Читать книгу Das Volk das auf den Bäumen lebte - Priska Lenherr - Страница 7

Die Geburt

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Leise stöhnend erwachte Uhma. Sie lag zusammengekuschelt auf der Seite, ihren Kopf auf die Schulter gebettet, in ihrem Nest, das sie sich am Vorabend hoch oben in einem Baum aus ineinander verwobenen Zweigen geflochten und mit Blättern ausgepolstert hatte. Alle aus ihrer Sippe, sogar die Kinder, flochten jeden Abend ein eigenes Schlafnest aus den Zweigen der ausgewählten Schlafbäume, denn nur die kleinen Säuglinge schliefen zusammen mit ihren Müttern.

Uhma verspürte ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch. Sie holte tief Luft, öffnete die Augen und spähte durch das Blätterdach in den Himmel. Es war noch dunkel und einige flackernde Sterne flimmerten durch die Lücken zwischen den Blättern, die sich sanft im Wind bewegten. Es war kühl gegen das Ende der Nacht. Die Zeit kurz vor Tagesanbruch war die kälteste, die es im Wald gab. Die Dunkelheit um sie her atmete ein vielschichtiges, reiches Leben, von dem sie nichts sehen konnte. Aus der Ferne kam der Duft einer kühlen Brise zu ihr herübergeweht.

Uhma kuschelte sich in ihr Blätternest, in dem sie sich sicher fühlte, denn es lag hoch oben über dem Waldboden, wo sich des Nachts die gefährlichen Raubkatzen herumtrieben. Wieder verspürte sie ein Ziehen, das ihren prallen Unterleib durchlief. Sie schloss die Augen und wartete ab. Es war nicht das erste Mal für sie. Wenn alles gut ging würde sie schon bald ein Kleines in ihre Arme schließen.

Seit einigen Tagen fühlte sie sich schwerfällig und ungelenk, es war Zeit für das Kleine, zu kommen. Am Vorabend hatte es ihr, wie schon seit mehreren Tagen, Mühe bereitet, auf den Baum zu steigen und sich ein Nest zu flechten.

Die leichte Brise, die durch die Baumkronen strich, wiegte ihr Nest auf den Ästen ganz sanft hin und her; auf und ab, fast unmerklich wippte es ein wenig mit den Ästen mit. Uhma war sehr feinfühlig und besaß einen ausgeprägten Gleichgewichtssinn, so dass sie jede noch so leichte Bewegung des Nestes wahrnahm, die dafür sorgte, dass sie sich wie auf Wolken gebettet fühlte.

Durch die Lücken der im Wind leise raschelnden Blätter der oberen Äste beobachtete sie den Sternenhimmel, diese eigentümliche tief dunkelblaue Schattierung der Welt über ihr, in der unzählige große und kleine, nahe und ferne Sterne blinkten und flackerten, während sie liegen blieb und geduldig abwartete. Eine Wehe nach der anderen durchzog ihren Unterleib und krampfte diesen zusammen.

Über ihr befanden sich keine anderen Nester. Um sie herum hatten sich die anderen Mütter ihre eigenen Nester geflochten. Weiter unten im Baum waren die Nester der Männer und der größeren Jungen, die dafür sorgten, dass sich die Frauen mit ihren Kindern sicher fühlten während der Nacht, weil kein Feind an ihnen vorbeigekommen wäre, ohne dass sie es gemerkt hätten.

Plötzlich weiteten sich Uhmas Augen, als wieder ein starkes Ziehen ihren Unterleib durchlief und Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen hervorbrach. Sie öffnete den Rachen und ein gurgelnder Laut entrang sich ihrer Kehle. Jetzt würde es nicht mehr sehr lange dauern, das wusste sie. Wenn die Fruchtblase platzte und das Fruchtwasser aus ihr herauslief, war das Kind bereit, auf die Welt zu kommen, denn nun konnte es nicht mehr in ihrem Leib bleiben, weil die schützende, nährende und wärmende Flüssigkeit es nicht mehr umgab. Es musste bald geboren werden und selber zu atmen beginnen. Dies war der Lauf des Lebens, das im Wald zumeist hoch oben in den Baumkronen begann und auch dort oben wieder endete.

Ein heller Streifen zartrosafarbenen Lichtes in der Ferne kündete den neuen Tag an. Schnell verblassten die Sterne und der rosige, immer breiter werdende Streifen färbte sich in ein dunkles, flammendes Orange, das in ein helles, fast pastellfarbenes Orange verblasste, dort, wo es die Dunkelheit des abziehenden Nachthimmels berührte, gefolgt vom klaren, türkisfarbenen Licht des erwachenden Tages, das schnell höher stieg und sich mehr und mehr ausbreitete, so dass der dunkle Nachthimmel immer weiter in die gegenüberliegende Richtung des Himmelsgewölbes verschwand.

Uhma betrachtete das Schauspiel des sich verfärbenden und heller werdenden Himmels mit Staunen durch die Lücken im Blätterdach, während Welle um Welle durch Ihren Leib lief und ihr Unterleib sich wieder und wieder zusammenzog. Dann, nach mehreren keuchenden Atemzügen, stieg ein Ächzen aus ihrer tiefsten Kehle, und plötzlich spürte sie, wie das Kleine in Bewegung kam. Auf dem Rücken liegend drückte sie ihren Unterleib in die Höhe, spreizte die Beine und stützte sich mit ihren Füssen seitlich ihres Körpers ab, um dem Kleinen den Raum zu geben, den es brauchte und um für sich selber eine angenehmere Stellung zu finden, während sie presste, um ihrem Kind auf die Welt zu helfen.

Uhma war wie alle ihrer Sippe sehr gelenkig, es bereitete ihr keine Mühe, die Beine ganz zu spreizen und ihren Unterleib dabei in die Höhe zu drücken. Sie musste darauf achten, dass ihr Kleines nicht einfach aus dem Nest fallen würde bei der Geburt und hielt deswegen ihr Gesäß, solange es ging, in der Mitte des Nestes in die Höhe.

Mit kundigen Fingern tastete sie nach ihrem Muttermund, der schon ein wenig geöffnet war. Dann fühlte sie mit den Fingern genauso wie mit ihren Körpergefühlen, wie sich dieser nun weit öffnete und in ihr das kleine Köpfchen darin Einlass fand.

Sie presste mit ganzer Kraft, um dem kleinen Erdenwesen zu helfen, seinen Weg in die Welt zu finden. Dann begann sie am ganzen Unterleib zu zittern und ein mit weißlichem Schleim überzogenes Köpfchen mit dünnen, schwarzen Haaren kam zwischen ihren gespreizten Beinen zum Vorschein und drängte sich weiter durch den Muttermund, um dann in dieser Stellung zu verharren, als die Wehe wieder abklang.

Willkommen Kleines, komm jetzt, heute ist ein guter Tag, um geboren zu werden, dachte sie, als sie den Oberteil des Köpfchens, der nun, nach der nächsten Wehe und ihrem helfenden Pressen schon draußen war, zärtlich streichelte. Ganz sanft zupfte sie an den Haaren des Köpfchens.

Komm heraus Kleines, komm, ermutigte sie das Kleine in Gedanken, während sie das runde Köpfchen weiter streichelte. Wieder und wieder durchliefen starke Wellen ihren Körper und sie presste jedes Mal mit aller Kraft, so dass das Köpfchen noch ein bisschen mehr heraus schaute.

Dann, als fast das ganze Köpfchen draußen war, rollte sie sich nach vorne und setzte sich mit gespreizten Beinen und zurückgelehntem Oberkörper hin, den Muttermund in der Mitte des Nestes vor sich ausgestreckt. Das hervorstehende Köpfchen streichelte sie weiter zärtlich und achtete gut darauf, es nicht aus den Händen zu lassen. Zu groß war die Gefahr auf dieser Höhe, dass es hätte aus dem Nest fallen können.

Als Uhma spürte, dass das Kleine wieder in Bewegung kam, wusste sie, dass es nun kommen würde, denn so war es die anderen Male auch gewesen, als sie geboren hatte. Sie stellte sich nun auf alle Viere, ihr Hinterteil leicht abgesenkt und in der Mitte des Nestes, während sie sich an dessen Rand mit Händen und Füssen festhielt. Noch einmal presste sie mit aller Kraft, und das Kind glitt aus ihrem Muttermund hinaus: Mit einem Schwall von Flüssigkeit wurde es in ihr Nest geboren. Dann war auch der ziehende Schmerz vorbei.

Sogleich drehte sich Uhma um und leckte und strich der Kleinen den weißlichen Schleim vom Gesichtchen. Da war sie nun. Ein vollkommen geformtes, winzigkleines Mädchen mit dem Körper und den Gesichtszügen, die der Art ihrer Ahnen entsprachen, lag auf den Blättern im Nest. Uhma setzte sich hin, so dass das Kleine zwischen ihren gespreizten Beinen lag und entfernte dem Neugeborenen den Schleim vom Gesichtchen, den Händchen und dem Körper, dann nahm sie es in ihre Hände, indem sie ihm unter die Arme griff. Sodann hielt sie ihr Neugeborenes zärtlich doch mit festem Griff vor sich hin und schaute mitten in die glänzend blauen, offenen Augen des schweigenden Säuglings. Gleichzeitig dachte sie: Du sollst wissen, dass du von mir geliebt und unterstützt wirst, kleine Tochter, die du mich aus deinen Kulleräuglein anschaust.

Die Kleine hatte ganz dünne Beinchen und Ärmchen mit winzigen Füßchen und Händchen, die sich in der neuen Freiheit kräftig bewegten. Als ihre Mutter legte Uhma der Kleinen ihren Mund über die winzigen Lippen und dachte dabei: Ich vermische meine Luft mit der Luft von allem Leben, damit sie in deinen Körper strömt, meine Kleine. Du wirst niemals allein sein, denn du bist mein Kind, du gehörst zu mir. Zusammen gehören wir zu unserer Sippe, und unsere Sippe gehört zu allen Leuten von unserer Art. Wir sind Urmütterchens Sippe, Kleines, und du bist jetzt ein Teil von uns. Sei willkommen bei mir und in meinem Leben in der großen Vielfalt des Lebens im schönen Wald. Sei Willkommen bei mir.

Sanft strich sie mit ihren Lippen über die Lippen des Mädchens, lockte ihren Mund mit dem ihren, berührte ihre Nase unendlich sanft mit der ihren, strich mit ihren weichen Lippen über das zarte Gesichtchen ihrer Tochter.

Es war ein sehr inniger Augenblick, den Uhma mit ihrer Kleinen inmitten des großen Waldes erlebte. Hoch oben in einer Baumkrone war sie umgeben von den anderen Müttern und den Kindern und geschützt durch die Männer der Sippe, so dass sie sich voll und ganz dem Vorgang der Geburt ihres Kindes hatte hingeben können.

Eine Geburt war immer ein großes Ereignis in der Sippschaft. Alle Erwachsenen empfanden große Ehrfurcht, wenn ein neues Lebewesen in Urmütterchens Sippe hineingeboren wurde, denn sie wussten um die Kostbarkeit des Lebens. Doch allen voran war es die gebärende Mutter selbst, die ein tiefgründiges Erlebnis hatte, das sie ihrer Lebtag nicht mehr vergessen würde.

Seit undenklichen Zeiten waren es immer die Frauen gewesen, die durch das Gebären zu Müttern wurden. Urmutter nach Urmutter, die einer unvorstellbar alten Blutslinie entstammten, hatten die Mütter aus Urmütterchens Sippe den Kindern das Leben geschenkt, so dass die Sippe weiter fortbestehen und gedeihen konnte.

Während unvorstellbar langen Zeiträumen, Zeitalter um Zeitalter, hatte sich Urmütterchens Sippe fortgepflanzt und weiter entwickelt, so dass sie heute waren, wer sie waren. Weil die Mütter die Kinder auf die Welt brachten und damit die Zukunft der Sippe bewahrten, waren sie das Wertvollste in der Sippe und wurden dem entsprechend geachtet und anerkannt. Die Männer schützten die Mütter und Ihre Kinder gar mit ihren eigenen Leben und fanden ihren Lebenssinn darin.

Durch das Gebären und Aufziehen der Kinder waren die Frauen der Sippe die Hüterinnen der Menschlichkeit, während die Männer sie alle, insbesondere die Mütter mit ihren Kindern, seit Urzeiten so gut sie nur konnten vor allerlei Gefahren beschützten, so dass sie die Hüter der Sicherheit waren. Dies war die Art und Weise der Sippe. So bestand sie seit undenklichen Zeiten und so konnte sie weiter bestehen.

Diese Lebensart, diese Art und Weise des Zusammenlebens und Zusammenwirkens hatte sich während all der vielen Zeitalter, die Urmütterchens Sippe bereits im weiten Wald lebte, entwickelt. Diese Lebensart war die bestmögliche Anpassung der Ahnen der Frauen und der Männer aus Urmütterchens Sippe an das Leben im Wald gewesen. Während unendlich langen Zeiträumen hatte sich eine kleine Anpassung zu der anderen gefügt, so dass sie jetzt die waren, die sie waren. Im Wald erlebten sie zuweilen ein sehr schönes Leben, auch wenn dieser ein sehr gefährlicher und während der Regenzeiten manchmal ein sehr ungemütlicher Ort war.

Damit die Sippe gesund und stark bleiben, sich weiter entwickeln und bestmöglich fortpflanzen konnte, wurden die Mütter mit ihren Kindern allzeit bevorzugt behandelt. Ihnen standen nicht nur die sichersten Lebensräume sondern auch die besten Schmauseplätze zu. Warum dies so war, das war allen Erwachsenen aus Urmütterchens Sippe vollkommen klar, so dass es niemals Streitereien darum gab, dass die Mütter mit ihren Kindern Zugang zu denjenigen Früchten bekamen, die am meisten des stärkenden und heilenden Sonnenlichtes zum Reifen erhalten hatten.

Die Mütter mit ihren Kindern waren nicht nur die Zukunft sondern auch der Mittelpunkt ihrer Gesellschaft, die von den Männern wie von einem schützenden Ring umgeben wurde, indem sie sich stets an den Rändern der versammelten Gruppen aufhielten. Alle Erwachsenen aus Urmütterchens Sippe leisteten so ihren Beitrag zum Gedeihen und Fortbestehen der Sippschaft.

Während Uhma das Kind sanft streichelte und die Geburtsrückstände rund um seine Augen und die Nase ableckte, legte sie immer wieder ihren Mund über den des kleinen Mädchens, um ihren Atem mit dem ihrer Tochter zu verbinden. Das Neugeborene nahm die Liebkosungen seiner Mutter selig hin und genoss sie augenscheinlich.

In diesem Augenblick wurde sich Uhma bewusst, dass ihr Atem wieder stoßweise ging. Nun wurde der restliche Inhalt ihres Schosses ausgestoßen. Noch einmal zog sich ihr Unterleib schmerzhaft zusammen und Uhma presste den Mutterkuchen heraus, den sie dann jedoch für den Augenblick nicht weiter beachtete, obwohl das kleine Mädchen durch die Nabelschnur nach wie vor damit verbunden war.

Im sanften Licht des aufsteigenden Morgens drehte sich Uhma auf die Seite und betastete das kleine Mädchen, das nun als Antwort ein leises Pfeifen von sich gab, ein kaum hörbares Fiepen, doch Uhmas Ohren hörten jedes noch so kleine Geräusch. Als Mutter war sie mit allen Fähigkeiten der Mütter in Urmütterchens Sippe bestens ausgestattet. Einerseits verfügte sie über ein äußerst feines Gehör und andererseits war sie als sehr feinfühlige Frau in der Lage, gefühlsmäßig jeden noch so kleinen Stimmungswechsel ihrer Kinder wahrzunehmen, sobald einmal ein inniges Band zwischen dem Kind und ihr bestand.

Als sie die ersten feinen Töne ihrer Tochter hörte, wurde Uhma, ganz ohne ihr Zutun, von einem derart starken, freudigen Glücksgefühl durchströmt, dass sie meinte, sie müsste vergehen. Uhma war gerne eine Mutter, und die Gefühle für jedes ihrer neugeborenen Kinder hatten sie jeweils mit großer Liebe ausgefüllt, das unterschied sich auch jetzt nicht von den vorangegangenen Geburten. Doch staunte sie von neuem, wie sehr so ein kleines Wesen an ihr Herz rühren konnte.

Während der vielen Jahre, die Uhma schon im Wald lebte, hatte sie unzählige verschiedene Gefühle erlebt, doch keines konnte an das unglaubliche Glücksgefühl heranreichen, das sie in diesem einen Augenblick durch ihre kleine Tochter empfand und erlebte, genauso, wie sie es auch bei ihren anderen Kindern erlebt hatte.

Es war ein Gefühl des Einklangs, mit der Kleinen, mit sich selbst, mit der ganzen Welt des großen Ganzen. Es war ein wärmendes Gefühl der Geborgenheit und der Vollkommenheit, und sie gab sich ihm voll und ganz hin. Es war, als würde sie innerlich zerfließen. Zerfließen in ein warmes, liebevolles Glücksgefühl, das jeden noch so kleinen Teil ihres ganzen Seins ausfüllte, sie in diesem Augenblick ganz und gar erfüllte, so dass ihr Glanz, der sie schon während der langen Schwangerschaft eingehüllt hatte, noch ein klein wenig mehr zu strahlen begann. Jede der Mütter aus Urmütterchens Sippe, die diese Gefühle erlebte, die größer schienen als sie selbst, befand sich im Einklang mit sich selbst und dem Wunder des Lebens.

Uhma setzte sich auf und betrachtete ihr Kleines, während sie es weiter herzte und küsste. Im heller werdenden Tageslicht wischte sie das Neugeborene, das als nasses, schwarzes Bündel in ihrem Schoss lag, liebevoll und vorsichtig mit Blättern ab, bis der blutige Schleim verschwunden und es ganz sauber war. Nun war der Körper des kleinen Mädchens mit feinen, schwarzen, ziemlich langen Haaren bedeckt, die es einhüllten.

Das Kind begann sich zu rühren. Die Mutter musterte das neugeborene Wesen, während sie es weiter sanft streichelte und leise Töne von sich gab, die das Kleine beruhigen sollten. Als es trocken war, standen seine Haare flauschig vom Körper weg. Es hatte ovale Ohren und ein winziges, verschrumpeltes Gesichtchen, das schwarz und haarlos war, mit der zarten Haut der Neugeborenen. Seine Lippen waren rot und seine blauen Augen standen offen. Es schien Uhma so weise anzuschauen, als hätte es schon viel von der Welt gesehen. Wieder durchströmte sie ein warmes Gefühl der Zuneigung.

Zuerst merkte sie, dass der kleine gewölbte Oberkörper und der Bauch ein warmes Herz und einen gesunden Appetit verhießen. Während sie das Kind sanft streichelte, gab das Neugeborene leise gurgelnde Geräusche von sich, als wolle es seine Stimmbänder erproben.

In diesem glückseligen Augenblick stieg die Sonne hinter den Baumwipfeln am Rande der Erde auf und schickte ihre leuchtenden Strahlen über das endlose Blätterdach. Rasch stieg sie in die Höhe und sandte ihre warmen Strahlen hier und dort durch die Lücken im Blätterdach, so dass es schnell spürbar wärmer wurde. Die Luft schmeckte frisch und war mit den blumigen Düften des Morgens getränkt.

Schreie von Vögeln hallten durch den Wald, und von weither konnte Uhma das durch den Wald hallende, gedämpfte Trompeten eines Elefanten hören. Wohl waren es die Stimmen der Waldelefanten, die am allerweitesten durch den Wald hallten. Nun wimmerte das Kleine und Uhma hob es mit ihren Händen vor ihr Gesicht – und dann weiteten sich seine Augen, als es Uhma ins Gesicht spähte. Ein zitterndes Ärmchen, nicht dicker als ein dünner Zweig, reckte sich und grapschte mit den fünf kleinen Fingerchen nach ihrem Gesicht. Es war eine so rührende Geste, dass Uhma das Kleine an ihre Brust legte, ein warmes fließendes Gefühl im Herzen, und es noch enger an sich zog.

Sanft hielt sie das Neugeborene in ihren Armen, während die unfassbar zarten Lippen des Säuglings suchend über ihre Haut strichen. Sie herzte ihr Kleines ganz sanft und wiegte sich aufrecht sitzend hin und her, als das Kleine sie mit ihren Ärmchen umfasste und sich an den langen Haaren ihres Haarkleides festklammerte und nach ihrer Brustwarze suchte. Als es diese dann gefunden hatte, spürte Uhma die winzigen Lippen darauf und wie es zu saugen versuchte.

Uhma sperrte ihren Mund auf und ließ die Lippen schmatzend auf- und zuklappen, bis es dem kleinen Mädchen gelang, von ihrer süßen Milch zu trinken. Uhma fühlte eine Eintracht, die so stark war, dass sie gerührt leise Töne von sich gab. Mit einem seligen Ausdruck auf seinem Gesichtchen schloss die Kleine ihre Äuglein und trank einige Schlucke, bis sie satt war, dann schlief sie erschöpft ein, ganz fest an Uhmas Haarkleid geklammert.

Noch immer war die Kleine, die selig schlief, durch die Nabelschnur mit dem Mutterkuchen verbunden, der als Nachgeburt etwa faustgroß war und im Nest lag. Uhma hob den blutigen Fruchtkuchen auf und biss ein Stück davon ab. Er schmeckte wie blutgetränktes Fleisch, das sie manchmal ass. Das meiste davon war weich und ein wenig schwammig, so dass sie fast den ganzen Fruchtkuchen mühelos zerkauen konnte. Nur die dünnen, weißen Häutchen waren zäh und konnten kaum zerkauft werden, so dass Uhma diese einfach Stückweise hinunterschluckte.

So nahm sie viele der Nährstoffe, die aus ihrem eigenen Körper stammten und die dem Kind das Wachstum ermöglicht hatten, wieder zu sich. Auch würde das herumliegende, blutige Stück Gewebe keine Fressfeinde durch die Gerüche anlocken.

Sie wusste nicht, warum sie es tat. Sie tat es einfach ihrer Mutter und den anderen Müttern nach, die sie schon dabei beobachtet hatte, wie sie den Fruchtkuchen nach der Geburt aufgegessen hatten. Beim Gedanken an ihre Mutter dachte sie auch an ihre Tochter Ua, die nicht weit von ihr entfernt in ihrem eigenen Nest war. Sie spürte Uas Blicke auf sich, und wandte ihr kurz das Gesicht zu, um sie wissen zu lassen, dass auch sie an sie dachte. Als sie den neugierigen Blick des Mädchens bemerkte, wusste sie, dass ihre Tochter eines Tages, wenn es so weit war, den Fruchtkuchen nach der Geburt ebenso wie sie aufessen würde.

Eine Schwangerschaft und eine Geburt verlangten dem Körper einer werdenden Mutter viel ab. Dass der übrig gebliebene Teil davon von der Mutter nach der Geburt aufgegessen wurde, gab ihrem ausgelaugten Körper einen Teil der eigenen Kraft zurück, die das kleine Kind nun nicht mehr brauchte. Die Mutter erholte sich dadurch schneller und war somit in der Lage, den Säugling mit guter, nahrhafter Milch zu nähren. Als Uhma das letzte, übrig gebliebene Stück zerkaute, hing nur noch ein langes Stück Nabelschnur vom winzigen Bäuchlein der Kleinen, die eintrocknen und mit der Zeit von selbst abfallen würde.

Erst jetzt gab Uhma nach, um sich einen Augenblick lang auszuruhen. Sie atmete auf. Ihre Lungen dehnten sich weit in der frischen Luft der herangetragenen Brise, die mit den Düften des erwachenden Tages angefüllt war. Sie fühlte sich geradezu berauscht von Wohlbehagen und Zufriedenheit, da alles gut gegangen war bei der Geburt. Sie schaute auf ihr kleines Mädchen, das sich an sie klammerte, als wolle es nie mehr loslassen.

Voller Stolz betrachtete Uhma ihre kleine Tochter und ließ ihre Gedanken frei schweifen. Dabei kam ihr ihre eigene Mutter in den Sinn. Wie lange war es schon her, dass sie sich nicht mehr gesehen hatten? Obwohl mehrere Jahrzehnte vergangen waren, erinnerte sie sich nach wie vor sehr gut an ihre eigene Mutter Uhla. Sie war sehr gut zu ihr gewesen und hatte ihr fast alles beigebracht, was sie über den Wald und seine Schätze und Gefahren wusste. So sprach sie in Gedanken zu ihrer kleinen Tochter: Uhla – ich nenne dich Uhla - nach meiner eigenen Mutter. Du bist meine Tochter Uhla.

Ihre Gedanken untermalte sie mit beruhigenden, leisen Tönen, die sie von sich gab. Beim Klang ihrer Stimme öffnete das kleine Mädchen die blauen Augen und stieß auf; in ihrem Magen rumorte die getrunkene Muttermilch. Sanft streichelte sie das Frischgeborene und gab sich den Gedanken an ihre eigene Mutter hin. Sie dachte nicht mehr so oft an sie wie früher, doch immer wieder einmal.

Uhma mochte den Gedanken der Erinnerung an ihre eigene Mutter, die sie vor so langer Zeit, als sie selber die erste körperliche Reife erlangte, verlassen hatte und der sie seither nie wieder begegnet war, obwohl sie nicht vergessen war.

Vor ihrem inneren Auge sah sie ein Bild ihrer Mutter vor sich, die sie mit gütigen dunkelbraunen Augen anschaute. Dann schaute sie wieder auf das kleine Mädchen. Seine jetzt noch strahlend blauen Augen würden schon nach wenigen Tagen beginnen, grau zu werden und dann, später, ebenso dunkelbraun wie ihre eigenen oder diejenigen ihrer Mutter.

Ein kleiner wehmütiger Schmerz durchzog ihr Herz beim Gedanken an die verlorene Liebe von der eigenen Mutter. Der Abschied von einer geliebten Person war immer ein Schmerz, auch wenn dieser mit der Zeit heilen konnte. Uhma wusste nicht, ob ihre Mutter noch lebte. Soviel Zeit war vergangen, dass sie sich nicht mehr sicher war, ob noch ein gedankliches Band zwischen ihnen beiden bestand oder ob es einfach ihre eigenen Gedanken und Erinnerungen waren, wenn sie an die geliebte Mutter dachte.

Dies war das Schicksal aller Mädchen in Urmütterchens Sippe. Sobald ein Mädchen die erste frauliche Reife erreichte, verließ sie die eigene Mutter und Wandergruppe, um sich einer anderen, ihr noch unbekannten Sippe anzuschließen, mit der sie nicht unmittelbar verwandt war, die jedoch auch zu Urmütterchens Sippe gehörte.

Im Wald gab es viele verschiedene Sippen, und alle Mädchen verließen ihre eigene Sippschaft, um sich einer anderen, nicht unmittelbar verwandten Sippe anzuschließen, sobald sie die erste geschlechtliche Reife erlangten. Nur die Jungen blieben für das ganze Leben bei ihren Müttern, denn dies war die unabänderliche Lebensart in Urmütterchens Sippe, die schon seit ewigen Zeiten eingehalten wurde.

So wurde frisches, nicht unmittelbar verwandtes Blut miteinander gemischt, wenn die Töchter von einem fremden Mann empfingen und eigenen Nachwuchs erwarteten. Auf diese Art und Weise war es auch sicherer, dass ihre Kinder gesund und stark werden konnten. In der eigenen Sippe war dies nicht möglich, denn ein Mann hätte ihr eigener Vater oder Halbbruder sein können.

Noch immer streichelte Uhma ihr Neugeborenes. Es gefiel ihr, dass sie nun mit dem Namen, den sie ihrer Tochter gegeben hatte, eine tägliche Erinnerung an die eigene Mutter haben würde. Es war, als würde sich damit ein Kreis schließen, der ewige Kreis von Müttern und Töchtern, die das Fortdauern der Sippe ermöglichten, indem sie Kinder austrugen und auf die Welt brachten.

Uhla war Uhmas dritte Tochter und nun das neue Geschwisterchen ihres Sohnes Uhlo und ihrer Tochter Ua, die beide zusammen mit ihr durch den Wald wanderten. Uhlo, ihr Sohn, war bereits erwachsen, doch würde er für immer bei ihr bleiben.

Ua, ihre Tochter, würde schon bald die erste körperliche Reife erreichen und sie dann ebenso verlassen, wie sie schon von ihrer ältesten Tochter, Uhra, verlassen worden war. Sie war wenige Jahre nach Uhlos Geburt fortgezogen, um sich einer anderen, ihr noch fremden Sippschaft anzuschließen.

Uhma war heute, nach all den Jahren, die sie gemeinsam mit dieser Sippe durch den Wald gewandert war, in ihrer Lebensmitte angelangt. Auch sie war dereinst als Fremde angekommen. Uhma zählte 32 Jahre und war zu einer hochrangigen und einflussreichen Frau herangereift. Genau wie ihr Sohn Uhlo würde auch sie diese Sippe nicht mehr verlassen, so lange sie lebte.

Das Volk das auf den Bäumen lebte

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