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2.3Die Werte in der Praxis
ОглавлениеNachdem der Begriff der Werte nun vorgestellt und anhand eines Modells veranschaulicht worden ist, bleibt nun aber die Frage, wie Organisationen und aktive Traceure diese Werte in ihrem Trainingsalltag tatsächlich erleben oder sie dort hinein zu übertragen versuchen. Um dies beispielhaft zu beantworten und mit Leben zu füllen, hier einige kurze Gastbeiträge aktiver Parkour-Sportler:
Parkour für alle!
von Ihab Yassin 5
„Als ich das erste Mal mit Parkour in Kontakt kam, war es für mich eine Sportart, die etwas Cooles an sich hatte und bei der ich mir dachte: ‚Ja, so etwas möchte ich auch machen!‘ – Jetzt, nachdem ich den Sport seit knapp neun Jahren selbst betreibe, hat sich meine Sichtweise darauf aber grundlegend geändert:
© Jason Paul
Heute ist Parkour für mich eine Lebenseinstellung. Die Erfahrungen, die ich im Parkour sammeln konnte, konnte ich dazu nutzen, um sie auf Herausforderungen meines Alltags zu übertragen. Was mir dabei besonders gefällt, sind die individuellen Bewegungsstile, die jeder Athlet in der Szene besitzt; dass jeder Traceur einzigartig ist. Dadurch habe ich das Gefühl bekommen, dass ich als Mensch mit Behinderung endlich das erreichen konnte, was ich schon immer wollte: dass Leute sehen, zu was Menschen mit Handicap in der Lage sind! Nicht mehr nur auf die Behinderung reduziert zu werden.
Aber auch die Offenheit, die im Parkour gelebt wird, ist ein Grund, warum ich diesen Sport lebe und liebe. Jeder Mensch wird herzlich aufgenommen und vom ersten Training an unterstützt. Dadurch habe ich viele Freundschaften schließen können, die inzwischen auch weit über den Sport hinausgehen.
Bis heute bereue ich die Entscheidung nicht, mit Parkour angefangen zu haben. Der Sport gibt mir die Kraft und die Motivation, an mich selbst zu glauben. Ich habe die Vision und den Willen, mit dem Sport die Gesellschaft zu beeinflussen und zu zeigen, dass jeder Mensch in der Lage ist, etwas zu bewegen. In jedem von uns steckt etwas Besonderes!“
Parkour am Altenheim
von Johannes Schulte 6
„In Münster ist der Zugang zum Parkhaus des Theaters wegen seiner vielen Mauern und Stangen wahrscheinlich der beliebteste Spot (dt.: Trainingsstelle) der Stadt. Jedoch liegt dieser auf einem Privatgrundstück und direkt neben der Tibus-Residenz – einem Altenheim. Dessen Bewohner schauen dem Training von ihren Balkonen aus jedoch gerne zu!
© Ulrike Wünnemann
Das Verhältnis zwischen den Traceuren und den Bewohnern ist allerdings nicht zufällig so gut: Von Anfang an war der Münsteraner Parkour-Community klar, dass der Spot und die Anwohner respektvoll behandelt werden müssen, um nicht auf Dauer weggeschickt zu werden. Über die Jahre hin pflegten wir dort also die Beete, befreiten die Wege von Unkraut und setzten neue Pflanzen ein, die wir nach dem Training gießen. Dazu halten wir uns an die Regel, die Beete beim Training möglichst komplett zu meiden. Mit Zuschauern und den zuständigen Hausmeistern gehen wir offen und freundlich um und verzichten auf laute Musik.
Im Sommer 2019 organisierten wir dazu eine Veranstaltung im Rahmen des Kulturprogramms der Tibus-Residenz. Die Senioren waren eingeladen, sich von den Schülern und Coaches der örtlichen ParkourONE-Klasse das Training genauer erklären und auch zeigen zu lassen. Bis heute profitieren nicht nur wir durch den Spot, sondern auch die Bewohner von dieser respektvoll gewachsenen Beziehung.“
Hinterlasse keine Spur!
von Dan Edwardes 7
„‚Sei stark, um nützlich zu sein‘, ist ein fundamentaler Grundsatz unserer Disziplin und ein Satz, den man in Communitys auf der ganzen Welt häufig hört. Während zu reden aber leicht ist, sind wir bei Parkour Generations8 der festen Überzeugung, dass Taten lauter sprechen als Wörter. Aus diesem Grund fragen wir uns oft, wie wir dieses Prinzip auch verkörpern können. Wie können wir es zum Leben erwecken?
Die ‚Leave No Trace JAMs‘ sind ein fantastisches Beispiel für diesen Grundsatz in Action:
JAMs9 sind das Lebenselixier von Parkour. Menschen an lokalen Trainingsspots zusammenzubringen, andere Gleichgesinnte zu treffen, Ideen auszutauschen und mit Freunden zu trainieren, war schon immer ein zentraler Bestandteil von Parkour und seiner Entwicklung. Daher war es absolut sinnvoll, diesen fast universellen Brauch mit dem einfachen, aber äußerst zielgerichteten, funktionalen und sozial denkenden Konzept ‚Leave No Trace‘ (dt.: ‚Hinterlasse keine Spur!‘) zu kombinieren.
Das Parkour-Training verbindet uns mit unserer Umwelt auf eine einzigartige Art und Weise. Die Räume, die wir nutzen, die Architektur, die Hindernisse, die Oberflächen – jeder Aspekt der Umgebung bedeutet etwas für einen Traceur, und wir können uns privilegiert und glücklich schätzen, in der Lage zu sein, in solch einer freien und uneingeschränkten Art in unzähligen wunderbaren Szenarien trainieren zu dürfen. Demnach sollten wir darauf achten, diese Orte zu respektieren, und uns dazu verpflichten, sie für andere Traceure, spätere Generationen und natürlich andere Menschen, die dort wohnen, leben oder arbeiten, zu bewahren.
Der oben beschriebene Grundsatz geht aber noch einen Schritt weiter: Wir können nicht nur Bewegung oder positive Energie in unseren Gemeinden und in den Räumen um uns herum teilen, sondern auch daran arbeiten, diese besser zu hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben. – Und so funktioniert ein ‚Leave No Trace JAM‘:
Zu Beginn jeder Session planen wir eine Stunde ein, in welcher jeder den Spot und die Ecken rundherum von Dreck, Müll und Abfall befreit, diesen, zum Recyceln, in verschiedene Müllbeutel sortiert und in der jeder schaut, auf welche Weise er den Ort mit einfachen Mitteln verbessern kann. Beginnt anschließend die JAM, so sind die Teilnehmer jetzt in der Lage, an einem Spot zu trainieren, von dem sie wissen, dass er sauber ist und keine Gefahren, wie Scherben oder Abfälle, mehr birgt.
© Barbora Hovorkova
© Barbora Hovorkova
Das verbessert nicht nur das Erlebnis, sondern bringt Menschen für einen gemeinsamen Zweck zusammen und schenkt der Veranstaltung einen breiteren sozialen Nutzen.
Dieser Ansatz hat zudem den Vorteil, dass er die Verbindung der Teilnehmer zu ihrer (urbanen) Umwelt stärkt und dass sie so beginnen, zu verstehen, wie ihr Training ebendiese beeinflusst – positiv wie negativ. Und Bewusstsein ist unabdinglich für einen Traceur!
Die Philosophie von Parkour hat an Stärke gewonnen, weil sie diese Prinzipien im Herzen trägt, aber jede Philosophie bleibt nur dann nützlich und relevant, wenn sie auch gelebt wird. Sie muss verkörpert werden.
Zu reden ist leicht. Wichtig ist, was wir tun!“
5Ihab Yassin war Deutschlands erster kleinwüchsiger Traceur und ist ein weltweit bekanntes Vorbild für Menschen mit Behinderungen im Parkour-Sport.
6Johannes Schulte ist Coach für ParkourONE Münster und langjähriger Traceur der Szene.
7Dan ist Gründer und Leiter von Parkour Generation London und aktiv als Coach und Athlet.
8Parkour Generations ist ein Unternehmen aus Großbritannien, das sich ganzheitlich mit Parkour, der Vermittlung sowie Wissenschaft und Außendarstellung in den Medien befasst.
9Eine JAM ist eine gemeinsame Trainingssession von Traceuren aus verschiedenen Orten.