen Auftakt. Denkt daran, die ganze Eidgenossenschaft blickt auf Chur! Vernehmen könnt ihr den auch danach.» Er drehte sich von den beiden ab, und Caminada und Marugg verliessen sein Büro.

Die nächsten beiden Tage reisten immer mehr Schützenvereine an, bis sich am Mittwoch das Städtchen mit derart viel Volk gefüllt hatte, dass es aus allen Nähten platzte.

Chur war tatsächlich bereit, als am Donnerstag, dem 23. Juni, ein weiterer schwülheisser Morgen anbrach.

Das kleine Städtchen hatte sich so schön für das grosse Fest herausgeputzt, als wäre es eine Braut, und prangte in reichem Festschmuck der Blumen, Girlanden, Fahnen, Bänder und Standarten, dass es kaum wiederzuerkennen war.

Mit dem feierlichen Einzug der eidgenössischen Fahne setzte sich der riesige Umzug, bestehend aus allen Schützenverbänden und Ehrengästen, kurz vor Mittag in Bewegung. Hinter dem Fahnenträger folgten in den Trachten ihrer jeweiligen Heimatkantone die Blumensträusse tragenden Ehrendamen, die ihr Lachen der ganzen Welt zu verschenken schienen. Aus allen Regionen und Tälern der Schweiz und sogar aus der ganzen Welt waren die Schützen angereist. Unter dem stahlblauen Himmel Graubündens marschierten sie gemeinsam im Fahnenmeer durch die engen Gassen, während die Churer freudig Blumen streuten und ihnen zujubelten. Eine Kapellenformation nach der nächsten zog im Freudentaumel an den Zuschauern vorüber.

Reden wurden auf den einzelnen Plätzen gehalten, immerhin lag ein verheerender Weltkrieg zwischen dem letzten und dem jetzigen Eidgenössischen: Würde, Vaterland und der Zusammenhalt des stolzen und gwehrigen Schwyzerländlis wurden hochgehalten. Nach dem Schlussapplaus verteilten sich die Massen in den Gassen und Strassen, bis die Fahne feierlich den Weg aus dem Städtchen hinunter zum Rossboden fand, wo der riesige geschmückte Festplatz wie mit offenen Armen für die Menge bereitstand.

Doch es zeigte sich schnell das erste grosse Problem: Eine erschreckend lange Kolonne von Automobilen staute sich von der Stadt hinunter zur neuen Schützenstrasse am Rossboden und auf dieser weiter bis vor die Tore des Festes.

Rasch mussten deshalb mehrere Bauern davon überzeugt werden, dass sie die angrenzenden Wiesen in aller Eile mähten, damit die Fahrzeuge dort abgestellt werden konnten – per Handschlag wurde eine grosszügige Abschlagszahlung dafür abgemacht. Ein Hilfspolizeimann hatte bis zum Ende des Tages über achttausend Automobile, darunter auch viele dieser neuen Autocars, gezählt, in denen bis zu fünfundzwanzig Personen Platz fanden. Viele der Besucher schenkten auch dem riesigen Meer aus Automobilen fassungslose Blicke. Väter mit ihren Kindern an den Händen liefen staunend durch die in Reih und Glied parkierten Wagen.

Doch das tat der Feststimmung keinen Abbruch. In den überfüllten Festzelten wurde gegessen und getrunken und alte Freundschaften neu und neue frisch begossen, während die Musik fröhlich aufspielte.

Dass nur fünf Tage zuvor ein grausamer Mord in Chur geschehen war, wurde bloss hie und da an wenigen Tischen kurz zum Thema. Der weit gerühmte Geist des Schützenfestes umgab einen jeden und eine jede und liess den Alltag vergessen.

Helvetia 1949

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