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WAS IST WÜRDEVOLLES LEBEN?

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WENN ICH IMMER WIEDER HÖRE UND LESE, dass nur ein selbstbestimmtes Leben das einzig würdevolle Leben ist, heißt das dann im Umkehrschluss, dass Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit oder Hilflosigkeit unwürdig sind? Wir Menschen sind immer abhängig: Wir starten als Kind bzw. Baby in größter Abhängigkeit von unseren Müttern und Eltern, später sind wir von ihnen abhängig, weil wir von ihnen Sicherheit, Nahrung und Bildung erhalten. Und wenn wir erwachsen sind, wünschen wir uns liebevolle Beziehungen, Berührungen und natürlich Herausforderungen. Über alle Lebensalter hinweg brauchen wir Sicherheit, Nahrung und mehr Dinge, die uns die anderen gewähren. Es gibt keine Unabhängigkeit von anderen Menschen – und der Mensch will sie auch nicht, er ist dazu nicht gemacht. Er entwickelt sich in Beziehungen.

In diesem Zusammenhang gewinnt die aktuelle Einsamkeitsdebatte an Aufmerksamkeit. Gerade in den entwickelten Gesellschaften und dort besonders im städtischen Bereich sind viele Menschen einsam. Einsamkeit ist das quälende Bewusstsein eines inneren Abstands zu den anderen Menschen und die damit einhergehende Sehnsucht nach Verbundenheit in befriedigenden, sinngebenden Beziehungen. Dies bedeutet, dass einsame Menschen darunter leiden, dass ihr Leben keine Resonanz erfährt. Sinnkrisen sind die Folge. Inzwischen kennt man auch die schädlichen Auswirkungen von Einsamkeit, die zum Beispiel für das Herzkreislaufsystem genauso schädlich wie das Rauchen ist.

Wofür steht nun dieser überhöhte Gedanke der Autonomie, dieser Prozess, der gerade stattfindet? In der Schweiz, in der ich derzeit lebe, gibt es eine relativ liberale Regelung der Sterbehilfe. Viele wünschen sich diese Option, verbunden mit der Vorstellung, selber bestimmen zu können, wie es zu Ende geht. Immer wieder treffe ich aber auch auf Angehörige, die nicht wollen, dass die Mutter oder der Großvater ihrem Leben ein Ende setzen. Natürlich ist es für sie nicht leicht, die Krankheit oder das Leiden der Eltern oder Großeltern mitzuerleben. Aber sich davon zu machen und damit die Familie zu verlassen, ist das wirklich die Lösung?

Sicher müssen wir in Anbetracht des medizinischen Fortschritts die Frage diskutieren, ob es eine Lebenserhaltung um jeden Preis geben muss. Innerhalb der Medizin findet dies schon statt.

Zu einer Demenzkrankheit gehört, dass wir unsere Orientierung in der Welt verlieren. Somit bedroht die Demenz gewissermaßen per definitionem unsere Selbstständigkeit, unsere Kontrolle und Autonomie. Die Demenz steht für mich so gesehen symptomatisch für das Gegenteil dessen, worauf man in unserer heutigen Zeit so großen Wert legt – nämlich darauf, alles unter Kontrolle zu behalten. Sie ist somit wohl die paradigmatische Krankheit unserer Zeit und löst damit in gewisser Weise den Herzinfarkt ab.

Demenz - Wenn das Leben entgleitet

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