Читать книгу Helvetia 1949 - Philipp Gurt - Страница 9

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Wenige Minuten später erreichten die beiden den zuhinterst im Täli liegenden Schrottplatz mit der alten Sägerei der Grubers. Letztere wurde noch immer vom alten Mühlbach angetrieben, der hinter dem Gebäude eingepfercht durch einen schmalen betonierten Lauf schoss und ein gleichmässiges Klappern des Antriebsrades ertönen liess.

Sie stellten ihre Velotöfflis an den Strassenrand und warteten in gebührendem Abstand zum Rottweiler, der bereits an der Kette tobte, bis der älteste der Gruberbrüder, der mächtige Simmi, aus der Sägerei schritt, über der die Grubers allesamt hausten. Rund um die baufälligen Gebäude mit ihren schäbigen Fassaden lag Gerümpel unordentlich gestapelt: rostige Bleche, alte Räder, verbeulte Fässer, halbwegs zugedeckt mit einer grünen Plane, die mit Sicherheit kein Wasser mehr abwies, und ein alter, nur noch dreirädriger Pferdeanhänger, der schief in der Gegend stand und rückseitig von einer Ranke umwachsen war. Dazu drückte, wenn der Wind kurz abflaute, immer wieder schwallweise Verwesungsgestank von der angrenzenden Gerberei des Schwinta-Hitsch herüber.

Während Simmi auf die beiden Ermittler zukam, zog er seine Hose unter dem sich über den Gürtel wölbenden Ranzen zurecht.

«Und?» Er kaute auf einem Zahnstocher herum, während er sich vor den beiden Ermittlern aufbaute und zu ihnen herunterblickte.

«Guata Tag, Simmi. Hast du heute Morgen deinen Anstand etwa im Haus gelassen?» Caminada schaute ihn streng an. Er wusste, er durfte sich jetzt keine Blösse geben.

«Wer weiss? Wenn ich nur einen von euch sehe, gibt’s nämlich meistens Ärger, und wenn zwei oder mehr kommen, dann garantiert.» Simmi spuckte seitlich zu Boden und kraulte mit seinen Pranken den mächtigen Kopf von Nero, der zweifellos sofort angreifen würde.

«Na ja, wenn euer Schrottplatz Gegenstände ‹anzieht›, die deswegen jemandem fehlen, dann zieht’s uns von Gesetzes wegen hierher und bis jetzt ja noch nie umsonst, wie du mit Bestimmtheit bestens weisst. Also, tu nicht so scheinheilig und schreib dir das hinter deine Löffel, auch wenn diese weiter oben hängen als bei allen anderen im Churer Täli.»

Caminada war sich einiges gewohnt. Seit Jahren liess der Respekt gegenüber Beamten zudem spürbar nach, doch die Grubers waren nochmals eine andere Sache.

«Diesmal kommst du aber vergebens.»

«Ich hoffe es, denn diesmal geht’s um z’Käthy. Ist sie denn da?»

«Wieso sie?» Der Riese konnte seine Verwunderung darüber nicht verstecken. «Die tut doch gewiss nichts Unrechtes.»

«Ist sie nun da oder nicht? Es geht um ihre Arbeit in der Roten Laterne.»

«Was weiss ich. Wenn ja, liegt sie in ihrer Kammer. Wie du sicher bereits weisst, war die gestern am Servieren.» Er drehte sich zum Haus um, das rückseitig fast die schroffen Felsen berührte, und brüllte wiederholt zu einem der kleinen Fenster hoch, sodass die Enge der Schlucht die Rufe widerhallte. Er wartete einige Sekunden, nur das Klappern des Mühlrades war zu hören.

«Die ist nicht da. Wahrscheinlich hat sie wieder mal bei ihrem Hallodri übernachtet.» Sein Atem roch nach Alkohol.

«Soso, grad därra wäg? Und wie heisst der Hallodri?», wollte Caminada wissen.

«Willi Martschitsch», folgte unwirsch die Antwort.

«Ach, der Jüngste vom Maler in der Oberen Plessurstrasse? Das ist doch aber ein anständiger Kerl?» Diesmal wunderte sich Caminada, denn es galt als verpönt, mit einer aus dem Täli zu gehen und mit der Gruberin erst recht, aufgrund des schlechten Rufes der gesamten Sippe.

«Jawohl, diesen meine ich – einer der Mehrbesseren, der sich wegen unsereinem zu schämen brauchen muss – so glauben die!» Er verschränkte seine kräftigen Arme, die dick wie Oberschenkel schienen, und stand noch breitbeiniger hin. «Doch wie jeder weiss, stinkt auch deren Scheissdreck, nur ihr Scheisshaus ist schöner.»

«Wo wart ihr drei denn gestern Abend?» Mit den «drei» meinte Caminada auch dessen zwei jüngere Brüder, Kläusli und Ernst, die im Gegensatz zu Simmi sogar einen Kopf kleiner als normal gewachsene Männer waren, wenngleich dafür stämmig und bärtig wie zwei Kampfzwerge. Zu unterschätzen waren auch die aber alleweil nicht, wusste Caminada aus zwei Einsätzen, als die Gruberbrüder besoffen in der Bierhalle am Obertor randaliert hatten.

«Du meinst, ob wir auch hinten in der Roten Laterne hockten, um ein Auge auf z’Käthy und eines auf diese Lola zu werfen?» Er grinste. «Nein, wir haben hier zu dritt einen scharfen Jass geklopft und genehmigten uns hauseigenes Zuckerwasser. Und das Käthy, das weiss sich zu wehren, ist ja eine Gruberin.»

«Hat sonst noch jemand mit euch gejasst?» Er ignorierte Simmis Aussage wegen des Zuckerwassers, denn es war bekannt, dass sie wieder Schnaps brannten, und das nicht zu knapp. Doch das würden sie in einer anderen Runde ahnden.

«Nein.» Simmi blickte nun zu Marugg, der einen Schritt seitlich hinter Caminada stand und zuhörte. «Und Landjäger, dein Schmalhans-Schüler hier, kann dä au schnorra, oder ist der stumm? Für schön ist das Rumpelstilzchen bestimmt nicht hier.»

Caminada wusste, die Gruberbrüder hielten von ihm, vom ganzen Landjägerkorps einen Dreck. Der Grund lag auf der Hand: Vor sieben Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde der alte Gruber beim Totengutbrückli im Morgengrauen eines diesigen Novembertages in der Plessur liegend tot aufgefunden – er war erstochen und übers Geländer des Totengutbrücklis hinuntergeworfen worden. Die Ermittlungen von Wachtmeister Maissen hatten damals ergeben, dass Gruber am Abend zuvor bis kurz vor Polizeistunde im «Plessurfall», der «Falla», gehockt war und dann seine Jassrunde frühzeitig und ohne Angaben von Gründen plötzlich verlassen hatte und in entgegengesetzter Richtung zu seinem Daheim aus dem Täli gelaufen sein musste. Über den Grund wurde gerätselt, und auch einige Gerüchte machten alsbald die Runde, aber ohne Licht ins Dunkel zu bringen. Was sehr wahrscheinlich schien, war, dass er bewusst seinen oder seine Mörder dort, warum auch immer, treffen wollte. Mehrere Zeugen hatten zudem zu Protokoll gegeben, dass an jenem Nachmittag eine auffallend hübsche junge Frau im Täli gesehen worden sei, die niemand kannte und die auf dem Weg zu den Grubers gewesen sein musste, denn einer der Zeugen sah sie von dem Schrottplatz kommen. Sie wurde als gross beschrieben und habe langes schwarzes Haar getragen, von ihrer Art her bestimmt eine Zigeunerin.

Der alte Gruber, klein und stämmig wie seine beiden jüngsten Söhne, war ein umtriebiger Mann gewesen, dessen alte Sägerei und vor allem der Schrottplatz auch für krumme Geschäfte dienten, sodass regelmässig das Landjägerkorps vor Ort ausrücken musste. Als das eidgenössische Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung während des Zweiten Weltkriegs neben den Lebensmitteln auch Güter aller Art auf die Rationierungsliste gesetzt hatte, kam reger Schwarzhandel auch in Graubünden auf, von dem die Grubers ihren Anteil sichern wollten. Aufgrund eines solchen Vergehens wurden nur wenige Monate vor Grubers Tod, Mitte Mai im Jahre 1942, zwei Polizeimänner im Einsatz derart von den Grubers im Täli zusammengeschlagen, dass sie eine Woche lang im Kreuzspital lagen.

Das konnte das Landjägerkorps nicht auf sich sitzen lassen. Erst recht nicht mit dem stolzen Major an dessen Spitze. Dieser liess, nachdem er am nächsten Morgen eine feurige Ansprache auf das Vaterland und die Ehre des Landjägerkorps gehalten hatte, eine Zehnerschaft der kräftigsten Beamten, darunter auch Caminada, ins Täli einrücken.

Dem Rottweiler, den die Grubers damals auf sie losliessen, wurde von Leutnant Ferdinand Fässler in den Kopf geschossen, danach steckte er seine Waffe ein, um mit den anderen Beamten den Grubers zu zeigen, wo der Bartli den Most holt. Dabei bezogen auch drei der Ihrigen khörig Prügel, aber die vier Grubers wurden gebodigt.

Dem aber nicht genug. Nachdem die Beamten die vier in Handschellen gelegt und den Schrottplatz und die alte Sägerei vor deren Augen auseinandergenommen und alles Wertvolle kurzerhand als Schadenersatz gepfändet hatten, beschlagnahmten sie den Selbstgebrannten und schütteten das «Zuckerwasser» auf der anderen Strassenseite hinunter in die Plessur. Danach zerstörten sie mit einem schweren Vorschlaghammer die Destillerie.

Caminada erinnerte sich noch gut an die Worte des Majors während des anschliessenden Umtrunks in der Wachtstube: «Wackere und stolze Männer des Landjägerkorps, das wird sich in allen einhundertfünfzig Talschaften rumsprechen, und ein jedermann wird sich ab sofort gut überlegen, einem Landjäger Prügel anzudrohen, geschweige solche zu verteilen. Aufrichtigkeit siegt immer vor stumpfsinniger Gewalt.»

Doch der alte Gruber besass ebenso einen harten Grind wie der Major. Er liess diesem noch aus der Internierung in der Korrektionsanstalt im Domleschg, wo er und seine drei Söhne bis zum Oktober Zwangsarbeit leisten mussten, ein Schreiben zukommen. Darin drohte er, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen sei, dass niemals genügend Wasser die Plessur hinunterfliessen könne, um zu vergessen, und dass das Totengut gewiss immer ein flottes Plätzli im Täli bereithalte.

Aufgrund dieses Schreibens, das zwar voller Fehler und kaum leserlich war, sorgte der Major dafür, dass alle nochmals einen Monat länger einsitzen mussten.

Dann geschah es: Nur drei Tage nachdem die vier doch noch entlassen werden mussten, fand der mysteriöse Mord am Alten statt.

Major Kübler winkte nach der ersten Tatortaufnahme durch Wachtmeister Maissen für weitergehende Ermittlungen ab: Solange Tälibewohner nur eigene und vor allem solche Gestalten umbrächten, regelten deren Gesetze dort hinten das von alleine. Zudem hätte in diesen schweren Kriegszeiten das Korps nun weiss Gott andere Aufgaben zu erfüllen, als Verbrechen gegen Verbrecher aufzuklären. Damit war die Sache für ihn vom Tisch.

Doch schon bald ging das Gerücht um, dass der alte Haudegen, der Major, dem alten Gruber zuvorgekommen sei, um nicht mit eingeschlagenem Schädel irgendwo aufgefunden zu werden. Dass der Gruber mit seiner Drohung wahrscheinlich sein eigenes Grab geschaufelt hatte, schlug aber keine einzige Welle ausserhalb des Tälis, und Gras wuchs darüber. Der damals ermittelnde Wachtmeister Maissen schloss die Akte, als einzig Tatverdächtige blieb die schwarzhaarige Zigeunerin, die danach aber nie wieder gesehen worden war, wie im Nachhinein klar wurde.

Major Kübler hatte damals prophezeit und sich bis zum heutigen Tage aber geirrt, dass es nicht lange dauern würde, bis der Mörder vom Gruber irgendwo tot aufgefunden würde – wahrscheinlich gar am Fundort der Gruberleiche unterhalb des Totengutbrücklis im Bachbett der Plessur – als Zeichen der Gruber-Rache. Dass bis zum heutigen Tage diese Rache ausgeblieben war, erstaunte alle, denn es wurde noch lange darüber gerätselt, bis es mehr oder weniger in Vergessenheit geraten war.

«Simmi», führte Caminada das Gespräch weiter, «die andere Serviertochter, diese Möckli, wurde letzte Nacht an der roten Laterne erhängt aufgefunden, nachdem der verreckte Trubel um den ersten Auftritt dieser neuen Tänzerin zu Ende gegangen war, und da frage ich mich doch – wo ist z’Käthy? Und genau deshalb ist mein Ermittlungskamerad hier, der mit seiner Schläue übrigens euch alle in den Sack steckt.»

Simmi griff sich nachdenklich an die Nase, die der eines Boxers nach vielen Kämpfen ähnlich war. «Also, schlau sieht er schon mal aus mit der Brille, wie ein Erstklässler, das muss ich zugeben. Aber glaub mir, Landjäger, niemand würde es jemals wagen, unserer Käthy was anzutun. Was meinst du, warum die seit Jahren erhobenen Hauptes auch in tiefster Nacht durchs Täli mit dem Velo fährt oder auch zu Fuss stolziert, und das könnte sie auch füttlablutt tun.»

«Stimmt, Simmi.» Caminada, der mit ein Meter achtzig eher gross war, blickte zu dem Zwei-Meter-fünf-Riesen hoch. «Die Gedanken habe ich mir selbstverständlich auch gemacht, als wir von der ‹Falla› hierhergefahren sind. Aber wegen dem Schützenfest sind jetzt schon viele Fremde hier, und der gestrige Abend hat solche angezogen, wie wir mittlerweile wissen – die kennen euch Grubers nicht, und z’Käthy ist eine auffallend Hübsche, dazu ein aufgewecktes Fräulein.»

Caminada hatte damals, bei den abschliessenden Ermittlungen, als alle vier Grubers im Domleschg versorgt wurden, das Käthy vernommen. Sie war achtzehn gewesen, mit Augen, aus denen die Verschmitztheit eines blitzgescheiten Lusmaitlas funkelten.

«Aufgeweckt?» Simmi machte bedrohlich einen Schritt auf Caminada zu, sodass er nun wie ein Eichenschrank direkt vor ihm stand. Nero schlug dabei wütendes Gebell an und riss zwei Meter dahinter an der Kette. Maruggs Hand glitt an seine Ordonnanzpistole, wie Caminada aus dem linken Augenwinkel erkannte.

Caminada war zwar deutlich kleiner als Simmi, aber er war ein zäher Hund, der eine unbändige Kraft aus seinem nicht übermässig muskulösen Körper explodieren lassen konnte. Von Kindesbeinen an hatte er in Samnaun, wo er aufgewachsen war, seinem strengen Vater Hermann, der eine Fuhrhalterei besessen hatte, geholfen, die Pferdewagen zu beladen. Eine knochenharte Arbeit, die ihn mit den Jahren aber zäh werden liess, und das hatte Simmi vor sieben Jahren bei dem Einsatz zu spüren bekommen, als Caminada den Riesen gemeinsam mit Wachtmeister Maissen gebodigt hatte. Noch immer zeugte eine Narbe an Simmis linkem Auge von dem einen Hieb des Landjägers, der ihn damit zu Boden gedonnert hatte.

«Willst du mit ‹aufgeweckt› etwa sagen, dass sie a Wentala ist?» Simmi baute sich noch weiter vor Caminada auf, der nach aussen hin, wie es seine Art war, ruhig blieb, sich aber nicht sicher war, ob der Riese nicht hier und jetzt die alte Rechnung damit begleichen wollte.

«Nein, sie ist sicher keine Bordsteinschwalbe, aber eine, die schnell mit jedermann ins Gespräch kommt, wie du weisst, und deshalb möglicherweise, was wir nicht hoffen wollen, mit dem Falschen», stellte Caminada in ruhigem Ton fest. «Deshalb will ich wissen, wo sie jetzt ist und wie’s ihr geht. Sollte auch in eurem Interesse sein, und jetzt mach gefälligst wieder einen Schritt zurück.»

«Soso, wenn ein junges Maitli verschwindet, dann ist die Landjägerei sofort zur Stelle. Aber als unser Vater umgebracht wurde, da habt ihr euch einen Dreck darum geschert, herauszufinden, wer es gewesen war, damit der Sauhund zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Ich warne dich, Landjäger Caminada. Wir werden irgendwann den schon noch ausfindig machen, und dann schauen wir, wer da Dreck am Stecken hat – ob dieser nicht doch bis ins Landjägerkorps reicht …» Nach diesen Worten machte er den geforderten Schritt zurück.

«Du glaubst also immer noch, dass wir am Tod von eurem Vater selig schuldig sind? Dies, weil ihr vier zwei der Unseren verprügelt habt?» Caminada hielt kopfschüttelnd Blickkontakt. «Simmi, falls du das Wort Rache mit ins Spiel bringen willst – wir haben euch doch damals, nur einen Tag nach eurer Tat, den Meister gezeigt und euch alle vier ins Loch gesteckt. Das war richtig so und auch angemessen, denn tags zuvor waren die beiden Wachtmeister wegen den gestohlenen Kupferkesseln aus Sapün zu euch gekommen, die sie ja auf dem Schrottplatz versteckt gefunden hatten, und ausserdem – wer hatte Selbstgebrannten gleich fassweise hergestellt?»

«Die Kupferkessel habt ihr, oder wer auch immer, uns untergejubelt, um euren Einsatz zu rechtfertigen. Das haben wir damals gesagt, und es stimmt auch heute noch. Da wollte uns einer, und es hat ja geklappt, ein gar dreckiges Strickli drehen. Und es mag vielleicht für dich, Walter, stimmen, dass nach der Prügelei die Sache erledigt war …» Er tippte mit seinem Finger über sein linkes Auge an die Narbe, die von Caminadas Rechter verursacht worden war. «Ihr wart zwar zu zweit, doch das ging schon in Ordnung. Ich trage dir gewiss nichts nach. So bin ich nicht, und der andere spuckte ja bestimmt eine Weile Blut, und auch du hast einstecken müssen. Aber vergiss nicht, du bist nicht der einzige Landjäger bei euch.»

«Du meinst, die, welche noch mehr eingesteckt haben, hegten Rache? Das kann ich mir nicht vorstellen, auch wenn dem Max eine Handvoll Zähne fehlt und die Nase vom Rudolf noch immer schief im Grind hockt und du dem Maissen den Grind blutig geschlagen hattest. Aber deswegen euren Vater gleich umbringen? Das macht keinen Sinn. Und meine Rippen sind auch seit Jahren wieder ganz. Wir hatten das damals auf eure Weise, mit euren Mitteln geklärt – klären müssen.»

Simmi gab keine Antwort, deshalb fuhr Caminada fort: «Ich sag dir jetzt öppis, und das zählt. Wir wissen, die Möckli wurde von jemandem brutal erhängt. Ein grausamer Tod. Womöglich hat sie was gesehen, was gewusst oder was ausgefressen, das zu ihrer Ermordung geführt hat. Aber ich bin erst beruhigt, wenn ich weiss, dass dem Käthy nichts passiert ist – immerhin schafften die beiden zusammen, auch gestern Abend. Und nur darum sind wir hier, trotz des Wissens, dass wir alles andere als willkommen sind.»

Simmis Gesichtszüge wurden etwas weicher. «Walter, du wärst kein ungrada Siach, wärst du nicht a Schrooter», antwortete er.

«Simmi, ich bin ein Schrooter geworden, weil es Ungrade gibt. Also, wenn ihr vom Käthy was hört, lasst es uns schnell wissen. Könnt ja ins Asyl fahren und es telefonisch ausrichten lassen.»

Simmi nickte, und Maruggs Hand entspannte sich, während er sie langsam von der Waffe nahm, bevor sie sich verabschiedeten. Caminada sah, dass sich Schweisströpfchen auf Maruggs Stirn gebildet hatten, und klopfte ihm beim Gehen auf die Schulter. «Guat kmacht.»

«Und?» Marugg blickte Caminada an, der auf seinem Velotöffli, ebenfalls ohne den Motor angetreten zu haben, aus dem Täli trampte. Rechts vor ihnen erhob sich der Mittenberg. Direkt über den Häusern der Altstadt thronte in dessen Flanke der mittelalterliche bischöfliche Sitz mit dem Hof, der Kathedrale und dem Priesterseminar mit seinen Rebbergen im Hang. Alles lag im warmen Sonnenschein, wie auch das Churer Rheintal, das sich mit dem mächtigen Calanda im Hintergrund vor ihnen öffnete. Auf dessen fast dreitausend Meter hohen Gipfeln hatte sich der letzte Schnee zurückgezogen und gab mit jedem Hitzetag schneller die Geröllhalden frei.

«Lass uns zum Willi Martschitsch fahren, dem Junior, meine ich, und lass uns hoffen, dass das Käthy dort ist», schlug Caminada mit dem Blick auf die Bergwelt vor, mit der er so tief heimatlich verwurzelt war.

Knappe zehn Minuten später, sie waren der Plessur und dem Geleise der Arosabahn entlang gefolgt, bogen sie nach dem Obertor in die Obere Plessurstrasse ein und hielten vor dem ersten Haus auf der linken Seite, in dem sich ebenerdig die Malerwerkstatt Martschitsch befand, wie das Werbeschild es auf dem Holztor zeigte: «Gutes Handwerk – ehrliche Preise».

Martschitsch senior stand in seinem Malerschurz in der Werkstatt und strich soeben einen Fensterrahmen hellbraun, als sie eintraten.

«Hat er was ausgefressen?», fragte er stirnrunzelnd und wischte seine Hände an einem Lumpen ab, nachdem Caminada nach Willi gefragt hatte.

«Nai, nüt derrigs. Wir müssen nur kurz mit ihm reden», beschwichtigte Caminada den drahtigen Fünfzigjährigen, der seinen hellbraunen Haarkranz kurz geschoren trug.

Zufrieden schien sich der Martschitsch damit aber nicht zu geben. Zumindest verriet dessen Gesichtsmimik dies Caminada.

Dennoch führte er die beiden Ermittler anstandslos zur kleinen Einliegerwohnung, die im Parterre des Nebengebäudes lag.

Den jungen Willi mussten sie aus dem Schlaf poltern, entsprechend sah er aus, als er die Türe öffnete.

«Landjägerkorps Caminada. Ruf bitte das Käthy.» Caminada steckte ihm kurz und bündig seine Ausweiskarte unter die Nase, wollte das Überraschungsmoment nutzen.

Willi fuhr sich verschlafen durchs volle gekrauste Haar. Er stand mit einem Unterleibchen und einer zu grossen Unterflöta im Gang. Durch das einzige Fenster warf die morgendliche Sonne einen gleissenden Kegel, in dem der Staub tanzte.

«Z’Käthy? Sie ist nicht da. Ich habe gestern Nacht vergebens auf sie gewartet. Dachte, es wäre zu viel los gewesen in der Roten Laterne – wegen dieser Lola … dieser Tänzerin.» Er glaubte, sich erklären zu müssen. Erst jetzt sah er seinen Vater, der sich im Hintergrund hinter den beiden Ermittlern gehalten hatte, und zuckte zusammen, aber bestimmt nicht, weil er nur in seiner Unterhose dort stand.

Caminada nickte und bat, einen Blick in die kleine Wohnung werfen zu dürfen, die aus einem grossen Zimmer bestand. Nichts Verdächtiges fiel den beiden Beamten auf, und z’Käthy schien tatsächlich nicht anwesend zu sein, auch nicht im Schrank. Deshalb verliessen sie das Gebäude, das direkt über der eingepferchten Plessur stand, und hörten, wie der Alte mit seinem Junior wetterte: «Sternasiach no mol, Willi! Du huara Schlufi. Ich habe dir doch mehr als deutlich gesagt, dass du dich nicht mehr mit so einer Tschättara einlassen sollst. Jetzt haben wir wegen der die Landjägerei im Hause. Zum Schämen ist das, du fertiga Galöri, du! Was sollen auch die Nachbarn denken? Reicht denn noch nicht, was passiert ist?»

«Papa, das Käthy isch doch kai Schlächti, nur weil sie aus dem Täli kommt.»

«Jetzt hör aber auf. Wievielmal willst du mir das noch sagen? Ha? Wer kennt denn die Grubers nicht? Hä? Das sind Glünggis und Schniffbückla in einem – verreckts Zigeunerpack. Mit solchen Leuten hat man besser nichts zu kutschieren. Die bringen nur Unglück über einen.»

«Z’Käthy schafft aber recht und ist eine Fleissige, und wir haben uns gern.»

«Schäm dich, Willi. Du weisst schon, was man über die Serviertöchter der Roten Laterne so alles verzellt. Lass dich von der nur nicht um da kli Finger wickla!»

«Jo äba, Papa – verzellt. Die Leute reden doch immer. Aber du kennst von dahinten nicht eine. Z’Käthy schafft recht, und das seit vier Jahren im Restaurant Meiersboden, und wenn sie anderswo eine Arbeit findet, dann geht sie dahinten – egal, wann’s ist, sie hat’s mir fest versprochen.»

«Bin ja nicht blöd. Solches Pack hält ihr Wort wie ein durchlöcherter Kessel das Wasser, und nenn dä Schpunta ruhig beim richtigen Namen. Die Rote Laterne ist kein anständiges Restaurant, darum hat sie auch diesen Namen mehr als verdient. Und eine aus dem Täli bleibt eine aus dem Täli, auch wenn die im ‹Steinbock› servieren würde. So eine kommt mir nicht über die Schwelle, das ist schon mal so sicher, wie dass die Plessur nicht das Schanfigg hochfliesst. Da würde ja der Pfarrer rot werden, wenn wir mit so einer am Sonntag in den Gottesdienst hockten.»

«Kurios, Vater, und Käthys Brüder wollen so einen Mehrbesseren wie mich nicht in ihrer Familie haben.»

«Jetzt bist du aber sofort still, du frecha Lümmel!» Der alte Martschitsch erhob drohend seine Stimme, und dem Geräusch nach zu urteilen, bekam der Willi soeben eine geschellt. «So eine Wentala kommt mir nicht noch einmal über die Schwelle. Verstanda? Sonst kannst du deine Siebensachen packen und schauen, wo du bleibst. Dir haben nur ihr gutes Aussehen und die grossen Tüti einen sturmen Grind beschert. Schau nur zu, dass die nicht noch ein Popi von dir bekommt, sonst bist du dann geliefert. Es gibt weiss Gott genug Hübsche und vor allem anständige Maitla in Chur, als dass du im Täli grasen müsstest», entlud sich das Donnerwetter.

Eine Türe schlug zu, dann eine zweite, dann kehrte Ruhe ein.

«Und jetzt?» Marugg verzog vor dem Haus vielsagend sein Gesicht und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er Caminada durch seine runde Nickelbrille anblickte.

«Abwarten. Ich hoffe schwer, die taucht noch auf. Aber weisst du, was mich wundert?» Ohne Maruggs Antwort abzuwarten, fuhr Caminada fort: «Der Willi hat keinen Mucks gemacht und gefragt, warum wir überhaupt an seiner Türe stehen. Da würde doch unsereiner nachfragen.»

«Das stimmt. Spätestens dann, als wir ihn aufgefordert hatten, dem Käthy mitzuteilen, dass es sich umgehend beim Landjägerkorps zu melden hat», pflichtete ihm Marugg bei.

«Na gut, vielleicht war’s wegen seinem Vater, aus Angst, dass was rauskommt, das dem Alten sicher nicht gepasst hätte. Warten wir bis am Abend ab, und wenn wir nichts von ihr hören und sie sich nicht auf dem Posten meldet, dann fahren wir heute nochmals in die Rote Laterne. Wir müssen sowieso die Wirtin genauer befragen.»

Noch hatte Landjäger Caminada sich nicht an den neuen Heimweg gewöhnt, seit er im Frühling nach so vielen Jahren vom Küblereiweg in die Loëstrasse gezügelt war.

Professor Dr. Küenzli, Chefarzt im Kreuzspital, hatte ihm und Menga ein kleines Haus mit grossem Gemüsegarten verkauft, in dem vier gesunde, kräftige Obstbäume standen. Genauer gesagt hatten sie es hauptsächlich mit dem Geld von Menga gekauft, deren Eltern in St. Moritz das grösste Hotel besassen und einen kleinen Teil des Erbes bereits ausbezahlt hatten. Caminada war dies alles andere als recht gewesen, doch seit er Menga vor zwei Jahren am Tiefpunkt seines bisherigen Lebens kennen- und lieben gelernt hatte, war viel geschehen. Dass sie jetzt schwanger war, freute ihn besonders, denn er liebte sie und wünschte sich schon lange Kinder.

Da Menga an diesem Samstagmorgen im Dienst als Ärztin stand und er sowieso auf dem neuen Nachhauseweg erst am Kreuzspital vorbeifahren musste, stellte er sein Vehikel vor dem Gebäude ab, vor dessen Südfassade ein riesiger Garten angelegt war, den die fleissigen Nonnen hegten und pflegten. Von den langen Innenbalkonen aus, mit ihren schönen Säulen und Rundbogendecken aus weiss gestrichenem Holz, konnten die Patienten auf diesen hinunterblicken oder weit ins Bündner Oberland.

Eine in ihre Ordenstracht gekleidete Kreuzschwester verschwand auf Caminadas Bitte im Gebäude, dessen Böden nach Schmierseife rochen, um Menga zu rufen.

Die schwarzhaarige Engadinerin, mit ihrer gebräunten Haut und den klaren Augen wie Bergseen, kam sichtlich erfreut in ihrem weissen Kittel die Treppe herunter auf Walter zu und führte ihn in den kleinen Pausenraum.

«Schön, dich zu sehen, mein Liebster.» Sie küsste seine formschönen Lippen und fuhr ihm zärtlich über die Wange. Auch in ihren Augen lag noch immer dieselbe Liebe, die die beiden vor einem Jahr hatte heiraten lassen. Ein schönes Fest im Engadin im engsten Familienkreis war es gewesen, so wie sie es sich beide gewünscht hatten. Am hoteleigenen Strand am See assen und feierten sie, das Wetter hatte mitgespielt, es war ein warmer Junitag gewesen. Am Abend brannten Fackeln am Ufer des schlafenden Sees, als drei Geigenspielerinnen musizierten.

«Strenge Nacht und Morgen gehabt?», fragte Menga.

«Ja, war nicht einfach. Ein junges Fräulein fiel einem Verbrechen zum Opfer.»

«Ich hab’s leider gehört. Sie liegt noch immer unten in der Leichenhalle.» Mengas Augen schimmerten plötzlich traurig. «Unfassbar, was Menschen manchmal Menschen antun, und du musst Opfern, Hinterbliebenen und Tätern in die Augen blicken können.»

«Es ist nicht immer leicht, das gebe ich zu, aber jemand muss es ja machen. Hast du übrigens den Bargätzi gesehen?» Walter strich ihr liebevoll über die Schulter.

«Der ist noch immer nicht aufgetaucht, soviel ich weiss.»

«Menga?» Er sah ihr in die Augen. «Ich glaube, das ist nur der Anfang von noch Schlimmerem.»

«Wieso glaubst du das? Du bist doch sonst nicht so ein Schwarzmaler?» Sie griff nach seinen schönen Händen.

«Das kann ich dir nicht sagen, mein Schatz, aber ich habe ein ungutes Gefühl in diesem Fall. Hoffentlich liegt’s nur daran, weil ich wegen dem Eidgenössischen, das jetzt schon ein Riesenbrimborium erahnen lässt, in der Pflicht stehe. Das Fest wird grösser als gross werden. Zehntausende Gäste werden erwartet, und wir sind so wenige Beamte und verfügen nicht mal über Fahrzeuge. Dazu die Affenhitze und der Wind, der allen langsam einen sturmen Grind beschert.»

«Und jetzt? Was gedenkst du zu tun?»

Caminada nahm einen langen Atemzug, als müsste er die Antwort erst überlegen. «Hauptsache, ich habe dich jetzt kurz gesehen.» Seine angespannten Gesichtszüge hellten sich auf. Sie war wunderschön, fand er, und eine, die wusste, was sie wollte, das mochte er besonders an ihr. «Jetzt geh ich erst mal heim und esse was. Allenfalls muss ich am Abend wieder los, sollte das andere Fräulein, das wir suchen, sich bis dahin nicht gemeldet haben.» Er sah Mengas fragenden Blick. «Es ist die zweite Serviertochter der Roten Laterne, diese Käthy Gruber, aber die kennst du wahrscheinlich nicht.»

«Nein, nur die Grubers als solche sind mir ein Begriff, aber wer sie ist, weiss ich nicht. Daheim kannst du übrigens das Voressen wärmen, und mach dir doch Patati dazu. Kannst ruhig genug Kartoffeln kochen, dann haben wir noch für Maluns oder kalte Kschwellti vorig. Mein Dienst endet erst um vier Uhr am Nachmittag. Ich hoffe, wir sehen uns danach noch.» Sie berührte sanft sein Gesicht, während er ihr liebevoll über den Bauch streichelte, obwohl von der Schwangerschaft noch nichts zu sehen war.

Vor ihrem Einfamilienhäuschen im Hang des Loëquartiers, von dem man über Chur bis ins Bündner Oberland blicken konnte, stiess er das Gartentörchen auf, das von der Strasse in den Garten führte, den er nicht nur schön, sondern auch patent fand, denn er würde ihnen viel frisches Gemüse und Kräuter schenken. Die vier schon älteren, aber kräftigen Obstbäume, so hatten sie von Professor Dr. Küenzli erfahren, würden reichlich Äpfel und Kirschen, Birnen und Zwetschgen tragen und die Sträucher viele Beeren, die Menga einmachen konnte. Bei ihrem Einzug im Frühling hatten zwei der Bäume in voller Blüte gestanden und ihren Duft verströmt. Tagsüber summte es aus den beiden Bäumen vor lauter Bienen.

An seinen ersten elektrischen Kühlschrank hatte sich Walter noch immer nicht gewöhnt. Er ertappte sich dabei, wie er, wie die vielen Jahre zuvor, das Resteis kontrollieren wollte, um es rechtzeitig mit einem neuen Block vom Eismann aufzufüllen.

Nach dem Essen legte sich Caminada ein wenig in der Stube aufs Gutschi, das neben dem Esstisch stand, und schlief ein, als ihn das Telefon, an das er sich ebenfalls noch nicht gewöhnt hatte, aus dem traumlosen Schlaf schellte. Er ging in den Flur beim Hauseingang, wo es bei der Garderobe an der Wand hing.

In der Leitung war der Landjägerposten: Das Käthy Gruber habe sich telefonisch gemeldet, vernahm er von Fräulein Rosemarie. Käthy habe erklärt, sie sei wegen dem alten Malermeister Martschitsch am Morgen aus dem Fenster gestiegen und habe gewartet, bis Caminada und Marugg gegangen seien.

Erleichtert legte sich Caminada zurück aufs Gutschi und blickte noch müde durch die beiden Fenster ins üppige Grün, das der Südwind lebendig werden liess. Er würde eine Schaukel an den dicken Ast des Kirschbaums hängen, wenn es dann so weit wäre. Er wollte ein guter Papa werden, das besser machen, was sein strenger Vater falsch gemacht hatte, und das Gute, das er von ihm geschenkt bekam, weitergeben.

Irgendwie konnte Caminada sein neues Leben noch gar nicht richtig fassen. Bis vor etwas mehr als zwei Jahren war er noch voll Trauer und Verbitterung über den Tod seiner ersten Frau Jolanda gewesen, hatte sich über ein Jahr lang dem Alkohol hingegeben und mehr schlecht als recht im Küblereiweg gehaust, als er am Tiefpunkt seines Lebens Menga begegnet war. Und nun lag er hier im neuen Haus und erwartete mit seiner neuen Liebe ein Kind.

Das Einzige, was von seinem Leben zuvor geblieben war, das waren die schönen Erinnerungen an Jolanda, seine Arbeit und die Bösen, denn die würde es jederzeit und überall geben.

Helvetia 1949

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