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Die St. Martinskirche schlug neun Uhr, als durch die östlich gelegenen Fenster des Landjägerkorps die Morgensonne ihre Strahlen warf, während Caminada und Marugg im Arbeitszimmer von Major Kübler an dessen Besprechungstisch hockten.

«Meine Herren, einen solchen Mord können wir fünf Tage vor dem Eidgenössischen wahrlich nicht brauchen. Der im Siebenundvierzig, an dieser Flurina Hassler, hat ja gezeigt, in welchem Durcheinander alles enden kann.»

Der drei Jahre vor seiner Pension stehende Major legte mit strenger Miene den Bericht vor sich auf den Tisch, den Erkennungsfunktionär Marugg trotz kurzer Nacht in aller Herrgottsfrühe verfasst hatte. Dies in drei Durchschlägen und im besten Beamtendeutsch.

«Nun ja», Kübler blickte Caminada, dann Marugg an, «hoffen wir, die Neue Bündner Zeitung bringt es nicht allzu gross. Wind bekommen die ja sowieso davon.» Sein Blick ging wieder zu Caminada. «Walter, was gedenkst du nun zu tun?»

Landjäger Caminada, der als einziger Beamter im Korps weder Schnauz noch Bart trug, im Bubigesicht von Marugg wuchs zu dessen Leidwesen nichts, strich sich übers wohlrasierte Kinn, das nach seinem Rasierwasser Pitralon duftete. Viel geschlafen hatte auch er nicht, doch für einen Kaffee und einen Teller Rösti am Morgen hatte es gereicht. «Es ist auch ohne Bericht von Dr. Bargätzi klar, dass wir wegen Mordes ermitteln müssen.»

«Ja, heiligs Verdiana, ist der denn noch immer nicht bei der Leichenschau? Auf was wartet der? Dass die aufersteht und zu ihm marschiert? Nun ja, Selbstmord wäre mir in dieser Situation allemal lieber gewesen.» Major Kübler zog die dichten Augenbrauen grimmig zusammen, dabei schüttelte er – weil er es nicht fassen konnte – seinen Kopf und fuhr sich mit der Rechten über sein kurz geschnittenes graues Haar. Seine stramme Körperhaltung drückte noch immer den feurigen Militaristen in ihm aus, fand Caminada, als er ihn ansah, und so benahm sich der drahtige Kübler auch, der ausser in der Kirche zu jedem Anlass seine Uniform trug. Er legte sehr grossen Wert darauf, dass sie dabei wie frisch gebürstet aussah: mit der Doppelreihe silberner Knöpfe, die glänzten wie poliert, den goldenen Majorsstreifen in den Achselschlaufen und dem schwarzen Ledergurt.

Major Kübler, der einen nach oben geschwungenen Schnauz trug, den er immer wieder zwirnte, war auch ein glühender Patriot. Er hätte am liebsten gehabt, dass die fünfzehn Mann des Korps in Chur bei jedem Dienstantritt vor der Schweizer- und der Bündnerfahne, die vor dem Gebäude auf dem kleinen Platz wehten, stramm gestanden und zur Landeshymne salutiert hätten. Darüber machten sich die hundertachtzig Landjäger, die auf die hundertfünfzig Talschaften im Kanton verteilt waren, hin und wieder lustig. Letztes Jahr hing deswegen an der Jahresversammlung ein Majorshut auf der Fahnenstange, und ein Apfel lag am Boden, in Anlehnung an den Hut Gesslers und Wilhelm Tell. Humor aber besass Kübler genauso wenig wie Unpünktlichkeit. Er liess deshalb tatsächlich den Fall untersuchen, den Apfel und Hut beschlagnahmen, als wäre ein Verbrechen geschehen. Schnell musste er aber davon Kenntnis nehmen, dass das ganze Korps zusammenhielt und die Spitzbuaba unter ihnen, die dies ausgeheckt hatten, deckten.

«Bis wenige Minuten vor dieser Unterredung ist der Bargätzi mit Sicherheit noch nicht im Kreuzspital aufgetaucht, Major», knüpfte Caminada an die letzte Frage an, «denn ich hatte dort angerufen und mit meiner Frau Menga telefoniert. Aber nochmals, ich vertraue ganz auf unseren Erkennungsfunktionär Marugg, und von daher müssen wir sowieso Ermittlungen in Hinsicht eines Mordes eröffnen.»

Kübler stand erzürnt hinter dem dunkelhölzernen Besprechungstisch auf und nahm an seinem klobigen Schreibtisch Platz, auf dem ein schwerer, sperriger Telefonapparat thronte. Obwohl der Zweite Weltkrieg schon bald vier Jahre zu Ende war, hing hinter ihm noch immer das Porträt von General Guisan an der Wand.

«Nun gut, Walter. Also, was wollt ihr unternehmen, bevor die ganze Sache zum noch grösseren Problem wird?»

Einmal mehr schien es Caminada, dass Kübler dem jungen Marugg wenig Beachtung schenkte, der nicht nur vom Aussehen die neue Zeit verkörperte, während Kübler der alten nicht nur nachtrauerte, sondern die neue teilweise noch immer zu verhindern suchte.

«Peter und ich hören uns heute Morgen im Täli um. Die Geheimnisse dort hinten spült selten die Plessur aus dem Talschlitz und die aus der Roten Laterne erst recht nicht.»

«Tut das. Die Behörden von Araschga-Churwalden machen ja auch keinen Streich, um das gottlose Treiben in der Spelunke unter Kontrolle zu bekommen, und wir dürfen uns wieder mal erst bei Verbrechen gegen Leib und Leben einschalten so wie jetzt. Übrigens, vor wenigen Tagen soll diese Tänzerin aus Zürich angereist sein, wie mir Dr. Poltera vom Organisationskomitee des Eidgenössischen anlässlich der letzten Koordinationssitzung berichtet hat. Die macht so einen Nackedeitanz. Die soll Gluschtige während des Schützenfestes ins Täli locken, damit die ihre Geldseckel leeren. Pfui Teufel, beschmutzt so unseren Ruf und den des Eidgenössischen obendrauf, während dabei die ganze Schweiz auf uns blickt. Da könnten ja Ausserkantonale meinen, wir vom Landjägerkorps kämen unserer Pflicht nicht nach.»

Der Major hob nach diesen Worten grimmig den schweren Telefonhörer von der Gabel und wählte die 227, Bargätzis Nummer in dessen Wohnhaus, in welchem dieser im ersten Stock auch praktizierte. Nach vergeblichem Klingeln legte er genervt auf. «Der hat halt an einem Samstag schon Sonntag. Hockt sicher irgendwo beim Zmorge und lässt es sich wieder mal gut gehen.»

Er schritt über den aufknarzenden Holzboden zur Tür.

«Fräulein Rosemarie», rief er durch den Gang seine Sekretärin, die eiligen Schrittes postwendend erschien. «Rosemarie, sagen Sie einem der Hilfspolizeimänner, er muss den Bargätzi herholen. Er soll auch in der Schmiedstube, im Franziskaner und im Café Buchli einen Blick reinwerfen, denn wenn wir dort anrufen, lässt der Khaib seine Anwesenheit doch wie immer verleugnen. Ach ja, und auch im Weissen Kreuz, da geht der neuerdings hin.»

Fräulein Rosemarie Niedermaier, die von allen Beamten geschätzt wurde, hatte ihren Fünfzigsten hinter sich und arbeitete schon viele Jahre für den Major. Sie hatte nie geheiratet und war deshalb kinderlos geblieben und war die einzige weibliche, dazu noch gute Seele für die wackeren Landjägermannen. Rosemarie unterstützte sie in allem, was ihr möglich war, als wären die Landjäger ihre Familie, was ein Stück weit auch so war.

Bevor Marugg vor zwei Jahren vom Städtischen Polizeiamt zum Landjägerkorps wechselte, war Fräulein Rosemarie es gewesen, die Caminada bei allem Schriftlichen den Rücken freihielt und ihm Anzeigen und Protokolle vorlas, wenn’s wieder mal pressierte.

«Wird sofort erledigt, Herr Major», antwortete sie und richtete vor dem Gehen ihre Brille, die etwas gross in ihrem mageren Gesicht schien und daher mehr schief als gerade in diesem sass.

«Und was die Stola betrifft», fuhr Caminada fort, als der Major wieder an den Tisch zurückkehrte und Marugg diese aus der Tasche zog und vor ihm auslegte, «da werden wir auf dem Hof vorstellig werden müssen.» Er zeigte auf das aus Gold gestickte Kreuz und den Kelch. «Sie ist reich bestickt. Es muss einen Grund haben, dass sie zur Tatwaffe wurde.»

Kübler blickte auf die Stola, als könne er aus ihr lesen. «Landjäger Caminada …», Caminada wusste, so fingen Sätze an, in denen der Major unmissverständlich seine Meinung kundtun wollte, «du weisst, ihr alle wisst, wie sehr ich Katholik aus ganzem Herzen bin. Einst war ich ein stolzes Mitglied der Schweizergarde am Heiligen Stuhl von Pius dem Zehnten. Und wer diese Jahre erlebt hat, wer einmal dem Papst die Hand reichen durfte, wird dies ein Leben lang nicht vergessen. Ich werde euch direkt zu Bischof Kamber schicken, nachdem ich ihn gesprochen habe. Das mit der Stola muss diskret behandelt werden. Stellt euch bloss die Schlagzeilen vor, so kurz vor dem Eidgenössischen. Es käme zudem einem Generalverdacht gegenüber allen katholischen Priestern und Gelehrten in Chur und Umgebung gleich und wäre für einige Protestanten ein gefundenes Fressen.»

Caminada konnte dieses Argument zwar gut nachvollziehen, und daher hatte er auch die anderen Beamten am Tatort zur Verschwiegenheit aufgerufen, doch die Frage stand im Raum: Was für einen Bezug hatte diese Stola zu der Tat? Denn so ohne Weiteres kam niemand an ein solches Würdenzeichen, und um jemanden zu erhängen, hätte ein einfacher Strick gereicht. Mit dieser Art, ein junges Fräulein zu töten, war unweigerlich auch eine Botschaft des Täters verknüpft, ob gewollt oder getrieben, müssten sie feststellen.

Gegen zehn Uhr erreichten Caminada und Marugg das Täli. Der Sturm der letzten Nacht hatte Äste und Blätter zusammen mit Müll auf die Sandstrasse geweht. Der von einem Ross gezogene städtische Kübelwagen kam nur alle vierzehn Tage, und so überquoll der Abfall neben den Ochsner-Kübeln aus Stahlblech. Am Strassenrand häufte sich der Unrat vor den Häusern, deren Bewohner sich nicht an die Vorschriften hielten und diesen nicht erst am Abfuhrtagmorgen an den Strassenrand stellten. Deshalb hatte der Stadtpräsident im letzten Sommer angeordnet, dass die Müllabfuhr das Täli aussen vor liess, um die Bewohner zu Disziplin zu erziehen. Doch nachdem sich die Abfallberge vor den Häusern weiter türmten und noch schlimmer zu stinken begannen, wurde der ganze Unrat während einer Nacht- und Nebelaktion von diesen in die Plessur geworfen. Dieser Müll wurde aber nicht restlos von der Plessur in den Rhein abgeführt, sondern stank an den Ufern des Plessurbettes angespült auch vorne in der Stadt, sodass Anwohner im Rathaus vorstellig wurden. Ausserdem versaute der Müll auch die Churer Rheinauen bis nach Haldenstein, was ein unrühmliches Bild für alle Zugsreisenden bot, die mit den Schweizerischen Bundesbahnen nach Chur anreisten.

Die Aufräumarbeiten zogen sich in die Länge und zeigten deutlich die Niederlage Cadlinis, sodass dieser ein Sujet für die nächste Fasnacht bot und für Spott und Hohn sorgte und damit wiederum die Kluft zwischen Stadt und Täli weiter vertiefte.

Der kleine Hilfsmotor am Lenker von Caminadas Velotöffli knatterte gleichmässig laut, während Marugg auf seinem neu erworbenen sass, das zwar ebenso einen Krach machte, was aber seinen Stolz darüber nicht minderte.

Der Junimorgen war warm und windig, als sie rauchblaue Abgasschleier hinter sich herzogen. Wetterschmöcker hatten einen Hitzesommer wie vor zwei und sechs Jahren prophezeit, und bis jetzt hatten sie damit recht behalten. Die Morgensonne tauchte die vordersten Häuser im Täli in mildes Licht, doch überall lagen im Gegensatz zum Städtchen kalte Schatten, so auch am Wibersprutz, dem kleinen Wasserfall, der vom ehemaligen Kloster Sankt Hilarien kommend über die Felsen in die Plessur brunste. Das Restaurant Plessurfall, das in der Mitte des Tälis direkt an der Strasse stand und von den Einheimischen nur «d’Falla» genannt wurde, erreichten sie wenige Minuten danach.

Caminada und Marugg hängten ihre Hüte am Eingang an die Haken, die sie des Windes wegen beim Fahren unter den Tschoopa gesteckt hatten, und betraten die Beiz, die den Übernamen «d’Falla» nur deshalb trug, weil wer einmal abends am Stammtisch hockte, nicht vor dem nächsten Tag aus der Beiz wieder rausfand, so zumindest sagte es der Volksmund.

Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee, Zigarrenrauch und Holz. Des Schattens im Täli wegen brannte eine verschnörkelte Lampe über dem verwaisten Stammtisch, in dessen Zentrum ein übergrosser runder metallener Aschenbecher platziert war, aus dessen Mitte sich ein Steinbock stolz erhob. Rosetta, die alte Wirtin, wischte soeben mit einem feuchten Lappen einen der Holztische, als die beiden sich an einen der anderen setzten.

Fritz und Köbi, die eineiigen Zwillinge, die als Tagelöhner mal hier, mal da arbeiteten, hockten je vor einem Einerli Roten beim Fenster und pafften selbst gedrehte Zigaretten.

«Mooorga, kai Arbat hüt?» Caminada warf den einzigen Gästen beim Hinsetzen einen fragenden Blick rüber.

«Am Nachmittag dann wieder, unten am Rossboden. Die Zeltstadt muss doch noch fertig aufgebaut werden», brummte Fritz und starrte auf die Tischplatte, als zähle er Ameisen.

«Bis das Fest vorbei ist und alles abgebaut ist, gibt’s jedenfalls genug Sackrappa zu verdienen», fügte Köbi an und blickte Caminada ins Gesicht. «Und ihr zwei? D’Schrooterei um diese Zeit hier hinten im Täli? Das verheisst nichts Gutes. Wer hat was ausgefressen?»

Rosetta, deren Hände, Arme und Gesicht von Altersflecken übersät waren, kam an Caminadas und Maruggs Tisch und unterbrach mit ihrem stark italienischen Akzent das Gespräch, um die Bestellung aufzunehmen.

«Grazie, Signori.» Mit diesen Worten verschwand sie, um die zwei Kaffee zu brühen.

«Ja, Köbi, das wollten wir eigentlich euch fragen», entgegnete Caminada und knüpfte an dessen Frage von zuvor an.

«Ich weiss von gar nichts», erwiderte dieser. «Gell, Fritz?»

Fritz nickte, noch immer nach vorne in sich gebeugt, strich dabei durch seinen braunroten Bart, bevor er an der Zigarette zog, die er zwischen nikotingelben Fingern hielt.

«Wann wart ihr beiden denn zuletzt in der Roten Laterne? Vielleicht wisst ihr das wenigstens?»

«Aha, von dort hinten furzt die Geiss», folgerte Köbi und fügte an: «Gestern Abend. Wir hatten den Wochenlohn erhalten, und ein paar Rappen drängte es dringend aus dem Geldseckel an die frische Luft.» Er lachte.

«Und die Gisela, habt ihr sie beim Schaffen gesehen?»

«Ja, die Möckli, die servierte gestern. A flotti Poppa.» Er formte dabei mit den Händen Brüste und grinste.

«Die haben wir letzte Nacht an der Roten Laterne erhängt aufgefunden – sie ist ermordet worden.»

«Verreckta Khaib! Ist das wahr? Die Gisela?» Köbis Lächeln gefror augenblicklich.

«Ja, die Gisela – will euch ja nicht für blöd verkaufen.» Caminada glaubte, ehrliche Bestürzung oder zumindest Verwunderung bei Köbi zu erkennen, und nickte. «Und? Etwas im Zusammenhang mit ihr gehört? Hatte sie am Abend Krach mit einem der Gäste, oder geschah sonst was Augenfälliges? War einer aufdringlich geworden? Möglicherweise auch in den letzten Wochen?», hakte er nach.

«Gär nüt. Ausser dass gestern Abend der erste Auftritt dieser Looooola war», betonte Köbi deren Namen, als mache er sich über sie lustig und hätte bereits den Schrecken von zuvor vergessen.

«Das sollte auch ein Landjäger erleben», meldete sich überraschend Fritz zu Wort und kicherte verschmitzt in seinen verfilzten Bart. «Fascht füttlablutt isch sie gewesen. Aber äba nur fast.»

«Das kannst du nicht abstreiten, die war ganz nackt gewesen …» Köbi stimmte ins heisere Lachen ein. Die beiden schienen sich gut zu amüsieren.

«Am Füttla isch finschter, aber nit immer windstill», hielt Fritz entgegen und furzte laut, indem er eine Füttlaback dabei hob. «Ohaläz, Gesundheit kommt vor dem Anstand.» Er grinste stumpfsinnig. «Auf jeden Fall war sie ein junges Fräulein, eines, wie es noch niemand in Graubünden gesehen hatte.» Er stierte weiter, diesmal dabei grölend, auf die Tischplatte vor sich.

Caminada konnte sich schon denken, was gestern dahinten los gewesen sein musste, aber tat nicht dergleichen. Hatten die beiden denn kein Mitgefühl für die tote Serviertochter, sodass sie wenige Sekunden nach Erfahren von deren Schicksal sich benahmen, als hätten sie nur eine tote Maus im Keller gesehen?

«Das heisst, der Schpunta war voll gewesen?»

«Voll?» Köbi hob erstaunt die Augenbrauen. «Da hätte nicht mal eine verhungerte Sackratte Platz gefunden.» Er lachte und gab Fritz einen Puff in die Seite.

«Und was war mit der anderen Serviertochter, dem Käthy?»

«Z’Käthy Gruber?» Köbi strich sich erneut seinen Bart zurecht. «Die stand auch im Service. Und bevor du fragst, mir ist rein gar nichts aufgefallen. Ausserdem, der Gruberin würde niemals jemand krumm kommen, ausser er hätte einen Vollrausch, aber dann wäre es sowieso sein letzter gewesen.»

«Und ich nehme an, ihr könnt euch sonst an keinen der anderen Gäste erinnern?» Caminada kannte die Antwort bereits.

«Sternhagelvoll sind wir gewesen, Zahltag ist Sauftag. A huara Schwinta im Grind haben wir deshalb gehabt. Wir haben nicht mal eine Ahnung, wie wir beide überhaupt nach Hause gekommen sind», behauptete Köbi lautstark, und Fritz nickte dazu.

Caminada glaubte ihnen kein Wort. «Aha. Und wann seid ihr gegangen? Bestimmt auch keinen Schimmer einer blassen Ahnung von einer Idee?», spottete er offensichtlich.

«Landjäger Caminada, du bist wahrlich ein weiser Mann.» Köbi nickte übertrieben.

«Überspann den Bogen nicht, denn um das zu wissen, braucht man kein Wahrsager zu sein.» Caminadas sympathisch klingende Stimme blieb fest. «Es ist ein junges Fräulein letzte Nacht auf traurige Art und Weise und wie auch immer ermordet worden. Da erwarte ich ein wenig Respekt gegenüber der Toten!» Caminadas ruhiger Blick blieb an Köbi hängen, Fritz stierte noch immer, seinen Bart streichend, auf den Tisch, als ginge ihn alles nichts an.

Als von keinem der beiden eine Antwort kam, sagte er: «Ich bin sicher, Ernesto Poltera, der von der Stadt für den Aufbau Delegierte, wird seine Vorarbeiter heute informieren, dass es euch zwei rund ums Eidgenössische nicht mehr braucht. Auch nicht für den langwierigen Rückbau. Dann habt ihr beide die nächsten Wochen Zeit zum Nachdenken und sauft Wasser anstelle eines Einerli Roten zum Zmorga.» Caminada stand auf und zog seinen Geldseckel aus dem hintern Hosensack, sodass Rosetta an den Tisch kam.

«Ich zahle beide Kaffee.» Caminada legte einen Zweifränkler hin. «Isch guat so. Danke für den Kaffee.»

Köbi stand auf. «Walter, verträgst du heute kein Spässchen?»

«Nicht auf Kosten eines ermordeten Fräuleins.»

«Rosetta, lass die Rappen vom Caminada liegen, ich zahle für die beiden. Walter, komm hock wieder ab und nimm deinen Zweifränkler in den Hosensack», versuchte Köbi weiter zu schlichten.

Sie setzten sich diesmal alle an den Tisch, an dem Fritz noch immer auf die Tischplatte stierte, als lese er konzentriert die Neue Bündner Zeitung.

«Also, Walter, so was hat Chur noch nie gesehen. Was wäre es auch für ein Jammer gewesen, hätte ich mich so zugesoffen, dass ich nichts mehr davon wüsste.» Die Augen von Köbi glänzten, als ginge es beim Gespräch nicht mehr um die erhängte Gisela Möckli. «Es ging gestern Abend erst um halb zehn hinten los, als es finster war. Unter der roten Laterne stand im stürmischen Wind die Gisela, vor ihr eine Schlange Gäste, denn jeder, der in die Rote Laterne wollte, hatte, und jetzt halt dich fest, eine Zwanzigernote Eintritt zu bezahlen. Im blauen Blätz war immerhin ein Becher Bier enthalten.»

«Zwääänzig Stutz?» Caminada glaubte sich verhört zu haben. «Ja ist denn diese Tänzerin aus Gold, wie mir scheint?»

«Und eine Maske hatte jeder anzuziehen», fügte Köbi an.

«Wieso denn so was Kurioses?» Caminada blickte verwundert zu Marugg, der neugierig zuhörte, aber ratlos mit den Schultern zuckte.

«Verzelle ich gleich. Hat mit der Lola zu tun, die ja seit zwei Monaten gross angekündigt wurde. Das ist eine, ach, wie sagt man schon wieder …» Er stiess den noch immer auf den Tisch starrenden Fritz in die Seite. «Fritz? Weisst du den Namen noch?»

Dieser schüttelte nur seinen Grind wie ein Pferd, als von der Bar Rosettas Stimme ertönte: «Burlesktänzerin.»

«Genau, Landjäger Caminada – so eine ist die.»

«Und was tut so eine?» Natürlich hatte auch Caminada die Gerüchte gehört, und letzte Woche war ein Plakatträger durch Chur gelaufen, der ein gar frivoles Bild von Lola herumgetragen hatte, sodass Frau Luicetti, die das Lebensmittellädeli in der Unteren Gasse führte, entrüstet das Stadtpolizeiamt aufgesucht hatte und sogar beim katholischen Pfarrer Jehli in der Erlöserkirche vorstellig geworden war. Aber über die genauen Hintergründe hatte sich Caminada deswegen keine weiteren Gedanken gemacht.

«Also, diese Lola trug gestern Abend ebenfalls so eine Maske», fuhr Köbi weiter.

«Wie an der Fasnacht?» Caminada konnte sich kein rechtes Bild davon machen.

«Nein, wo denkst du hin? Nur so eine dünne noble bis zur Schnorra aba. In Venedig, hat man uns gesagt, trägt man solche während des Karnevals, und das auch nur die Mehrbesseren.» Er kratzte sich seitlich über der Stirn im struppigen Haar und nahm einen Schluck vom Einerli. «Was wollte ich eigentlich sagen … ach ja, eben auch diese Lola hatte so eine getragen, während sie getanzt hat – eine goldene, als wäre sie eine Ägypterin.» Seine Augen glänzten beim Gedanken daran.

«Und dann, lasst mich raten – die hat euch am Schluss ihre Tüti nur ganz kurz gezeigt, und ihr habt danach in euren leeren Geldseckel gestarrt, und aus war die Maus?» Caminada konnte es nicht fassen, dass Frauenbrüste bei gewissen Männern auch das letzte bisschen Hirn in Geld auflösen konnten.

Köbi lachte laut auf und schlug die flache Hand auf die Tischplatte, als hätte Caminada einen Gassenhauer-Witz gemacht, sodass Fritz stirnrunzelnd seitlich aufschaute, als wäre er geweckt worden. Caminada zündete sich eine Villiger an, blies den Rauch in die Tischmitte und wartete, bis sich der Köbi beruhigt hatte.

«Nein, nein, Walter, dann hätte ich ja gleich nach Feldkirch in d’Fuzzastuba fahren können, was erst noch günstiger gewesen wäre. Ehrlich gesagt, als die ersten Fotos von der Lola hier die Runde machten, ging ich nur wegen der dahin und habe einen Tageslohn bezahlt, in der Hoffnung, die füttlablutt zu sehen.» Seine ungepflegten Zähne blickten hervor. «Aber diese Lola, ach, ich kann’s nicht recht beschreiben, die macht einen im Oberstübli ja ganz durcheinander und tatsächlich den Geldseckel leer, wenn die zur Musik tanzt und so tut, als mache sie alles nur für einen allein.»

Er lachte wieder und sah Fritz an, der zufrieden brummte: «Es hat sich aber gelohnt, auch wenn wir ihre schönen Tüti nicht mal ganz gesehen haben.»

«Stimmt, Fritz, aber es war viel verreckter als alles, was ich je gesehen habe, und ich bin ja ein alter Saubock, wie du weisst.» Heiser kicherte Köbi, dann musste er husten, was er mit einem Schluck Roten besänftigte.

«Verstanden, aber habt ihr Hinweise oder Namen von Gästen, die uns weiterhelfen können? Vergesst nicht – wir ermitteln wegen Mord!»

«Im Ernst, Walter. Das Licht war wegen deren Auftritt noch schummriger als sonst, nur die Bühne lag im Licht, und dann trugen wir alle diese Masken am Pölli», er machte eine entschuldigende Handgeste, «es gab Besseres zu sehen, als die anderen anzugaffen.»

Weder Caminada noch Marugg sagten etwas dazu, sodass Köbi insistierte: «Ihr glaubt mir etwa nicht?»

Wieder gaben die beiden Gesetzeshüter keine Antwort und liessen ihn so im Unklaren darüber, was sie dachten.

«Landjäger Caminada, es ist präzis so gewesen, und um Punkt ein Uhr leerte sich dann die Rote Laterne so schnell, als brenne die Hütte.»

«Wieso denn das? Hat Hermine einen Grund erwähnt? Die überzieht ja öfter weiss der Herrgott wie lange. Wieso diesmal nur knapp eine Stunde?» Caminada blies den Rauch in die Tischmitte.

«Sie hatte bereits zu Beginn gesagt, dass dies ein spezieller Abend werde – einer von einigen, die noch folgen würden, aber dass um ein Uhr Schluss sei, wie bei allen zukünftigen Vorstellungen der Lola. Deshalb haben sie an dem Abend alle Getränke auch immer sofort einkassiert, als wären wir allesamt Zechpreller. Also tschalpten wir halt überpünktlich in dem verreckten Wind kurz vor ein Uhr im Stockdunkeln das Täli churwärts. Die, welche mit einem Automobil gekommen waren, haben andere mitgenommen. Eine kleine Karawane war unterwegs gewesen. Ehrahailigs Wort, mehr kann ich wirklich nicht dazu verzapfen.»

«Und was für Nasen habt ihr gesehen, die ihr kennt, oder sind euch Fremde aufgefallen?» Caminada hakte weiter nach und deutete Köbi an, dass dieser dem Fritz einen Puff in die Seite versetzen sollte, denn er wollte von beiden gehört werden. Doch wieder gab nur Köbi Antwort: «Ach, das übliche Volk vor dem Eingang. Den einen oder anderen habe ich draussen in der Schlange erkannt, aber auch unbekannte Grinder gesehen – und das in gar noblen Tschööpa. Drinnen ist mir noch die eine oder andere bekannte Stimme aus dem Trubel zu Ohren gekommen, wenn sie gar a Dümmi taten, während Lola uns mit ihren Bewegungen den Kopf verdrehte.»

«Fritz!» Caminadas nun donnernde Stimme liess dessen Grind dennoch nur bedächtig heben.

«Läschtiga Khaib bisch, Walter. Ein schneeweisses Automobil, so ein grosses, neues mit Zürcher Nummer, stand neben dem Eingang unter der Blutbuche», kam träge die von Caminada geforderte Antwort.

Der Landjäger wusste, wieso ausgerechnet Fritz sich an den Wagen so gut erinnern konnte. Der war ein Schniffbuckel, wie er im Buche stand, und stahl, was nicht angewachsen war. In letzter Zeit hatten sich zudem auch in Chur die Diebstähle aus den schlecht verschlossenen Automobilen gehäuft, und in einem Fall, so wusste er es vom Clavadetscher, einem Wachtmeister des Stadtpolizeiamtes, deuteten die Indizien auf den Fritz.

Vor der «Falla» drückte Caminada seinen Hut fest auf den Kopf, denn noch immer windete es, wenn auch deutlich schwächer als vergangene Nacht. Die Sonne beschien in diesem Moment die grobsteinkörnige Fassade des «Plessurfalls», während das Loch hinten weiterhin im tiefdunklen Schatten lag.

«Walter, von dem allem hat uns die Rote-Laterne-Wirtin natürlich kein Wort verzapft, aber es ging gestern Abend ja auch drunter und drüber.» Marugg, der im Gegensatz zu Caminada keine schwarzen, sondern ausnahmslos beigefarbene Hüte trug, blickte ihn an.

Caminada schob seine erloschene Krumme in den anderen Mundwinkel, bevor er antwortete: «Rechtens ist dahinten so einiges nicht, noch nie gewesen. Doch der aktuelle Fall hat das Fass mit Sicherheit zum Überlaufen gebracht, da drückt niemand mehr nicht mal ein Hühnerauge zu. Die Wirtin hoffte mit Garantie wie alle Hotel- und Beizenbesitzer auf das grosse Geld, wenn es am Donnerstag dann endlich mit dem Schützenfest losgeht. Immerhin, in den drei Wochen werden Zehntausende aus der ganzen Schweiz und sogar aus dem Ausland anreisen und davon die Entsprechenden auch den Weg ins Täli finden. So eine Aufführung spricht sich auch unter den Schützen geschwind herum.»

«Mit Sicherheit. Muss schon was Besonderes sein, wenn man dem Köbi Glauben schenken will, der als Plagöri bekannt ist. Und ausserdem lässt es sich so weit weg von der jeweiligen Heimatgemeinde ungeniert in so eine Vorstellung hocken», pflichtete Marugg bei.

«So oder so, wir müssen den gestrigen Abend genauer unter die Lupe nehmen. Ausserdem will ich als Erstes wissen, was diese andere Serviertochter, diese Käthy Gruber, über den Abend zu erzählen weiss. Aber dabei müssen wir auf der Hut sein – sie ist eine Gruberin!»

Helvetia 1949

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