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Der Mond hing bleich wie die Sichel des knöchernen Sensenmannes zwischen den schwarzen Silhouetten von Pizokel und Mittenberg, während der stürmische Nachtwind über ihre Flanken ins Tal brauste, sodass der Bergwald ächzte und hin und wieder das Knacken eines morschen Astes zu hören war.

Landjäger Caminada trampte mit ausgeschaltetem Hilfsmotor, über seinen Velotöfflilenker gebeugt, ins Täli, dem südöstlichen Churer Quartier, dessen schmucklose Häuser sich nach dem Totengut nur noch linksseitig in die Schlucht reihten, als wären sie das löchrige Gebiss des felsigen Schlunds.

Als er am Totengutbrückli vorüberfuhr, schlug hinter seinem Rücken die St. Martinskirche drei Mal. Die tiefen Klänge hallten leise aus der Altstadt gegen den Wind ins Täli.

Die wenigen Gebäude, die an dieser Stelle wie mit einem Hammer in den zunehmend stotzigeren Hang getrieben ihren Platz gefunden hatten, lagen im Dunkeln. Einzig im Krankenasyl Sand, das am Schluchteingang und nur drei Steinwürfe oberhalb der Strasse stand, hatte Caminada noch Licht entdeckt. Der von der Strassenlaterne geworfene gelbe Schein vermochte dem Eindruck von Düsternis nicht zu wehren. In ihrem Lichtkegel tanzten die Schatten der Zweige und Büsche wie Krähen im Sturmwind. Die schlecht gekieste, nur fuhrwerksbreite Strasse lag nach dem Totengutbrückli ebenso im Stockdunkeln wie das Geleise der Arosabahn, das parallel der Plessur folgend zuhinterst im Loch des Bergs verschwand.

Je tiefer der Landjäger ins Täli fuhr, desto steiler drückten die schwarzen Wände, und kühler Hauch blies ihm entgegen. Der Nachthimmel über ihm hob sich vom Mondlicht getüncht matt ab, bevor wieder Wolkenfetzen vor der mageren Sichel vorbeijagten und die Dunkelheit wie ein schweres Tuch über die Schlucht zogen und fallen liessen.

Verwesungsgeruch stieg Caminada trotz des Sturmes in die Nase, als er die heruntergekommene Gerberei passierte, die der Alkoholiker Schwinta-Hitsch betrieb. In der Nacht nur schemenhaft zu erkennen: An deren Zaun angrenzend befanden sich die alte Sägerei und der kleine Schrottplatz der Gruber-Sippe, welche sich ebenfalls in den schmalen Flecken Land zwängten, den die Schlucht hier freigab.

Als er sein Velotöffli mit einem Schwenk an den Rand der rechten Strassenseite dirigierte, schoss in diesem Moment knurrend der Rottweiler der Grubers aus der Dunkelheit auf ihn zu. Das Rasseln der schweren Kette war kaum zu hören, bevor diese den Hund ruckartig vor dem Strassenrand zurückriss. Es war nicht Caminadas erste Begegnung mit dem Tier gewesen, das gewiss jedem Fremden einen Höllenschrecken einjagen konnte, und das auch bei Tag.

Ein kräftiger Windstoss wirbelte Staub ins Gesicht des Landjägers, als er direkt nach den Gebäuden die alte Holzbrücke über der Plessur überquerte, nur wenige Meter bevor das Geleise vom dunklen Berg verschluckt wurde.

Auf der rechten Schluchtseite folgte er der kurvigen Strasse wenige hundert Meter bergwärts. In der Dunkelheit türmten sich die Stützmauern aus schweren Natursteinen, die die stotzigen Flanken in Schach hielten, links schützte ein Eisengeländer vor einem Sturz ins Tobel, bis sich wundersam der Meiersboden zwischen den Bergriesen auftat.

Umsäumt von hohen Laubbäumen, die wellenartig aufrauschend den Wind einfingen, lag am Rande der grossen Waldlichtung die berüchtigte Rote Laterne. Eine Böe liess ein Gatter klappern, während Caminada sein Gefährt auf den schwarzen Gebäudeumriss der Spelunke zuschob, vor dessen dunkler Eingangsfront die Laterne rot leuchtete. Der gespenstisch dunkle Umriss in deren schauerlichem Schein war der Grund, warum er mitten in der Nacht in die Pedale getreten war.

Als er sich auf wenige Schritte genähert hatte, schlugen im Zwinger hinter dem Gasthaus die Hunde bedrohlich ihr tiefes Gebell an. Keine Minute später schwenkte die hölzerne Eingangstüre auf, sodass gelblicher Schein auf die dreistufige Treppe darunter fiel. Ungeachtet dessen trat Caminada näher an den roten Lichtkegel – in diesem hing, vom Wind sanft pendelnd, die junge Serviertochter Gisela Möckli!

«Landjäger Caminada?» Hermine Montalta, die stämmige, raubeinige Wirtin, hob eine Petroleumlaterne in die Höhe und kam die Stufen am Eingang herab und über den gekiesten Weg auf ihn zu. In ihrer Linken hielt sie fest umschlossen eine doppelläufige Flinte. Sie schien aufgeregt zu sein. Hinter ihr trat ebenfalls mit einem Gewehr in der Hand Schwinta-Hitsch aus der Türe.

«Truurigi Sach.» Caminada liess den Blick nicht von der Toten ab, die nun im Licht der Petroleumlampe besser zu erkennen war: Sie war mittelgross und zierlich, trug einen schwarzen Jupe, der nur bis über ihre schmalen Knie reichte, dazu eine weisse, schlichte Bluse, die typisch war für Serviertöchter. Einer ihrer Schuhe lag seitlich umgekippt am Boden, ihr Gesicht war nach vorne eingeknickt, ihr wehendes hellbraunes Haar verdeckte es. Ein aufgeschnittener Jutesack hing seitlich über ihrer linken Schulter. Und noch was nahm Caminadas Aufmerksamkeit in Beschlag – die Tote hing nicht etwa an einem Seil, erst sah es aus wie ein langer Schal, doch beim näheren Betrachten erkannte er die goldbestickten Glaubenssymbole auf einer violetten Stola, die zweifellos einem kirchlichen Würdenträger gehören musste.

«Frau Montalta, stimmt es, haben Sie das Fräulein gefunden? Und wann?» Caminada drehte sich ihr zu und behielt seine Schlussfolgerung für sich.

«Stimmt, vor gut einer Stunde», antwortete diese aufgeregt mit ihrer tiefen und kräftigen Stimme, die auch zu einem Mann gepasst hätte. Sie stellte ihr Gewehr an den Baumstamm hinter ihr.

«Also gegen zwei Uhr?» Caminada griff sich nachdenklich ans Kinn. «Wie lange habt ihr denn diesmal die Polizeistunde überschritten?» Er wusste wie jeder in Chur und den Dörfern ringsum – in der Roten Laterne wurde die Polizeistunde nie eingehalten, und genau das zog Gäste ins Loch.

«Wir hatten heute nur bis um eins offen, und kurz vor zwei Uhr fand ich sie.» Sie zitterte, als fröre sie.

«Und wieso haben Sie die Erhängte so spät gefunden? Da geht doch keiner mehr spazieren.»

«Die Hühner waren schuld, sonst wüsste ich es noch immer nicht.» Sie strich sich mit der Rechten über ihren Mund.

«Die Hühner? Des Sturmes wegen?»

In dem Moment riss eine weitere Böe an ihnen. Der Schatten der sich drehenden Erhängten pendelte über den Boden.

«Nein, ich wurde im Restaurant vom lauten Gegacker hochgeschreckt, hatte gerade die Kassaabrechnung fertig gemacht und wollte ins Näscht. Packte natürlich sofort meine Flinte, die Lampe und stürmte über den Hintereingang raus. Das Gatter zum Gehege stand offen, der Fuchs hatte sich soeben ein Huhn geholt. Ich schoss dem Sauhund noch hinterher, muss im Hellen dann schauen, ob ich den wenigstens angeschossen habe.»

«Und dann haben Sie die Gisela gefunden?»

«Nicht sofort. Ich hatte einen Riesenzorn im Ranzen, da die mit Sicherheit nach dem Füttern das Gatter schon wieder offen gelassen hatte. Vor Tagen hatte ich es schon mal bemerkt und sie ermahnt. Deshalb lief ich durch den Hintereingang zurück ins Haus, wollte sie in ihrer Kammer aufscheuchen, um ihr diesmal die Leviten mehr als nur khörig zu lesen.»

«Und da nehme ich an, ihr Bett war leer.»

«Ja, Landjäger Caminada.» Verzweiflung stand in ihren Augen. «Ich war mir beim Hochlaufen sicher, dass sie des Schusses wegen entweder im Bett stand oder spätestens danach nach draussen gelaufen sein musste. Ich ging deshalb aus dem Vordereingang, um sie zu suchen – da sah ich sie hier an der roten Laterne hängen.»

«Wann haben Sie sie denn zuletzt lebend gesehen?»

«Das ist ja das Verrückte, höchstens etwas mehr als eine halbe Stunde davor.»

«Wie das?» Caminada sah im gelbrötlichen Schein, dass die Wirtin mit ihren Gefühlen kämpfte.

«Wir hatten heute volles Haus. Punkt ein Uhr war wie gesagt Polizeistunde, und Gisela und ich räumten bis kurz vor halb zwei nur das Gröbste auf, dann schickte ich sie ins Näscht, während ich noch die Abrechnung machte.»

Caminada nickte. «Und als Sie sie gefunden hatten, da gingen Sie sofort los, um das Ländjägerkorps zu alarmieren?»

«Hier hinten gibt’s doch weiterhin kein Telefon. Die Herren Stadträte haben ja jeden Rappen für das Eidgenössische Schützenfest ausgegeben, damit die Stadt nächsten Donnerstag ja gar fein säuberlich und festlich geschmückt zur Eröffnung dasteht. Das Täli hat man wie immer vergessen, als wären die in der Stadt vorne was Mehrbesseres als unsereiner. Die haben doch die Strasse nicht aus Versehen nur bis zum Totengut geteert. Der Name Sandstrasse kommt ja nicht von ungefähr …»

«Abgesehen davon, dass das Stadtgebiet unten im Sassal beim Brückli endet und wir hier im Meiersboden auf Churwaldner Gebiet stehen, weiss ich schon, was Sie meinen. Aber glauben Sie mir eins: Stände die Rote Laterne auf Stadtgebiet, hätte das Stadtpolizeiamt schon längst andere Sitten aufgezogen. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Also, was haben Sie nach dem Auffinden der Toten gemacht? Und wie konnten Sie überhaupt sicher sein, dass sie bereits tot war?»

Das Aufbegehren der Tälibewohner war auch Caminada seit Jahren bekannt, und deren Anliegen waren auch nicht von der Hand zu weisen. Einige Stimmen sprachen daher sogar von Unterdrückung, weil neben den italienischen Emigranten nur sozial schwache Aussenseiter, Künstler, Trödler und Vaganten im Schattenloch hausten, wo billiger Wohnraum vorhanden war. Allen voran setzte unverhohlen Stadtpräsident Cadlini auf Widerstand, und so wurde kaum ein Franken ins Täli investiert.

«Landjäger Caminada, es war so», Hermine nahm einen tiefen Atemzug, «als ich sie hängen sah, an den Kleidern erkannte ich sie, hatte sie ja noch diesen Jutesack über den Kopf gestülpt, der mit der Schlinge um den Hals fest zugeschnürt war. Ich schnitt den Sack auseinander und sah ihr Gesicht …» Sie blickte erst zu Boden, dann der Toten ins Gesicht. «Sie sah genau wie jetzt auch da schon zum Grausen aus …»

Schwinta-Hitsch trat einen Schritt näher von hinten an sie heran und legte ihr seine Hand tröstend auf die kräftige Schulter.

Die Wirtin fing sich rasch. «Die war mausetot. Trotzdem fasste ich ihr an die schmale Brust – kein Herzschlag, kein Atmen.» Sie starrte wieder zu Boden. Caminada wusste, das war eine der Gesten, die Menschen nutzten, wenn sie sich kurz sammeln mussten. «Also hockte ich mich auf mein Velo und fuhr zum Tälieingang, ins Krankenasyl Sand, denn erst dort gibt’s das nächstbeste Telefon. Ich bat die Nachtwache, das Landjägerkorps zu alarmieren, dann fuhr ich im stürmischen Wind zurück und hielt bei ihm.» Sie deutete auf Schwinta-Hitsch. «Traute mich doch nicht mehr alleine hierher. Also klopfte ich ihn wach, wir sind ja seit einigen Monaten ein Paar, und bat ihn mitzukommen, auch wenn ich wusste, dass er seit zwei Tagen mit einer Magen-Darm-Grippe im Näscht lag.»

«Sie war völlig aufgelöst, als sie bei mir klopfte. Ich brauchte leider einen Moment, dann hockte ich mich auf meinen Göppel und begleitete sie her. Das ist ja das Mindeste, was ich in so einem Fall tun kann.» Schwinta-Hitsch nickte Hermine zur Aufmunterung zu.

«Einen Verdacht, was passiert sein könnte?» Caminadas Blick fiel wieder auf die Hängende, die wegen einer Windböe sich nun gespenstisch langsam drehte.

«Wollen wir in dem huara Luft nicht reingehen, um weiterzureden?» Hermine zeigte mit der Petroleumlampe Richtung Türe und zog ihre Strickjacke enger um ihren fülligen Körper, als die nächste Böe noch heftiger an ihnen riss und ein kleines Wellblech gefährlich über den Vorplatz wirbelte, bevor es an den Geissenstall knallte, sodass die Tiere darin unruhig trampelten und ihre kleinen Glocken dabei schellten.

«Wenn man mich hier nicht mehr braucht, würde ich mich gerne wieder hinlegen. Mit so einer Grippe ist man nur ein halber Mann.» So gab Schwinta-Hitsch zu verstehen, dass auch er dafür war, ins Gasthaus zurückzugehen.

Caminada nickte.

«Leg dich oben in mein Zimmer, wäre froh, wenn ich diese Nacht nicht alleine hier hinten hocken muss.» Mit diesen Worten zog Hermine die Eingangstüre auf, und Schwinta-Hitsch schlurfte etwas kraftlos das Stiegenhaus hoch, während sie auf die Holztüre zusteuerte, auf der auf einem Messingschild in schwarzen Buchstaben «RESTAURANT» geschrieben stand.

In der Beiz war säuberlich aufgestuhlt worden, die wenigen Lampen spendeten schummriges Licht. Die kleine Holzbühne war durch einen roten Samtvorhang nur halbwegs verdeckt, vor den Fenstern waren die dicken Nachtvorhänge zugezogen. Es roch dumpf nach Rauch, Holz und verschüttetem Alkohol – der Boden war noch nicht gewischt, wie Caminada feststellte.

Hermine nahm einen Barhocker vom Buffet und schob Caminada einen Aschenbecher zu. «Kaffee?»

«Danke, den könnte ich jetzt tatsächlich vertragen.» Caminada strich durch sein dunkles, fülliges Haar, das nur an den Schläfen leicht grau meliert war und das der Sturm zerzaust hatte. Seinen Hut, ohne den er sonst keinen Schritt aus dem Haus machte, hatte er wohlweislich daheim gelassen.

Hermine hantierte mit dem Kolben der sperrigen Kaffeemaschine und brühte zwei Tassen, als das Licht flackerte. Caminadas dunkle Augen blieben einen Moment verwundert auf dem teuren Kaffeehalbautomaten hängen. Nur im ehrenwertesten und teuersten Hotel Steinbock am Bahnhof hatte er bisher einen solchen gesehen. Anders als die Jukebox mit ihren farbigen Lichtelementen, die an der Wand stand, wo es zu den Toiletten ging. Solche gab es mittlerweile in jeder zweiten Beiz.

«Frau Montalta», begann er, nachdem er einen Gutsch Milch und einen Teelöffel voll Zucker in den Kaffee eingerührt und einen Blick auf den Berg ungewaschenen Geschirrs geworfen hatte, das sich im und um den Schüttstein türmte. «Haben Sie eine Ahnung, wer aus welchem Grund so ein Verbrechen an einem so jungen Fräulein begeht?»

Hermine, die Wirtin mit etwas Oberlippenbehaarung und gekrauster Kurzhaarfrisur, klopfte mehrmals mit der Rechten auf die Bar, goss sich dann einen Schluck Schnaps in den Kaffee und sagte: «Die Kleine hat Probleme gehabt. Etwas hat sie gewurmt.»

«Gewurmt? Deswegen hängt sie doch niemand auf.» Caminada trank leise schlürfend vom heissen Kaffee. Fragend sah er über den Tassenrand hinweg dabei die Wirtin an, die er von anderen Einsätzen her bereits kannte. Grund dafür waren fast immer Männer, die sich erst mit dem Alkohol, dann mit der Wirtin oder anderen Gästen angelegt hatten.

«Das ist das falsche Wort. Seit zwei Wochen war sie unzuverlässig wie sonst was, und das kann ich weiss Gott hier nicht gebrauchen.»

«Das heisst, irgendwas hat das Fräulein Möckli beschäftigt. Und wissen Sie, was der Grund dafür sein könnte?»

«Nein, vergesslich war sie und unruhig, mehr weiss ich nicht. Eben wie das Gatter nach der Fütterung der Hühner nicht richtig zu verschliessen. Weiss der Teufel, was in deren Oberstübli alles los war.» Zur Unterstreichung ihrer Worte tippte sie mit dem Zeigfinger an ihren Kopf.

«Wie lange serviert sie schon hier? In dieser Knelle hier hinten ist es bestimmt für ein so junges Fräulein nicht immer einfach.»

«Wo ist es heutzutage denn schon einfach? Also hier drinnen braucht es gwehrigi Serviertöchtera, die nicht bei jedem Füttla- oder Tütigrapscher in Ohnmacht fallen. Aber zur Not bin ich ja auch hier. Hab denk schon darauf geachtet, dass niemand von meinem Personal zu Schaden kommt, wenn’s mal wieder drunter und drüber gegangen ist. Zur Not half mir der Sepp …»

Auf Caminadas fragendes Gesicht hin holte sie mit einem Schmunzeln einen zünftigen Holzknüppel unter der Bar hervor. Bei dessen Anblick in Hermines kräftiger Hand bezweifelte er nicht die Wirksamkeit, während sie weiterredete. «Aber dass so was Schlimmes, und das auch noch im Schein der roten Laterne, passieren würde, während ich nur einen Steinwurf daneben die Abrechnung mache – mich gruselt’s …»

«Apropos Serviertöchtera – standet nur ihr zwei in der Beiz? Bei vollem Haus, und das an einem Freitagabend, an dem die meisten ihren Wochenlohn bekommen, reicht dies doch bestimmt nicht.»

«Z’Käthy Gruber servierte auch.»

«Und wo ist diese jetzt?»

«Bestimmt daheim. Die wohnt ja mit ihren drei Brüdern unten im Sassal, direkt vor dem Brückli. Dort, wo der Rottweiler immer so tobt.»

«Jaja, wer kennt den Hund nicht. Ich habe soeben wieder Bekanntschaft mit ihm gemacht. Und wann ist sie gegangen?»

«Sie ist kurz vor halb zwei Uhr mit dem Velo losgefahren. Ich musste ihr noch nachrennen, sie hatte ihre Handtasche vergessen.»

«Alleine? Hinunter durch die stockfinstere Schlucht?»

«Ach, das macht der nichts aus. Ist doch eine Gruberin. Das tut sie übrigens jede Nacht, wenn sie schafft. Manchmal gar zu Fuss, wenn sie wieder mal einen Platten hat und ihre Brüder zu faul sind, ihr den zu flicken.»

In dem Moment schlugen die Hunde hinter dem Haus an. Fragend blickte Hermine Caminada an.

«Das wird die Verstärkung sein», stellte der Zweiundvierzigjährige klar. Die Wirtin nahm darauf die Laterne und ging vor die Türe.

Wenige Minuten später trat sie mit zwei uniformierten Landjägerkorps-Beamten und Peter Marugg ein.

«Guata Obig, Walter. Stürmisch heut Nacht.» Marugg, erst dreissigjährig, begrüsste Caminada freundschaftlich, der noch immer an der Bar vor seinem Kaffee sass.

«Hast du den Weg also auch gefunden?» Caminada winkte dabei die beiden uniformierten Polizeimänner zu sich, die bei der Eingangstüre stehen geblieben waren.

«Und?» Die Frage des Rothaarigen mit der runden Nickelbrille im bubenhaft wirkenden Gesicht galt dem Landjäger, während er sich neben diesen stellte, bevor er Hermine zunickte, die daraufhin auch für die Neuankömmlinge Kaffee brühte.

«Ihr habt ja das Fräulein im roten Schein der Laterne hängen sehen. Die beiden Fragen, die sich mir im Moment stellen, sind: Wer hat es getan und wieso? Und dazu brauche ich so einen wackeren Erkennungsfunktionär, wie du einer bist.» Caminada zündete sich eine Villiger-Krumme an. «Weisst du, Peter, ich frage mich, was die um diese Zeit und bei diesem Sturm aus dem Haus gelockt hat.» Er schnippte den Deckel seines Petroleumfeuerzeugs zu und erzählte, was er bisher von Hermine Montalta erfahren hatte.

Marugg reichte derweilen die ersten beiden Tassen den Uniformierten weiter, bevor er seine nach einem ersten Schluck vor sich hinstellte und der Wirtin höflich dankte.

«Also», begann Caminada, nachdem er Hermine gebeten hatte, sie alleine zu lassen, «ich habe alles so gelassen, wie’s war. Einzig die Wirtin hat den Jutesack über dem Kopf des Opfers aufgeschnitten, als sie die Erhängte vorfand. Die Stola wurde, was ich gesehen habe, am Eisenarm, an dem die rote Funzel hängt, befestigt. Der Täter muss seitlich an der kleinen Laterne hochgestiegen sein, Halt fand er dabei an den verschnörkelten Verzierungen. Ich schätze, die Pfunzel ist drei Meter hoch.»

Caminada hielt grosse Stücke auf den jungen Marugg, der erst im letzten Jahr mehrere Monate in Bern bei der Bundespolizei zugebracht hatte, um seine Ausbildung als Erkennungsfunktionär abzuschliessen. Nun stand er als Einziger im gesamten Korps in Graubünden als solcher im Einsatz und dazu als Jüngster im Bunde. Einen besser zu ihm passenden Dienstkameraden hätte Caminada weder finden noch sich wünschen können. Wie vor zwei Jahren versprochen hielt Marugg Wort und ihm den ganzen Schreibkram vom Hals und hatte ihn nie blossgestellt, nur weil Caminada mit Lesen und Schreiben so grosse Mühe bekundete, da sich Buchstaben für ihn zu einem schier unüberwindlichen Bergwirrwarr türmten. Der studierte Marugg war es gewesen, der endlich dem Ganzen nach so vielen Jahren einen Namen gegeben hatte – Dyslexie, Wortblindheit.

«Walter.» Marugg riss ihn aus seinen Gedanken. «Was sagt dir dein Ranzen?»

«Seltsam erscheint mir, dass ein Täter sein Opfer ausgerechnet im Lichtkegel der roten Laterne erhängt und dazu mit Sicherheit bewusst die Stola eines Geistlichen benutzt. Kommt, lasst uns nach draussen gehen.»

«Ich weiss, was du meinst. Dasselbe geht mir auch durch den Kopf.» Marugg leerte mit einem letzten grossen Schluck die Tasse Kaffee, stellte sie auf die Bar zum anderen Schmutzgeschirr und folgte Caminada.

Die beiden Polizeimänner erhellten mit ihren Taschenlampen die Hängende, während Marugg seine Ledertasche öffnete und den Fotoapparat hervorholte, den das Landjägerkorps erst vor drei Monaten endlich anschaffen durfte. Er hielt die bedrückende Situation in schwarz-weissen Bildern fest, bevor sie die Leiche umsichtig herunterholten. Die Stola hatte sich so fest zugezogen, dass Caminada sich schwertat, diese unbeschadet zu entknoten, um die Tote davon zu befreien.

Da das Landjägerkorps noch immer über kein Automobil verfügte, das Stadtpolizeiamt nur über zwei Seitenwagentöffs und der LaSalle vom Stadtrat nicht um Tote zu transportieren eingesetzt werden durfte, war Marugg mit der Nachhut mit einem Pferdekarren gekommen. Sie legten gemeinsam die Leiche in einen grossen, aus Weidenruten geflochtenen Korb, der hauptsächlich benutzt wurde, um Betrunkene oder Verletzte zu befördern.

Caminada strich dem toten Fräulein sorgsam das lange hellbraune Haar zur Seite, nachdem sie den Jutesack entfernt und ihre Handfesseln gelöst hatten. Sie leuchteten ihr ins aufgedunsene Gesicht, die Augen drückten aufgequollen nach aussen, trockener Speichel klebte ihr am Kinn. Auf den ersten Blick schien sie sonst unverletzt – weder an Händen noch Armen trug sie Abwehrverletzungen, nur Fesselungsmale umschlossen ihre schlanken Handgelenke.

«Eruieren wir nun den Todeszeitpunkt.» Marugg holte ein Quecksilber-Fieberthermometer aus der Tasche und zog den Jupe der Toten etwas hoch.

«Sie muss kurz vor dem Tod auf dem WC gewesen sein», stellte er vor sich hinredend fest, «denn sie hat nach dem Eintritt des Todes keinen oder kaum Urin verloren – ihre Unterhose ist ja nicht mal feucht», sagte er, während er das Quecksilberthermometer vorsichtig anal einführte. Caminada blickte respektvoll zur Seite, um die Würde der Toten zu wahren. Er wunderte sich, wie der immer so höfliche Marugg solche Untersuchungen mit einer derartigen Gelassenheit, ja emotionalen Distanz vornehmen konnte.

«Zehn Minuten dauert es nun, bis wir das Ergebnis haben.» Marugg zog den Jupe wieder bis zu den Knien herunter. Da sie die Leiche währenddessen nicht bewegen durften, warteten sie gedankenversunken daneben, und die Stille wurde nur hin und wieder von kurzen Wortwechseln durchbrochen.

«Walter, leucht mal.» Marugg hielt das Fieberthermometer vor sich. «Fünfunddreissig Komma sechs Grad zeigt es auf der Skala an, und wir haben hier draussen achtzehn Grad.» Das zeigte ihm ein Blick auf das Aussenthermometer an. Er entnahm aus einem Seitenfach seiner Tasche eine Anleitung, die er im Wind auf die Ladefläche des Pferdewagens drücken musste, während Caminada weiter mit seiner Taschenlampe leuchtete.

«In Anbetracht der Kleidung und der beiden Temperaturen, dazu der Wind – sie muss zwischen halb zwei und zwei Uhr getötet worden sein.»

«Das bestätigt exakt die Aussage der Wirtin», sagte Caminada. «Und wenn wir nun alles haben, dann lasst sie uns fortbringen, damit wir noch die Umgebung in Augenschein nehmen können.» Caminada mochte keine Toten – und schon gar nicht, wenn es junge Menschen waren.

Sie legten ein Tuch über das Fräulein und verknoteten es fest mit dem Korb, des Sturmes wegen, der in unregelmässigen Schüben die Zweige im Nussbaum über ihnen wütend schüttelte. Mit einem gemeinsamen «Hauruck» hievten sie den Korb auf die Ladefläche.

Die beiden uniformierten Polizeimänner setzten sich auf den Kutschbock, das Pferd legte sich in die Riemen, und karrten hinunter Richtung Schluchtausgang mit dem Ziel: Leichenhalle Kreuzspital.

Dr. Bargätzi sei aus dem Näscht geschellt worden, doch der würde sich bestimmt nicht vor dem Morgen bemühen lassen, liess Caminada Marugg wissen, während sie im Schein ihrer Lampen den Boden rund um die Rote Laterne absuchten, aber nichts fanden. Sie gingen um die gedrungenen Nebengebäude, warfen ihre Lichtkegel in ein jedes, auch in den Schweinestall, bevor sie sich dem Gasthaus näherten. Der Wind zerzauste weiter die Bäume und Sträucher, Staub wirbelte vom Vorplatz in ihre Augen, dennoch blieb die Nacht lau, im Gegensatz zur Kühle unten in der Schlucht.

Als sie ums Hauseck des Gasthauses schlichen, schlugen die Hunde an. Zähnefletschend sprangen sie im Schein der Lampen am Maschendrahtzaun hoch, verbissen sich wie tollwütig im Gitter. Die Wirtin eilte hinzu und brüllte ein «Aus», sodass augenblicklich Stille herrschte, als wären die schweren Tierkörper zu Lämmern geworden.

Bis auf ein im Hühnergehege liegendes, halb totes, wahrscheinlich vom Fuchs gepacktes Huhn entdeckten die beiden Beamten nichts Ungewöhnliches in der Umgebung. Die grosse Wiese in der Waldlichtung dahinter lag im samtenen Dunkel dieser stürmischen Nacht, die umsäumenden Bäume wiegten sich im Wind. Caminada drehte dem Tier kurzerhand den Hals um, damit es vom Leiden erlöst wurde, und trug es mit.

Hermine nahm das Huhn, das ihr Caminada entgegenstreckte, und sie führte die beiden ins Haus, übers knarzende Stiegenhaus hoch in den dritten, den Dachstock, und verschwand wieder nach unten, wie Caminada es gefordert hatte.

Als erste Handlung schoss Marugg mehrere Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln. In Fräulein Möcklis etwas unordentlicher Kammer mit der Dachschräge standen ein Schrank, ein altes Bett und eine in die Jahre gekommene Kommode. Der Spiegel über dieser wies eine blinde Stelle in der linken unteren Ecke auf, die Vorhänge vor dem Fenster, das hin zur Roten Laterne zeigte, waren schlufig gezogen.

Caminada und Marugg begannen gemeinsam das Zimmer in Augenschein zu nehmen. Der junge Ermittlungsfunktionär griff als Erstes in den Bettinhalt, hielt sich das Kissen vors Gesicht und hob die Decke an, bevor er die Rosshaarmatratze kehrte, die direkt auf einem Brett lag.

Das Fräulein schien nicht viel besessen zu haben. Immerhin zwei Paar Schuhe und Sandalen für den Sommer und ein gutes, fast neues für den Winter waren im Schrank zu finden. Etwas Schminke und ein fast leeres Parfümfläschchen sowie ein bebildertes Buch mit Schmetterlingsmotiven lagen auf dem mittleren Schranktablar.

Gemeinsam mit Marugg widmete sich Caminada interessiert der hellbraunen Handtasche, die im untersten Fach im Schrank gestanden hatte. Diese gab erwartungsgemäss am meisten her: ein Portemonnaie mit etwas Geld, ein Ausweis und ein Billett dritter Klasse «Zürich retour» von vor zwei Wochen, dazu ein angebrochenes Pack Zigaretten der Marke «Lucky Strike».

Das, was ihnen wichtig erschien, steckten sie in die rindslederne Tasche oder den Rucksack von Marugg, der diesen am Ende schulterte, nachdem er jeden Gegenstand im Zimmer sorgfältig auf ein Papier notiert hatte.

Vor dem Gehen schärfte Caminada der an der Haustüre stehenden Wirtin ein, dass sie jede neue Erkenntnis umgehend an das Landjägerkorps zu vermelden habe und dass er und Marugg zwecks detaillierterer Einvernahme schnellstmöglich wieder herkommen würden. Die Angst und Verzweiflung stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Obwohl sie eine gwehrige Person war, die bestimmt mit manchem Mannsbild fertigwerden würde, riet er ihr, für diese Nacht zusätzlich die Hunde ins Haus zu holen, auch wenn Schwinta-Hitsch im Gasthaus übernachten täte. Dies obwohl es unwahrscheinlich war, dass es der Täter auch auf sie abgesehen hatte, da sie zuvor nicht angegriffen worden war.

Die Sichel des Mondes hing mittig über dem Pizokel, als Caminada und Marugg den Meiersboden von heftigen Böen begleitet verliessen.

Caminada schob sein Velotöffli die schmale Strasse hinunter zur Brücke. Die Plessur rauschte rechts unter ihnen in ihrem pechschwarzen Flussbett, hinter dem schroffe Felsen hochstiegen, durch deren Inneres der Tunnel der Arosabahn ins Schanfigg führte.

Ein dickes Wolkenband, dessen Ränder vom verdeckten Mond schwach glommen, schob sich über ihnen durch die Nacht. Unten im Sassal angekommen, wo die schmale Holzbrücke die Plessur überwand, verschluckte die engste Stelle der Schlucht das letzte bisschen Licht. Sie fühlten sich dabei, als wären sie in ein Tintenfass gefallen, sie konnten nicht mal mehr ihre Füsse sehen und mussten ihre Lampen einschalten.

«Peter, ich glaube, mit dem Mord an dem Fräulein kommt was auf uns zu.» Caminada blickte in die beiden Lichtkegel vor ihnen, die das Schwarz um sie herum noch düsterer wirken liessen.

«Weisst du was, Walter? Haargenau dasselbe habe ich soeben auch gedacht, doch wir beide sind ein gutes Team.»

«Noch mehr – wir sind Freunde geworden.»

Helvetia 1949

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