Читать книгу Villa Mendl - Phyllis McDuff - Страница 10
1 TAGE DER VERZWEIFLUNG
ОглавлениеUm die Umstände, in die ich hineingeboren wurde, zu verstehen, musste ich viele verschiedene Fäden entwirren und neu miteinander verknüpfen. Die vielen Geschichten, die mir zugetragen worden waren, stimmten nicht überein. Sie änderten sich jeweils mit der Perspektive ihres Erzählers. Von meinen Eltern stammen zwei unterschiedliche Versionen, Bettinas Schwester, Marianne, hat ein paar Bruchstücke ergänzt. Meine Cousinen erzählten mir wiederum, woran sie sich aus ihrer Kindheit erinnern konnten. Lucie, Bettinas andere Schwester, steuerte weitere Schnipsel und Fäden bei, die ich in meine Geschichte weben konnte, und nach ihrem Tod setzten ihre Kinder fort, was sie begonnen hatte. In ihren Geschichten schwangen Liebe, Bedauern oder Leidenschaft mit. Sie erzählten sie flüsternd oder wütend, unterbrochen von Lachanfällen oder Schluchzen. Aus verschiedenen Kontinenten wurden sie mir zugetragen, von Freunden, Verwandten – und Vorfahren.
Manche waren auf brüchige Zettel geschrieben, andere existierten als Dokumente auf Pergamentpapier. Ich habe sie als Ergänzung zu meiner Kindheit und den mittleren Jahren hinzugefügt und sie werden sich mit der Zeit immer weiter um mich herum entwirren. Kein Stück passt genau an seinen Platz. Jedes einzelne Teil muss angepasst, getrimmt und gedreht werden, damit man es im Zusammenhang richtig versteht.
Ich wurde im Outback, in Hillston, westlich von Bourke am Ende eines bitterkalten Winters geboren. Ich kam zu früh auf die Welt und war schwach und hässlich. Die Hebamme in der nahe gelegenen Geburtsstation war betrunken. Sie riet meiner Mutter, mich gar nicht erst zu stillen, da ich ohnehin sterben würde. Sie könnte sich die Mühe sparen.
Am selben Tag und im selben Zimmer hatte ein verängstigtes Aborigines-Mädchen nach einer langen und schwierigen Geburt einen robusten honigfarbenen Jungen zur Welt gebracht. Nach der Geburt war sie völlig erschöpft und fiel in eine Art Schockstarre. Sie war an der Grenze zu einer Ohnmacht und viel zu schwach, um den Kleinen auch nur zu halten. Auch Milch hatte sie kaum für ihn.
Als die Nacht anbrach, war die Hebamme noch schwerer alkoholisiert. Meine Mutter wusste, dass sie wach bleiben und mich alle zwei Stunden stillen musste, so bestand zumindest eine geringe Chance, dass ich überleben würde. Während sie mich drängte zu trinken, hörte sie dem zornigen, hungrigen Aborigines-Jungen dabei zu, wie er seine Verzweiflung in die Welt hinausschrie. Sie betete die ganze Zeit über dafür, dass seine junge Mutter wieder zu sich kommen würde. Von Stunde zu Stunde wurde sie selbst schwächer, vor Erschöpfung und Angst und wegen des steigenden Fiebers und der Schmerzen, die ihr der Milchüberschuss verursachte.
Schon nahe am Fieberdelirium bekam meine Mutter Angst, man könnte sie, erholte sie sich nicht schnell von der schweren Geburt, in ein öffentliches Spital bringen. Das hätte jedoch unangenehme Fragen über ihre Herkunft aufgeworfen, ihr Status wäre festgestellt und sie als feindliche Ausländerin klassifiziert und eingesperrt worden. Es zirkulierten damals viele Geschichten über wohlhabende deutsche und italienische Farmer, die gefangen genommen und in ein Lager gebracht worden waren. Ihre Familien blieben verlassen und verzweifelt zurück: Ohne die Männer konnte die schwierige Arbeit auf den Farmen nicht bewältigt werden.
Meine Mutter betrachtete den kräftigen, kleinen Aborigines-Jungen sehnsuchtsvoll. Sie bewunderte seine Kämpfernatur, seine Wut, seine runden Ärmchen und seine seidigen Wimpern, in denen Tränen hingen. Schließlich nahm sie ihn hoch und gab ihm zu trinken, bis er satt und zufrieden schlief. Er hatte sie auf andere Gedanken gebracht und ihr Kraft gegeben, um mich weiterzukämpfen.
Der nächste Tag ging vorüber. Die Hebamme hatte sich gerade so weit erholt, dass sie ein paar Grundnahrungsmittel ausgeben konnte, jedoch von medizinischer Versorgung war keine Rede. Das Aborigines-Mädchen gab wieder Lebenszeichen von sich, war aber noch immer nicht stark genug, um ihr Baby zu stillen. Wenn die Hebamme nicht da war, steckte meine Mutter mich neben das Mädchen ins Bett, während sie einmal mehr den kräftigen, kleinen Jungen stillte. Vielleicht mochte sie ja meinen Anblick – ich war so klein und still im Vergleich zu ihrem großen, robusten Sohn –, in jedem Fall nahm mich das Aborigines-Mädchen auf und begann mich mit unendlicher Geduld zu stillen. Sie schien zu verstehen, dass ich einer permanenten Fütterung bedurfte, die langsam vor sich gehen musste, Tropfen für Tropfen. Um sich wach zu halten, sang sie leise ihre Stammeslieder, die Corroboree-Melodien, uralte spirituelle Gesänge. Während der folgenden Tage und Nächte, die auf seltsame Weise ineinander verschwammen und jeglicher Kontur entbehrten, sang sie mich langsam ins Leben – und schenkte meiner Mutter Schlaf. Alle vier Stunden riss uns jedoch das Sirenen-Geheul des Honigjungen aus unseren Tagträumen, der dann von meiner Mutter großzügig gestillt wurde.
So vergingen die Tage, bis mein Vater uns abholen kam und nach Hause brachte. Der Honigjunge und seine junge Mutter verschwanden in den dunklen Schatten hinter der Veranda. Die Hebamme, die inzwischen ihren Rausch ausgeschlafen und sich erholt hatte, legte mich auf die Waage – ich wog etwas mehr als ein Kilo –, packte mich zusammen mit ein bisschen Baumwolle in eine Schuhschachtel und schickte mich nach Hause. Ich sollte das Wagnis des Lebens auf mich nehmen.
Zu Hause, das war für mich eine rohe Blockhütte mit einem Boden aus Lehm und einer offenen Feuerstelle. Die Zugluft war schrecklich. Mein Vater war damals Manager der Bimbil-Station, einer riesigen Schaf- und Rinderfarm. Er kümmerte sich um das Überleben der Schafe und Rinder im letzten Abschnitt des struppigen Buschwalds, zwei Tagesritte vom Hauptgebäude der Farm entfernt.
Nichts davon hatte auch nur annähernd etwas mit dem eleganten Leben zu tun, das meine Mutter geführt hatte, bevor Hitlers Truppen in Österreich einmarschiert waren. Immerhin war sie die Tochter von Fritz Mendl, einem wohlhabenden Geschäftsmann, der eine berühmte Wiener Bäckerei betrieben hatte – damals die größte in ganz Europa. Fritz Mendl hatte mehrere Landgüter, eine wertvolle Kunstsammlung und ein Gestüt mit Vollblutpferden der Spitzenklasse besessen.
Für seine Familie hatte er ein großes Heim mit prachtvollen Gärten in Wien entwerfen und bauen lassen, das unter dem Namen »Villa Mendl« bekannt geworden war. Meine Mutter war im Cheltenham Ladies College erzogen worden, einem exklusiven Internat in England, ihre Ferien hatte sie in den schönsten Städten Europas verbracht. Zu Hause in Wien hatte sie Konzerte, Pferderennen, Bälle und Partys besucht und Tennis gespielt. Am meisten von allem hatte sie das Reiten geliebt und war selbst drauf und dran gewesen, eine berühmte Springreiterin zu werden. Meine Mutter hatte zwei ältere Schwestern, Marianne und Lucie, und zwei ältere Brüder, Otto und Fritz.
Bereits, als sie noch ein Teenager gewesen war, hatte das idyllische Familienleben jedoch zu bröckeln begonnen. Mit kaum achtzehn Jahren hatte sie ihre Mutter Emily verloren, die an Krebs erkrankt war. Nur zwei Jahre später war ihr Vater gestorben. Die vielen Jahre harter Arbeit hatten an seiner Gesundheit gezehrt und sein Herz geschwächt. Wenig später war ihr Bruder Fritz bei einem Schiunfall ums Leben gekommen. Im Jahr 1931, als meine Mutter gerade zweiundzwanzig Jahre alt geworden war, war ihr die Aufgabe zugefallen, die Großbäckerei ihres Vaters zu leiten und das beträchtliche Vermögen der Mendls zu verwalten.
In der Zwischenzeit hatte auch Hitlers Aufstieg zur Macht begonnen. Bettina war eine leidenschaftliche und sich offen deklarierende Anhängerin des damaligen österreichischen Kanzlers Schuschnigg und seiner gegen die Nazis gerichteten Politik gewesen. Als eine renommierte Reiterin war sie 1936 für die Olympischen Spiele in Berlin nominiert worden, hatte jedoch mit der Begründung, dass ihr »die Politik von Hitlers Drittem Reich nicht gefiel«, auf ihre Teilnahme verzichtet. Auch Bettinas Turnierpferde waren weltberühmt gewesen. Eines von ihnen, Bubunut, das aus einer ungarischen Zucht stammte, war das einzige Fohlen von Kinchem, einem Sieger von zweiundneunzig Rennen gewesen. Bubunut war nervös und unverlässlich gewesen und nicht für Rennen geeignet, jedoch seine Herkunft hatte für sich gesprochen. Nachdem Bettina sich in Bubunut verliebt hatte, hatte sie um die staatliche Erlaubnis ansuchen müssen, das Tier über die ungarische Grenze nach Österreich mitnehmen zu dürfen. Die junge Stute hatte luxuriös in einem eigens für sie gebauten Stall im Garten der Villa Mendl gelebt. Bubunuts Pfleger hatte neben ihr geschlafen und ein weißes Zwergkaninchen war auf ihrem Futtertrog gesessen, um sie zum Essen zu ermutigen.
Im November 1938, während der brutalen Ausschreitungen in der Kristallnacht, als die österreichischen Nazis in den Straßen gewütet und jüdisches Eigentum zertrümmert und zerstört hatten, waren Bubunut und ihr Pfleger für immer verschwunden. Ich erinnere mich gut daran, wie meine Mutter uns von ihrer Sorge um das Zwergkaninchen erzählte. Das war die einzige Angst, von der sie sich zu sprechen erlaubte.
Bettina beschrieb uns auch eindrücklich, was mit den Stallungen in Veitsch, einem der Landgüter der Mendls, passiert war. Das Erzählen fiel ihr ganz offensichtlich schwer – sie krümmte sich geradezu unter ihren eigenen Worten. Ein deutscher Kommandant war mit Lastwägen gekommen, um die Pferde abzutransportieren. Er hatte dem vierzehnjährigen Stallburschen befohlen, die Pferde in den Hof zu führen. Der Junge hatte geantwortet, er dürfe ohne die ausdrückliche Anweisung von Fräulein Bettina seine alltäglichen Arbeitsabläufe nicht abändern oder unterbrechen. Der Kommandant hatte daraufhin seine Pistole gezogen und ihn auf der Stelle erschossen. War das die Vergeltung für Bettinas Verwegenheit gewesen, auf ein Antreten bei den Olympischen Spielen in Berlin zu verzichten? Oder hatte es dafür tiefere Beweggründe gegeben?
Unmittelbar nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazi-Deutschland nahmen die Schergen der Nazis all jene gefangen, die bekanntermaßen der Opposition angehörten. Sie begannen mit der Realisierung von Hitlers »Endlösung«. Meiner Mutter gelang die Ausreise aus Wien nur wenige Stunden vor Hitlers Einmarsch in Wien am 12. März 1938. Der »Anschluss« kam für sie einem Todesurteil gleich, dem sie so nur knapp entging. Das Vermögen der Mendls wurde sofort von den Nazis beschlagnahmt.
So, wie meine Mutter die Geschichte erzählte, war sie zuerst in die Schweiz gereist und erst 1939 über Neuseeland nach Sydney gekommen. Alles, was sie noch besaß, war eine zerknüllte englische Fünf-Pfund-Banknote, die sie in einer Manteltasche gefunden hatte. Das war nicht genug für das »Landegeld«, das vierzig Pfund betrug und für die Einreise von Migranten, die keine britischen Staatsbürger waren, Voraussetzung war. Sie sah sich dazu gezwungen, innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Verlassen des Schiffes die schriftliche Garantie eines Sponsors zu präsentieren, der Auskunft über ihre Person gab. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Damals befanden sich Australien und Neuseeland im Krieg gegen Nazi-Deutschland und somit auch gegen Österreich. Bettina galt als feindliche Ausländerin und lief Gefahr, verhaftet oder sogar per Schiff zurück nach Österreich abgeschoben zu werden – unabhängig von den Folgen, die ein solcher Schritt für sie gehabt hätte.
Obwohl sich ihre Schwester Marianne schon vor einiger Zeit in Sydney niedergelassen hatte, wäre meine Mutter nicht auf die Idee gekommen, sie als Bürgen zu nennen. Sie befürchtete, auch Marianne in die Gefahr zu bringen, verhaftet zu werden.
In Ermangelung einer anderen Eingebung ging Bettina in die nächste Kirche, die St. Mary’s Cathedral, zur Beichte. Nach der Beichte schob sie das Bürgschafts-Formular durch das Gitter und bat den Priester, es zu unterschreiben. Anfänglich weigerte er sich und erklärte, sie ja nicht einmal zu kennen, da sie kein ständiges Mitglied seiner Gemeinde wäre. Bettina legte ihm ans Herz, im Sinne seines Glaubens zu handeln.
Nach einem ausführlichen Gespräch über das Wesen Gottes, Fragen des Glaubens und die Verpflichtung der Kirche, aus Barmherzigkeit Menschen vor Verfolgung zu schützen, unterzeichnete der junge Priester das Dokument. Bettina konnte es rechtzeitig den Behörden vorlegen, um das befristete Visum zu verlängern. So entging sie einer sofortigen Verhaftung.
Marianne und ihr Mann hatten es geschafft, etwas Geld mit nach Australien zu bringen, und hatten damit ein Haus in Mosman gekauft. Es war klein und benötigte dringend Reparaturen, dennoch zog Bettina bei ihnen ein. Nachdem die kritische erste Zeit nach ihrer Ankunft überwunden war, wurde ihr immer klarer, dass sie ihren eigenen Weg gehen musste. Sie konnte es nicht ertragen, abhängig zu sein, und suchte eine Arbeit als Hausangestellte – was ziemlich absurd war, weil sie über keinerlei Haushaltskenntnisse verfügte und so gut wie nie ohne eigenes Personal gelebt hatte.
Bei einem Bewerbungsgespräch erkannten sie ihre potenziellen Arbeitgeber. Es waren österreichische Leidensgenossen, die schon früher aus ihrer Heimat geflüchtet waren. Sie waren entsetzt über Bettinas Situation, servierten ihr Tee und erzählten ausführlich von ihren schönsten Erinnerungen an Österreich und ihre Familie.
Bettina verließ angewidert das Haus. Sie war hungrig und bankrott und suchte Arbeit, keine sentimentalen sozialen Intermezzos. Von diesem Tag an hielt sie Ausschau nach Jobs im Westen von New South Wales und antwortete auch auf Anzeigen von landwirtschaftlichen Betrieben. Sie vertraute auf ihr Expertenwissen im Umgang mit Pferden. Es würde ihr auch unter diesen neuen und rauen Bedingungen ein Überleben ermöglichen.
Bettina wagte nicht, sich irgendwo länger aufzuhalten. In Verbindung mit ihrer Familie gebracht zu werden, hätte ihr zum Verhängnis werden können. Der Name »Bettina Mendl« auf Briefen hätte auf Postämtern und selbst auf entlegenen Poststationen Verdacht erwecken können. Auch konnte sie der Akzent, mit dem sie Englisch sprach, in erhebliche Gefahr bringen.
So zog sie von Ort zu Ort und versuchte, in freier Wildbahn zu überleben. Sie wollte unabhängig werden, unauffällig, eins mit der Landschaft, die sie durchwanderte.
In den höchst amüsant präsentierten Geschichten, die sich diesen Erfahrungen verdankten, gab sie so gut wie nie zu, wie hart ihr Leben damals gewesen war. Nur manchmal hielt sie mitten im Satz inne, zögerte und sagte dann: »Die Arbeit war mir zu schwer, ich war nicht stark genug …« Ansonsten versteckte sie sich hinter ihrem Humor und erzählte mitreißend und komisch von Situationen, die in Wahrheit ziemlich qualvoll gewesen sein müssen.
Einmal etwa hatte sie als Hausangestellte auf einem einsamen Gutshof gearbeitet. Sie war gebeten worden, die Kinder auf den Besuch des Weihnachtsmanns vorzubereiten. Meine Mutter wusch den kleinen Mädchen die Haare und drehte sie sorgfältig auf Lockenwickler. Sie sollten ihnen in Korkenzieherlocken über die Schultern fallen.
Um die Mädchen während dieser langweiligen Prozedur auf der Veranda mitten im Dezember – es war brütend heiß – bei Laune zu halten, dachte meine Mutter daran, ihnen von den Weihnachtsfesten ihrer Kindheit bei Kerzenlicht und unter dem Christbaum zu erzählen. Sie erkundigte sich bei den Kindern, was sie von diesem Fest wussten. »Oh«, sprudelte es aus dem siebenjährigen Mädchen heraus, »wir bekommen einen Haufen Geschenke!« – »Aber warum?«, fragte Bettina. »Was feiern wir denn?« – Keine Antwort. Schließlich fragte sie: »Was ist mit der Geschichte von Jesus Christus?« – Die beiden Mädchen sperrten den Mund auf und zwei Paar Augen starrten Bettina missbilligend an. Die Ältere von den beiden zischte warnend: »Betty! Mama sagt das nur, wenn sie sehr wütend ist!«
Anfangs hielt sich meine Mutter von der kleinen Veranda des Gutshofes fern. Und das hatte einen Grund: Jedes Mal, wenn sie in ihre Nähe kam, wurde sie von einer heiseren, rauen Stimme begrüßt: »Go to buggery! Go to buggery!«* – Wochenlang dachte sie, es müsse sich dabei um ein altes, streitsüchtiges Mitglied der Familie handeln, und fand sich damit ab. Irgendwann siegte jedoch die Neugier. Sie hatte sich inzwischen eingelebt auf der Farm und musste nicht mehr um ihren Job fürchten, also beschloss sie, diesem seltsamen Wesen auf die Spur zu kommen. Jedoch egal, wie lautlos sie um die Ecke der Veranda schlich, sie wurde entdeckt und sofort mit einem boshaften »Go to buggery!« begrüßt.
Schließlich wurde ihr ungewöhnliches Verhalten von der Frau des Farmers bemerkt. Sie beschloss, meiner Mutter heimlich zu folgen. In einer stockdunklen Nacht stießen die beiden Frauen so bei einer von Bettinas Erkundungstouren zusammen. Erschrocken schrien beide laut auf. Sie weckten dabei den alten weißen Kakadu, der augenblicklich sein »Go to buggery! Go to buggery!« zurückschrie.
Dawn und ich liebten diese Geschichte. Sie inspirierte uns zu einem Spiel: In finstersten Nächten krochen wir draußen im Dunkeln herum und suchten einander. Dann sprangen wir mit einem Satz in die Höhe und schrien aus Leibeskräften: »Go to buggery!« Irgendwann verboten uns unsere Eltern das Spiel – nicht wegen des ziemlich derben Ausdrucks, sondern weil ich jedes Mal danach mit meinen Nerven am Ende war. Meine Lippen bebten und ich war in Tränen aufgelöst. Stundenlang konnte ich danach nicht einschlafen und Angst vor der Dunkelheit wurde zu meinem ständigen Begleiter für die nächsten zwanzig Jahre.
Eine Zeit lang hatte Bettina auch auf einer Farm in der Nähe von Hillston, tief im Westen von New South Wales, gearbeitet. Joe McDuff, ein Junggeselle in reiferem Alter, war der Manager der benachbarten Rinder- und Schaffarm. Er bewunderte die Reitkunst meiner Mutter, eine der wenigen nützlichen Fertigkeiten, die sie aus ihrem exotischen Vorkriegsleben mitgebracht hatte. Er hatte sie schon länger bei ihrem Überlebenskampf beobachtet und wollte ihr helfen. Er brachte ihr bei, wie man Fallen auslegt und Kaninchen fängt, fünfzig Fallen schenkte er ihr sogar. Sie stellten sich als die Basis einer geradezu überlebenswichtigen Nahrungs- und Einnahmequelle für meine Mutter heraus, denn sie bezog bald ein regelmäßiges Einkommen aus den Kaninchenfellen. Kriegsbedingte Restriktionen hatten zur Folge, dass die massiven Eisenfallen nur mehr schwer zu bekommen waren. Das Geschenk meines Vaters, der ihr fünfzig von diesen unersetzlichen Fallen anvertraut hatte, garantierte meiner Mutter Unabhängigkeit. Zudem waren sie ein Zeichen seiner Zuneigung. Sie waren ein sehr liebevolles Geschenk.
Irgendwann verließ Bettina dann die Farm und kampierte allein in der Wildnis. Regelmäßig hielt mein Vater nach ihr Ausschau, prüfte den Himmel nach Rauch von ihrer Feuerstelle und die Wasserlöcher nach Spuren von ihr. Als er an einem eiskalten Wintertag weder die Rauchsäule ihrer Feuerstelle noch ihre Spuren an den Wasserstellen im Umkreis entdeckte, machte er sich auf die Suche nach ihr. Er fand sie halb erfroren und hilflos in der eisigen Kälte. Eine giftige Spinne hatte sie gebissen. Meine Mutter lag im Koma. Mein Vater brachte sie in seine Hütte, gab ihr zu essen und wärmte sie.
Da er Australier mit britischem Namen war, schlug er ihr vor, sie zu heiraten. So wäre sie geschützt. Er war sehr beliebt in der Gegend und es gab Nachbarn, denen er vertrauen konnte. Die Umstände hätten für ihn gesprochen, aber Bettina war nicht so leicht zu erobern. Sie nahm sich Zeit für ihre Entscheidung, Joe zu heiraten.
Von Zeit zu Zeit schlachtete Joe ein Tier, um frisches Fleisch zu haben. Er brachte dann jedes Mal frühmorgens eine Portion davon – zusammen mit frischem Gemüse – zu einer älteren Witwe, die allein und in großer Entfernung zu all ihren Nachbarn lebte. Manchmal begleitete ihn Bettina in seinem flotten Sulky, den seine Lieblingsstute Jinny zog. Auf diesen Ausflügen bei Sonnenaufgang zeigte sich ihr der Busch in seiner ganzen Schönheit.
Am späten Vormittag kamen sie bei der Witwe an und aßen einen Happen. Am Nachmittag nahm Joe seine Axt und hackte Brennholz für die alte Frau. Wenn es notwendig war, erledigte er auch dringende Reparaturen im Haus und im Garten.
In der Kühle des Abends fuhren sie dann langsam nach Hause zurück und freuten sich über die Sterne.
Bei einem dieser Besuche wurde ihnen der Rest von einem kalten Braten serviert. Er war voller Maden. Bettina ekelte sich davor und vermied es, davon zu essen. Sobald sie außer Hörweite waren, wandte sie sich an Joe und fragte ihn: »Hast du nicht gesehen, dass das Fleisch voller Maden war? Furchtbar! Ich habe dich davon essen gesehen und konnte es dir nicht sagen.«
»Ich habe noch nie gehört, dass eine Made einem Menschen großen Schaden zufügt«, gab Joe zur Antwort.
»Aber Joe! Das Fleisch war verdorben!«, protestierte Bettina.
»Betty, sie hat das Letzte geteilt, das sie hatte. Das ist alles, was ein Mensch tun kann. Ich wollte ihre Gefühle nicht verletzen – wegen einer Made. Sie macht wundervolles eingelegtes Gemüse. Es hat großartig geschmeckt und das habe ich ihr gesagt.«
Bettina dachte über seine Antwort nach, und während sie unter den Sternen weiterfuhren, beschloss sie, seine Frau zu werden.
Joe McDuff war der älteste Sohn einer großen Familie, die seinerzeit durch den frühen Tod des Vaters in eine schwierige Lage geraten war. Er hatte die Schule früh verlassen müssen, um seine jüngeren Geschwister zu unterstützen, und er war stolz darauf, dass nun einer seiner Brüder Richter am Obersten Gerichtshof war. Niemand verstand so recht, weshalb er trotz seines angenehmen, umgänglichen Wesens und seiner freundlichen Art nie geheiratet hatte. Spaßhalber erklärte er, er hätte immer so viele Freundinnen gehabt und sich nie für eine entscheiden können.
Sah man von dieser humorvollen Rechtfertigung ab, war seine Entscheidung, allein zu leben, mit Sicherheit auch in seiner engen Bindung zu seinen Geschwistern und in seinem großen Verantwortungsgefühl ihnen gegenüber begründet. McDuff war ein schottischer Name, nachhaltiger beeinflusst hatte ihn jedoch die irische Familie seiner Mutter. Mein Vater sang die traditionellen irischen Balladen, seine Redeweise hatte den fröhlichen irischen Schwung und Rhythmus und er sprach so vertraut und selbstverständlich über den Blarney Stone und die Great Famine (die große irische Hungersnot von 1845–1852), als ob sie Teil seines Lebens wären. In Wahrheit war sogar schon seine Mutter in Australien geboren worden.
Bettina und Joe heirateten im September 1941, eine Woche nach Mutters zweiunddreißigstem Geburtstag. Wie alt mein Vater war, wusste sie damals nicht. Aufgrund einer irreführenden Angabe in der Heiratsurkunde hielt sie ihn für fünfundfünfzig. In Wahrheit war Joe damals sechzig Jahre alt.
Natürlich war Joe McDuff nicht der erste Mann, der sich für meine Mutter interessiert hatte. Der Name Anton Chlumecky etwa war mir vertraut, lange bevor ich sprechen lernte. Bettina hatte mir von ihren Segelreisen in der Adria mit der wohlhabenden Familie Chlumecky erzählt. In den Jahren 1937 und 1938 hatte es wohl zwischen Anton und Bettina so etwas wie ein romantisches Übereinkommen gegeben. Sie hatten geplant zu heiraten, sobald sich die politischen Verhältnisse in Europa beruhigt hätten und Anton sein Studium beendet hätte.
Inzwischen hatte Bettina ein völlig neues Leben in Australien begonnen und Anton hatte angefangen, als Mitglied des britischen Geheimdienstes für die Alliierten zu arbeiten. Er war in einem einsamen Dorf im Norden von England stationiert, wo er an Dechiffrierungsgeräten arbeitete. Zur Tarnung arbeitete er als Uhrmacher in dem Dorf. Nach dem Krieg wanderte er nach Kanada aus.
Anton und meine Mutter blieben ihr ganzes Leben lang Freunde, und als ich damit begann, die Vergangenheit meiner Mutter zu erforschen, schickte er mir den Brief, den meine Mutter ihm geschrieben hatte, nachdem sie meinen Vater geheiratet hatte.
28. März 1942
Lieber Anton,
Heute habe ich Deinen Brief erhalten, und mir ist danach, Dir sofort zu schreiben, obwohl die nächste Post nicht vor Dienstag abgeht.
Nun, Du willst wissen, welche Art von Mann ich geheiratet habe, und das ist nur recht und billig, Du solltest es wissen. Er ist halb Schotte und halb Ire, ein Meter neunzig groß, sehr gut gebaut und extrem stark. Er kann den ganzen Tag mit der Axt arbeiten oder der Spitzhacke oder der Schaufel oder jede andere Art von Arbeit verrichten. Er ist genauso verrückt nach Pferden wie ich und wir haben ein wunderschönes Paar Traber. Sie bringen uns in vierzig Minuten in die Stadt, vierzehn Meilen von hier – fast so gut wie ein Auto.
Wie alles gekommen ist? Ich habe meinen Job in Queensland aufgegeben, weil ich die schwere Arbeit dort nicht länger aushalten konnte, und bin nach Sydney gefahren, um die Royal Show zu besuchen. Meinen Lebensunterhalt dort habe ich damit verdient, dass ich tagsüber waschen und putzen gegangen bin. Es war genug zum Leben und um ein paar Dinge zu kaufen, die ich dringend gebraucht habe.
Meine Schwester Marianne hat mir eine winzige Wohnung verschafft, mit einem kleinen Vorraum, Badezimmer und Schlafzimmer, die ich mit Obstkisten eingerichtet habe. Dort bin ich eingezogen und war ganz zufrieden. Ich habe sogar wieder Geigenstunden genommen und das war das Einzige, was mich wirklich gefreut hat, solange ich dort geblieben bin.
Natürlich habe ich meinen letzten Penny für die Show ausgegeben und musste am Tag, als die Show vorüber war, den ersten Job annehmen, den ich finden konnte. Ich hatte in Farmer-Zeitungen inseriert und viele Antworten erhalten. Unter ihnen war ein Telegramm: »Sofortige Anstellung, £2 plus Verpflegung. Erwarte Sie im nächsten Zug. Dringend.« – Also war ich im nächsten Zug.
Schon in der ersten Woche, als ich dort war, habe ich Joe kennengelernt. Ich mochte ihn, und er schien mich auch zu mögen – obwohl er dafür bekannt war, dass er nie irgendeine Notiz von Frauen nahm und allein im Busch lebte. Er kam häufig bei den Andersons vorbei, erschien in seiner besten Aufmachung bei der Pferdekoppel, wo ich arbeitete, fuhr die von Pferden gezogene Sämaschine und lud mich für die Sonntage ein, um mit ihm in den Hügeln des Outback zu jagen.
Im Allgemeinen hatten wir Glück, oft fingen wir nicht nur ein Känguru, sondern auch einen Fuchs oder einen Emu und hatten viel Spaß zusammen. Es war eine schöne Zeit. Als die Kaninchenfelle anfingen, im Preis zu steigen, und das ständige Heben von drei Scheffel schweren Weizensäcken mir nicht allzu sehr zusagte, begann ich davon zu träumen, allein im Busch zu leben. Ich fragte Joe, was er davon hielte, und er ermutigte mich zu dieser Idee und versprach, mir Pferd, Geschirr und Wagen zu leihen und ein paar Fallen, die er besaß.
Nun, ich habe Dir noch nicht erzählt, dass Joe der Manager einer Rinderstation mit 20 000 Hektar Land ist, in den Hügeln hinter der Farm der Andersons, und er lebt in einer richtigen Blockhütte. Als ich das erste Mal hierher kam, gab es nur Türen aus Sackleinen, keine Fenster, ein paar Tierfelle auf einem alten Bett, ein offenes Feuer, um darauf zu kochen, und ein paar Kisten, auf denen man sitzen konnte.
Ein paar Marmeladedosen mit Henkeln dienten als Töpfe, und es gab ein Waschbecken mit einem großen Loch auf der Seite, das man in einer bestimmten Position halten musste, damit das Wasser nicht herausfloss. Fünf Hunde lebten mit Joe in dieser Blockhütte, zusammen mit dem Pferdegeschirr und dem Zaumzeug, den Tierfellen, die dort aufbewahrt wurden, neben Gift und Fallen und Säcken und altem Gewand.
Trotz alledem, das Blockhaus hat mich irgendwie fasziniert. Ich habe es nicht als das gesehen, was es tatsächlich war, sondern als das, was es sein könnte.
Eines Tages lud Joe mich ein, mit ihm in die Stadt zu fahren und ins Kino zu gehen. Es war der 13. Juni, noch dazu Freitag, und eine stockdunkle, eiskalte Nacht. Als wir in die Stadt kamen, überquerten eine Frau und ein Kind vor uns die Straße. Das Kind fragte: »Liebst du mich, Mami?« – »Ja, geh weiter«, drängte die Mutter. »Dann wirst du mir Lollies kaufen«, sagte das Kind. Joe, der noch nie ein Wort zu dem Thema verloren hatte, fragte mich plötzlich: »Wirst du mir Lollies kaufen?«
Wir lachten, und das war alles.
Am nächsten Morgen hatte ich Krach mit Anderson und verließ ihn. Joe war gerade mit dem Pferdewagen gekommen. Ich sagte: »Ich komme heute mit zum Fallenstellen.« – Er meinte: »In Ordnung, und ich komme heute Abend her, um deine Sachen zu holen.« – Ich kampierte in meinem Anhänger, mit einem Schaffell, auf das ich mich legte, und ein paar Kängurufellen, um mich zuzudecken.
Nach und nach räumte ich das Haus auf und während Joe mir beibrachte, wie man Fallen stellt, habe ich begonnen, ein bisschen zu kochen, obwohl er mir erst zeigen musste, wie man auf einem offenen Feuer kocht. Als er gesehen hat, wie ich versuchte, das Blockhaus sauber zu machen und es anständig aussehen zu lassen, hielt er eines Tages zu Hause an, um mir zu helfen, und wir haben einen ganzen Tag lang gebraucht, nur um wieder Tageslicht im Haus zu haben. Joe baute ein paar Regale und andere Dinge.
Wir fanden ein paar kleine Tische auf dem Sperrmüll und einige gute Dosen, und haben alles mit ein bisschen Farbe neu angestrichen. Und von dem Tag an haben wir die langen Winterabende damit verbracht, das Haus herzurichten. Wir haben die Wände von innen mit Säcken ausgekleidet und Zeitungspapier darüber geklebt, um den Wind abzuhalten. Ich habe alte Büchsen bemalt und Joe hat eine richtige Feuerstelle aus Lehm gebaut. Ich habe Joe bei jeder Arbeit geholfen, die er zu tun hatte, wir haben zusammen Gärten angelegt, Weiden eingezäunt, Herden zusammengetrieben, Zäune errichtet und sogar Fallen gestellt.
Da wir weder Bücher noch Radio und auch keine Laterne besaßen, erzählte abends immer einer von uns dem anderen eine Geschichte. Eines Abends, als Joe an der Reihe war, erzählte er mir die Geschichte, wie sein Großvater, ein Bierbrauer, Schottland verlassen, geheiratet und einen Sohn bekommen hatte, der Joe getauft wurde; der hatte ebenfalls geheiratet und einen Sohn namens Joe bekommen, der auch geheiratet hatte. – »Und wer war sie?«, fragte ich. »Ein Mädchen vom Land«, gab er zur Antwort. »Und ich denke, wir fahren nächsten Samstag nach Weethalle und sprechen mit dem Priester darüber.«
Bis zu diesem Moment war ich vollkommen glücklich gewesen. Jetzt fühlte ich mich, als würde plötzlich eine Schlinge um meinen Hals gelegt und zusammengezogen. Die nächste Woche verging, als ob nichts passiert wäre, aber Freitag schmierte Joe den Wagen, striegelte das Pferd, legte ihm sorgfältig das Zaumzeug an, und am Samstag bei Tagesanbruch rief er, ich möge mich fertigmachen, damit wir so bald wie möglich abfahren könnten.
Wir reisten vierzig Meilen nach Weethalle, über die Hügel auf einem steinigen Weg durch den Busch und begegneten Scharen von Kängurus – der Priester war an diesem Tag nicht da –, und auf dem Rückweg sagte ich Joe, dass ich nach Sydney zurückkehren und meine Schwester besuchen wollte.
Er erhob keinen Einwand, aber er hat ja nie viel gesprochen. Er sagte nur: »Wenn du nur noch eine Weile geblieben wärst, dann hätte ich dir ein hübsches Pferd gekauft, und wir hätten zusammen zu allen Shows gehen können, und dann wäre die Ernte gekommen und die Zeit der Schafschur, und du würdest so viele Jobs bekommen, wie du nur willst, und du wärst nicht so weit weg.«
»Gut«, meinte ich, »vielleicht komme ich zurück und dann werden wir sehen.« Und ich fuhr mit dem nächsten Zug.
Ich kam nach Sydney, und obwohl meine Schwester alles tat, damit wir eine wundervolle Zeit hatten, fühlte ich mich fehl am Platz. Ich fühlte mich so fremd unter ihnen und bekam solches Heimweh nach Joe und dem Busch, dass ich es nicht länger aushalten konnte. Ich erzählte es Marianne und sie meinte, ich sollte zurückfahren, aber noch ein paar Wochen warten, um ihn wirklich gründlich kennenzulernen, und es nicht übereilen. Da ich noch ein bisschen von meinem Lohn übrig hatte, besorgte ich zwei Matratzen, Wolldecken, ein paar Leintücher, Handtücher, Teller und Töpfe, kaufte vier Dutzend Fallen, zusätzlich zu denen, die Joe mir bereits gegeben hatte, einen Läufer und eine Laterne und fuhr nach Hause. Joe war an dem Tag nicht in der Stadt. Er hatte dort, seit ich weg war, auf jeden Zug gewartet, sagte einer von seinen Freunden.
Am Abend fand ich eine Mitfahrgelegenheit bis hinaus zu den Andersons, und von dort wanderte ich quer über die Koppeln nach Hause. Es war das erste Mal, seit mein Vater gestorben war, dass das Leben sich wieder gut anfühlte. Alles war schön und besser als vorher. Wir waren beide erleichtert und in dem Moment wussten wir, dass wir uns nie mehr trennen würden.
Ich hätte nie gedacht, dass das Leben so schön sein kann, und bin furchtbar glücklich. Unsere Blockhütte ist ein ansehnliches, kleines Haus geworden. Es ist immer noch einfach und rau, aber es ist unser Zuhause. Jedes Stück hat eine Geschichte. Ich habe 100 Hühner, drei Kühe, zwei wunderbare Pferde, ein Sulky, elf Schafe, die ich aufgezogen habe, und einen sehr guten Hund, der mir zugelaufen ist.
Ich bin immer außer Haus arbeiten gegangen, habe beim Fallenstellen geholfen und jeden Penny gespart und jetzt haben wir einen Kupferkessel und ein paar Waschzuber und einen richtigen Tisch und zwei Betten und eine Menge Dinge, die das Leben ein bisschen leichter machen. Wir müssen das Wasser mit dem Pferdewagen drei Meilen bis zu unserer Hütte bringen und mit Asche filtern, damit wir es zum Waschen und Trinken verwenden können. Zum Glück gibt es hier viel Holz.
Wir haben vor Kurzem angefangen, Holzkohle zu brennen, um eine zusätzliche kleine Einnahmequelle zu haben – eine Art »Gehaltsscheck«. Joe arbeitet mit der Spitzhacke und der Brechstange und ich stehe an der Schaufel. Wenn Du diesen Brief erhältst, wird mein Baby schon auf der Welt sein und wir werden dann etwas mehr Geld brauchen.
Nun, ich denke wirklich, Du solltest heiraten, Anton. Sei nicht anspruchsvoll, wenn Du Dir eine Frau suchst, und schau auf nichts anderes als auf ihr Herz und auf ihre Gesundheit. Auf ihr Herz in Deinem eigenen Interesse, auf ihre Gesundheit im Interesse Deiner Kinder.
Anton, ich glaube, aller Ehrgeiz ist falsch. Ich denke, wir leben, um glücklich zu sein, und die Welt, die Gott für uns geschaffen hat, zu genießen und froh und dankbar in ihr zu leben.
Joe zum Beispiel schreibt nicht oft, er ist nie viel zur Schule gegangen, er hat immer gearbeitet, seit er acht Jahre alt war, er hat sich durchgeschlagen und jeden Penny seiner Mutter gegeben, um ihr zu helfen, die kleinen Geschwister großzuziehen. Es gibt tausend Dinge, die nur er kann, die er besser versteht und fertig bringt als jeder andere. Sein Kopf und sein Herz sind unverdorben, er genießt alles, was schön ist, er liebt gute Bilder und kann vor Freude in die Luft springen, wenn er einen prachtvollen Himmel oder einen schönen Sonnenuntergang sieht. Er liebt die Sterne und die Bäume und ist überhaupt nicht anspruchsvoll oder ehrgeizig.
Vor einiger Zeit habe ich eine Füchsin gefangen, die Junge hatte, und Joe hat sich darüber sehr aufgeregt. »Die armen Kleinen«, sagte er den ganzen Tag. Am nächsten Morgen habe ich ihn gesehen, wie er zu ihrem Bau geritten ist, ungefähr eine Meile von hier, mit einer Dose in der Hand, und von diesem Tag an hat er sie jeden Tag gefüttert. – Das ist Joe.
Ich wünsche mir sehr, dass Du einmal hierher kommen kannst, falls wir hoffentlich imstande sein werden, dieses Land der Freiheit zu verteidigen, denn ich glaube nicht, dass es irgendwo auf der Welt mehr Glück geben kann als hier im Busch, in den endlosen Weiten des Outback, wo man sich selbst finden kann.
Nun, es ist spät geworden, furchtbar spät. Ich wünsche Dir alles Glück dieser Welt, lieber Anton, und schicke Dir viel Liebe.
Bettina
Ich wurde Anfang Mai geboren, als der trockene, kalte Wind hart über die steinige Prärie brauste. In der Blockhütte meiner Eltern, in die meine Mutter mich brachte, nachdem sie die Geburtsstation verlassen hatte, war der Wassertank seit Langem leer und das Gras längst aufgebraucht. Ende Juni waren die Pferde zu schwach, um jeden Tag von der Hütte bis zu den Herden zu gelangen, die ständig nach Futter suchten.
Da es immer weniger Wasserlöcher und kaum mehr Futterstellen gab, bedurften die Tiere einer permanenten Betreuung, um zu überleben. Hinzu kam, dass die Zugänge zu den Wasserstellen trügerisch sein konnten. Das schwindende Wasser hatte oft tiefen Schlamm hinterlassen, in dem die schwächeren Tiere stecken blieben. Die schwächsten mussten erschossen werden, bevor das Wasser durch sie verunreinigt wurde. So sparte man auch Futter für die stärkeren. Joe war vor allem damit beschäftigt, Plätz mit besserem Futter ausfindig zu machen. Er trieb die Herden durch die staubige Ebene in Gebiete, wo es noch Gras gab. Die Tiere taumelten über die öden Landstriche und verließen sich auf ihn. Da und dort schnitt er Zweige für sie ab, um sie zu füttern. Es war eine harte, verzweifelte Arbeit. Ihr Erfolg hing von der maximalen Ausnutzung minimal vorhandener Ressourcen ab. Jeder Wassertropfen, jedes Gramm Futter zählte. Die Qualität der Herde nach fünf Jahren Zucht würde von Joes Beurteilung abhängen und nicht zuletzt von seiner Fähigkeit, die fruchtbarsten Tiere zu retten.
Mein Vater beschloss, die Herden weiter weg zu bringen als üblich. Bevor er die Hütte verließ, hackte er Holz und karrte Wasser herbei, das er aus der letzten, tiefen Stelle am Fluss holte, die drei Meilen von uns entfernt war. Als die Zeit des Abschiednehmens kam, spazierten meine Eltern zum Fluss. Mein Vater blinzelte in den wolkenlosen Himmel und sagte: »Ich bete zu Gott für ein bisschen Regen, für ein paar Tropfen im Tank … Aber wenn es nicht regnet, Betty, dann musst du dieses Wasser nehmen. Es wird dich am Leben halten, bis ich zurückkomme.«
Ich kann mir nur vorstellen, woran meine Mutter dachte, als er fortritt – und in den Tagen danach. Ich kann mir nur vage ausmalen, wie sie sich fühlte, als sie das kostbare, klare Flusswasser in der langen Reihe von Kerosin-Blechkübeln betrachtete, die mein Vater angefüllt hatte. Tasse für Tasse verringerte sich ihr Vorrat von Tag zu Tag, bis sie schließlich selbst mit ihren leeren Kübeln zum nächsten Wasserloch gehen musste.
Sie betrachtete den Schlamm, der an ihren Füßen kleben blieb und den Zugang zu dem Wasserloch erschwerte, und die schmutzige Brühe darin. Dann nahm sie die leeren Kübel und ging wieder zurück nach Hause. Es würde zwei Stunden dauern, um zum Fluss zu gelangen. Ohne Feuer hätte sie mich nicht allein in der kalten Hütte lassen können, es wäre jedoch auch zu gefährlich gewesen, ein Feuer anzuzünden und mich damit allein zu lassen. So band sie mich vorsichtig auf den Rücken und nahm nur einen Kübel mit. Mit Wasser gefüllt, würde er ohnehin schwer genug, wenn nicht gar zu schwer für sie sein. Immerhin betrug der Fußmarsch von der Hütte zum Fluss etwa drei Meilen.
Beim ersten Mal gelang es meiner Mutter immerhin, einen halb gefüllten Kübel den halben Weg zurück zur Hütte zu schleppen. Dann ließ sie ihn stehen und wankte erschöpft mit mir nach Hause. Am nächsten Tag ging sie zurück und holte ihn. Auf diese Weise schaffte sie es, jeden zweiten Tag 15 Liter Wasser nach Hause zu bringen.
Manchmal entdeckte sie dabei Abdrücke von nackten Füßen im Staub, gelegentlich meinte sie auch, flüchtige Schatten abseits vom Weg zu sehen. Meine Mutter wusste, dass Aborigines in der Nähe lebten, sie hatte aber keine Ahnung, wie sie mit ihnen hätte in Kontakt treten können. Sie kamen nur dann zu der Hütte, wenn Joe, »der Boss«, zu Hause war. Ihre Zurückhaltung war eine Reminiszenz an die Periode der Angst im früheren Australien, die zwischen den isoliert lebenden weißen Siedlern und den »wilden Schwarzen« bestanden hatte.
Eines Tages waren ihre Kübel verschwunden, noch dazu die besten, deren Griffe so beschaffen waren, dass sie ihr beim Tragen nicht in die Hände schnitten. Fluchend und weinend kuschelte sie sich neben mich ins Bett, um mich zu wärmen.
Am nächsten Morgen erwachte sie von einem schwachen Geräusch oder vielmehr von dem sicheren Gefühl, dass irgendjemand ganz in der Nähe war, jemand, der atmete, sich leise bewegte …
Vorsichtig spähte sie durch einen Türspalt hindurch: Hier standen sie, ihre Lieblingskübel, in Reih und Glied und gefüllt mit frischem, klarem Wasser aus dem Fluss. Wie durch ein Wunder und auf mysteriöse Weise waren sie von da an Tag für Tag neu gefüllt, zwei weitere unendlich scheinende, trockene Monate lang.
Der September kam, der australische Winter war vorbei. Bettinas Geburtstag stand unmittelbar bevor. In ihrem früheren Leben hatte sie sich immer auf ihren Geburtstag gefreut. Sie teilte ihn noch dazu mit ihrem Vater, war selbst sein kostbarstes Geburtstagsgeschenk. Dieser glückliche Umstand war durchaus auch bezeichnend für ihr Verhältnis zueinander. Im Jahr 1942 war das nun anders. Ihr Geburtstag im September fiel nun in den Frühling, er stand für das Überleben nach einem australischen Winter voller Herausforderungen. Alte Überlieferungen aus dem Busch wussten davon zu berichten, dass Herden, die den Marsch durch den Winter bis Ende August überlebt hätten, nicht mehr sterben würden.
Schließlich kam auch Joe wieder nach Hause. Im Licht der untergehenden Sonne passierte er die Talsperre über den Fluss und hielt an, um sein Pferd noch einmal zu tränken. Da er wie die Aborigines Spuren lesen konnte, erfüllte sich sein Herz mit Angst: keine Spuren von meiner Mutter, keine Schleifspuren von Kübeln. Er wusste, dass das Wasser, das er für uns hinterlassen hatte, längst verbraucht sein musste – er wusste, dass wir beide tot sein mussten. Als er zum Haus kam, hatte er zu große Angst, um sofort ins Haus zu gehen. Ihm graute vor dem Bild, das er dort vorfinden würde, also ging er zur Rückseite der Hütte, holte Hacke und Schaufel und suchte nach einem Platz, wo er im Mondlicht ein Grab ausheben konnte.
Als er mit der Spitzhacke in der Stille der Dämmerung auf einen Stein stieß, erschien meine Mutter an seiner Seite. Sie war gekommen, um zu fragen, ob er nicht hereinkommen wollte – und weshalb er das riesige Loch ausheben würde. Mein Vater trat vom Rand des Grabes zurück und wischte sich mit dem Hemd das Gesicht ab. Er wischte den Schweiß, die Tränen und den Staub weg und sagte ein wenig ironisch: »Ich grabe dir natürlich ein Loch zu deinem Geburtstag, Betty.«
Auch nachdem einige heftige Gewitter ins Land gezogen waren und zumindest ein paar kostbare Tropfen Wasser in den Tank gespült hatten, weigerte sich meine Mutter, noch einmal allein zu bleiben. Die Siedler in der Nähe hätte sie nicht um Hilfe bitten können. Sie mochte zwar die Frau von Joes Chef, die immer freundlich zu ihr gewesen war, ihn selbst hielt sie jedoch für »einen Bastard«. Sie traute ihm nicht. Er würde sie wohl nicht verstecken und vor einer Verhaftung schützen, stellten die Behörden die entsprechenden Fragen. Meine Mutter urteilte sehr schnell und kategorisch über Menschen. Ihre Urteile mochten richtig oder falsch sein, davon abbringen ließ sie sich selten und einen Mittelweg kannte sie nicht.
Mein Vater war viel zu klug, um sich darüber auf eine Auseinandersetzung mit ihr einzulassen. Am Ende einer von Bettinas Tiraden sagte er meistens so etwas wie: »Du könntest recht haben!« Das konnte genauso gut bedeuten: »Du könntest dich irren!« Er hatte einen Weg gefunden, Dinge so zu formulieren, dass meine Mutter sie akzeptieren konnte. Auf diese Weise bestand zumindest eine geringe Chance, sie doch noch umzustimmen.
Mein Vater hatte seine Herden auf einer Weide zurückgelassen, auf der es genug Futter gab. Trotzdem musste er immer wieder nach ihnen sehen. So nahm er Kontakt mit den Aborigines aus der engeren Umgebung auf und machte sie offiziell mit meiner Mutter, »der Missus«, wie sie sie nannten, bekannt. Meine Mutter konnte sich noch gut an die junge Mutter und ihren vor Kraft strotzenden Sohn in der Geburtenstation erinnern und so freute sie sich über die neue Gesellschaft. Die Aborigines-Frauen waren von dem winzigen rosa Baby meiner Mutter fasziniert und hatten viele gute Tipps für sie, wie sie mich besser versorgen könnte. Mein Vater ermutigte sie, sie zu befolgen. Als die Tage endlich wärmer wurden und ich mich viel im Freien aufhalten konnte, schmierten sie mich etwa mit einer »Salbe« aus Waran-Fett und Asche ein, die mich vor der starken Sonne schützen sollte. Die olivfarbene Haut meiner Mutter war in der australischen Sonne bald sehr dunkel geworden.
So fanden meine Eltern mit der Zeit auch eine Lösung für dieses Problem: Lebte meine Mutter mit den Aborigines, solange Joe mit den Herden unterwegs war, wäre sie nicht mehr auf sich allein gestellt. Im Frühling, wenn Gras und Kräuter sprießten, kamen schließlich auch die wilden Tiere sehr nahe an die Behausungen der Menschen heran. Auch in solchen Fällen würden die Eingeborenen meine Mutter beschützen. Und falls die Notwendigkeit bestünde, konnten sie auch als Nachrichtenüberbringer fungieren. Alles in allem waren die Lebensumstände bei den Aborigines nicht viel primitiver als jene in ihrer eigenen Hütte. So kam es, dass meine Eltern über weite Strecken des Jahres getrennt voneinander lebten. Gelegentlich trafen sie einander in ihrer Hütte – und meine Mutter war in Sicherheit.
Bei den Aborigines lernte meine Mutter, Spuren zu lesen und im Busch zu jagen. Im Garten-Schulhaus der Villa Mendl hatte Bettina Kunstunterricht von Franz Cizek, einem bekannten Wiener Maler, erhalten. Auch diese Fähigkeiten kamen ihr zugute, denn sie malte nun mit den Eingeborenen und versuchte, ihre Techniken zu erlernen. Die Zeit im Outback war eine der glücklichsten in ihrem Leben, nur einen Vorfall gab es, bei dem Joe ihr vorwarf, versagt zu haben.
Meine Mutter erzählte ihm, wie sich ein Missionar dem Stamm genähert und mit den Eingeborenen gesprochen hatte. Mit weit aufgerissenen Augen hätten sie seiner Predigt gelauscht, in der von Feuer und Schwefel die Rede war, die auf Ungläubige herabregnen würden. Sie selbst hätte er ganz selbstverständlich für eine von ihnen gehalten.
Angewidert von seiner Tirade über die Lebensweise der Aborigines, hätte sie sich genötigt gefühlt, den Glauben der Aborigines zu verteidigen. Bald schon hätte sie sich in einer hitzigen theologischen Diskussion mit dem Missionar befunden. Sie hätte ihm in ihrem schönsten Englisch, das sie im Internat, dem Cheltenham Ladies College, gelernt hatte, widersprochen, durchsetzt von ihrem bezaubernden österreichischen Akzent. Der Missionar wäre außerordentlich erstaunt gewesen, hätte seine engstirnigen Ansichten nicht verteidigen können und wäre schließlich zu seinem Auto gestolpert und auf und davon gefahren.
Bettina schilderte Joe, beschwingt und begeistert von ihrem Sieg, das Erlebnis in allen Einzelheiten. Er reagierte wutentbrannt: »Wie kannst du es wagen, sie alle so in Gefahr zu bringen! Er wird es überall herumerzählen! Die ganze Stadt wird davon hören! Sie werden kommen und nach der neunmalklugen, falschen Eingeborenen suchen! Schaden aller Art kann daraus entstehen. Bitte, geh jedem, der kommt, aus dem Weg – versteck dich, geh in den Busch, sprich mit niemandem mehr!« Immer, wenn meine Mutter später von diesem Vorfall erzählte, presste Joe seine Lippen zu einer harten, geraden Linie zusammen und schüttelte nur den Kopf.
Angesichts des bevorstehenden Winters mussten meine Eltern Entscheidungen treffen, wie sie weitermachen wollten. Mein Vater besaß viele Pferde. Es gab vor allem drei, von denen er sich nicht trennen wollte, die Trabrennstuten, die die Grundlage seiner Zucht bildeten. Schließlich beschloss Joe, seine Arbeit als Großfarm-Manager aufzugeben. Meine Eltern wollten zusammen mit mir in einem Planwagen leben, den Joes Stuten ziehen würden. Wir würden von Ort zu Ort fahren, wären zusammen, aber nicht sesshaft – und hoffentlich sicher.
Entlang der Routen der Herden zogen wir dahin, meine Eltern verdingten sich als Gelegenheitsarbeiter auf großen Farmen: Sie trieben Herden zusammen, errichteten Zäune, nähten Säcke für die Weizenernte usw. Wir zogen Richtung Osten, in Gebiete, wo es mehr Regen gab. Vor vielen Jahren hatte mein Vater einmal als Holzfäller in der Umgebung von Dorrigo gearbeitet. Seit damals liebte er Berge und Wälder. So trieb er unsere Pferde an, den Wagen über die Moonbi Range, eine Gebirgskette in New South Wales zu ziehen. Hier wollten meine Eltern, wenn möglich, ihr Leben einrichten.
Im Jahr 1944 hatten meine Eltern einiges an Geld angespart, meine Mutter erwartete wieder ein Kind, und so beschlossen sie, irgendwo sesshaft zu werden. Die Umstände meiner Geburt wollten sie kein zweites Mal erleben. Also nahm mich meine Mutter mit nach Sydney, um die beiden letzten Monate der Schwangerschaft bei ihrer Schwester Marianne zu verbringen. Die Lieblingsschwester meines Vaters, Tess, lebte ebenfalls in Sydney. Gemeinsam unternahmen sie Einkaufstouren, gingen zu Pferderennen oder genossen einfach die Zeit, die sie miteinander hatten.
Fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Australien fühlte sich meine Mutter inzwischen sicherer hier. Sie verfügte über eigenes Geld, hatte meinen Vater an ihrer Seite und war umgeben von einem großen Netzwerk, das aus Familie und Freunden bestand. Von der scharfen Anwendung der Internierungsgesetze für feindliche Ausländer war man abgekommen und die Angst meiner Mutter davor, in Sydney entdeckt zu werden, verblasste bei ihrer Erinnerung an meine Geburt in einer gottverlassenen Siedlung ohne richtige medizinische Versorgung und angesichts der Perspektive, ein neugeborenes Kind nach Hause in unser fahrendes Zeltlager zu bringen.
Anders als ich wurde Dawn in einem richtigen Spital aus roten Backsteinen nicht weit von Mariannes Haus geboren. Ich freute mich sehr über meine kleine Schwester und erinnere mich noch gut an ihren weichen Körper und an das Gefühl, sie beschützen zu wollen, das sich fast augenblicklich bei mir einstellte. Leider hat sie oft gerade mein Wille, sie zu beschützen, in nicht unerhebliche Gefahr gebracht. Ich war von Anfang an daran gewöhnt, mich nützlich zu machen, die Welpen zu füttern, die Hühner wegzusperren und Ähnliches. Meine Fürsorge übertrug ich nun auf Dawn, unsere Mutter erzählte gerne davon: Wenn sie etwa ein Bad nahm, legte sie Dawn zwischen zwei Polster aufs Bett. Als Dawn während einer solchen Situation einmal zu quengeln begann, zog ich sie aus dem Bett und schleifte sie an den Beinen ins Badezimmer. Sie hat unverletzt überlebt und mir wurde eingeschärft, das nie, nie wieder zu tun. Ob ich das verstanden habe? Bestimmt! Das nächste Mal, als ich sie quengeln hörte, legte ich sie vorsichtig in eine halb geöffnete Schublade und machte sie zu. Dawn war ein äußerst robustes Baby. Sie hat auch das überlebt.
In der »Agricultural Gazette« wurde ein kleines Haus in Tarpoly zum Kauf angeboten. Es lag in der Nähe von Barraba, in den westlichen Ausläufern des Great Dividing Range Gebirges. Das Grundstück hieß Mostyn Vale. Joe und Bettina kauften es.
Die Grundfläche umfasste etwa 130 Hektar Land. Einen Teil davon konnte man mit einem Pferd und einem einfachen Pflug bebauen. Auf den fruchtbaren Ebenen neben dem Bach bauten wir Luzerne für die Heuernte an, außerdem Melonen, Tomaten, Salat und andere Gemüsepflanzen. Alles, was wir nicht selbst verbrauchten, schickten wir mit dem Zug nach Barraba und verkauften es dort. Die Hügel boten Schutz und schattigen Unterstand für die Tiere und das Weideland war gut. Es gab einen Bach, der ganzjährig mit frischem Quellwasser gespeist wurde, und eine winzige Holzhütte mit zwei Zimmern und zwei Veranden, eine vorne und eine hinten. Ein einziger Wassertank, den wir geradezu als Heiligtum betrachteten, sammelte das Regenwasser aus der Dachrinne. Das hüfthohe Holzgestell, auf dem er stand, diente als Waschtisch und hielt eine emaillierte Waschschüssel und eine Tasse zum Wassertrinken für uns bereit. Wir hatten unsere eigene Wasserversorgung!
Die Küche war aus Wellblech errichtet und hatte eine offene Feuerstelle, sie befand sich außerhalb des Hauses. Lange, flache Steinplatten neben dem Herd bildeten bequeme Sitzplätze. Es gab auch zwei hölzerne Küchensessel, einer davon wurde von ein paar Stücken Maschendraht zusammengehalten. Sonst nutzten wir leere Kerosinbehälter, die mit mehrfach zusammengefalteten Getreidesäcken bedeckt waren, als Sitzgelegenheiten.
Das war unser neues Heim, in das wir im Mai 1945, als der Krieg endlich vorbei war und Namen auf Dokumenten Menschen nicht mehr verdammen und verurteilen konnten, einzogen.
* Unübersetzbarer australischer Dialekt-Ausdruck in Richtung Analverkehr und Sodomie. Am ehesten umschreibbar mit »Geh zur Hölle!«, »Geh zum Teufel!«, dem Götzzitat usw.