Читать книгу Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät - Pseudonymous Bosch - Страница 12
ОглавлениеEin schlimmer Traum
Nachts auf einem Friedhof.
In einer Berglandschaft. Nahe an einem See.
Man sieht nicht viel. Es gießt in Strömen.
Überall ist es nass. Es tropft. Und tropft.
Eine fremdartige Melodie ertönt. Sie scheint von weit her zu kommen und doch klingt sie unglaublich nah.
Wie der Gesang von Feen oder Sylphen.
Als ob tausend leise Stimmchen in unseren Ohren klängen.
Über uns flattert eine Krähe durch den Regen und verschwindet krächzend in der Dunkelheit.
Für Sekunden erhellt ein Blitzstrahl die Grabsteine zu unseren Füßen, aber sie sind schon so vom Alter verwittert, dass auf ihnen keine Spur eines Namens oder eines Datums mehr zu erkennen ist. Es sind keine Grabmäler mehr, es sind nur noch Steinbrocken.
Was sie bedecken, das ist ihr Geheimnis.
Hektisch huscht eine Maus zwischen den Steinen umher. Als wolle sie sich aus einem Labyrinth befreien. Aus einer tödlichen Falle.
Bald kommen noch mehr Mäuse hinzu. Sie kämpfen sich schwimmend durch den Schlamm. In ihrem verzweifelten Versuch zu entkommen klammern sie sich mit den Krallen aneinander fest.
Unwillkürlich fällt unser Blick auf die Stelle, von der sie zu fliehen suchen. Ein offenes Grab, auf dem ein zerborstener Grabstein liegt. Als der Blitz ein zweites Mal den Himmel erleuchtet, erkennt man die schartigen Kanten des Steins.
Der Wind trägt die fremdartige, unheimliche Melodie zu uns – bis ein Donnerschlag sie erstickt.
Während wir noch schauen, kippt der gebrochene Grabstein vornüber – und fällt mit einem klatschenden Geräusch in den Schlamm. Zurück bleibt ein klaffendes Loch. Klumpen von Lehm fliegen heraus. Ein Vulkan, der Schlamm speit.
Zuerst taucht eine Hand aus der Grube auf, dann die zweite – beide sind riesengroß. Halt suchend krallen sie sich in die nasse Erde.
Und dann: eine Nase.
Zumindest halten wir es für eine Nase, aber ebenso gut könnte es ein Blumenkohl sein …
»Kassandra …!«
Wir schauen nach unten. Eine einsame, hilflose Maus ruft uns etwas zu – ihr Ruf klingt, als käme er von weit, weit her.
»Steh auf, Kass – es ist schon spät!«
Die Stimme hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Stimme unserer Mutter …
Schaudernd hob Kass den Kopf von ihrem Kissen.
Sie war jetzt Mitglied in einer gefährlichen Vereinigung, rief sie sich in Erinnerung. Nämlich der Mieheg-Gesellschaft. Oder zumindest würde sie es bald sein. Also konnte sie sich doch nicht von so einem läppischen Traum Angst einjagen lassen.
Wie hatte doch gleich Pietro, der alte Magier, in seinem Brief geschrieben? Wenn sie und Max-Ernest erst einmal den Eid der Mieheg-Gesellschaft abgelegt hätten, dann müssten sie »der Gefahr und der Not ins Angesicht schauen«. Und sie müssten »allen Befehlen gehorchen, ohne Fragen zu stellen«.*
Wenn sie nicht einmal ihren eigenen Träumen ins Auge sehen konnte, wie sollte sie dann ihren wirklichen Feinden, Dr. L. und Madame Mauvais zum Beispiel, entgegentreten? Oder den Meistern der Mitternachtssonne?
Aber das merkwürdige Lied ging ihr einfach nicht aus dem Sinn, ja es verfolgte sie geradezu.
Immer wieder.
Jede Nacht hatte sie einen anderen Traum, aber immer kam dieses Lied darin vor.
Warum nur?
»Kassandra!«
Ihre Mutter rief sie von unten. Kass konnte zwar nicht jedes Wort verstehen, aber sie wusste genau, was ihre Mutter sagte:
Steh auf, es ist schon spät! Ich muss zur Arbeit ( … oder zum Yoga … oder zu einer Besprechung). Auf dem Herd stehen Haferflocken ( … oder Müsli auf der Anrichte … oder eine Waffel im Toaster). Denk dran, dass du heute eine Mathe- Probe hast ( … oder ein Buch vorstellen musst … oder Oboen-Unterricht hast). Ich hab dich lieb!
Zurzeit schloss ihre Mutter fast jeden Satz mit den Worten Ich hab dich lieb!. Es war wie ein Satzzeichen oder wie ein nervöses Zucken.
»Ich hab dich lieb!«
Na bitte.
Die Tür fiel ins Schloss, ihre Mutter war aus dem Haus gegangen.
Kass hatte keine Lust aufzustehen, also lag sie nur da und starrte an die Wand gegenüber.
Die Wand des Schreckens, wie ihre Mutter sie nannte.
Hunderte Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften klebten an der Wand und alle berichteten über schreckliche Unglücke oder drohende Katastrophen …
Erdbeben. Vulkanausbrüche. Tsunamis. Tornados.
Es hingen auch Bilder von Seevögeln an der Wand, deren Gefieder ölverklebt war, und von Eisbären, die dem Verhungern nahe auf schmelzenden Eisbergen standen. Von Atompilzen und Giftpilzen, von Killerbienen und tödlichen Schimmelsporen.
Auf Postern und Schautafeln konnte man lesen: WIE MAN FROSTBEULEN BEHANDELT … Der Heimlich-Handgriff … DREI ANZEICHEN FÜR EINE VERBRENNUNG DRITTEN GRADES … Das Erste-Hilfe-ABC
Und mittendrin: ein Artikel über einen Bären, der Camper in den Bergen in Angst und Schrecken versetzt hatte. BÄR ODER BIGFOOT?, lautete die Überschrift.
Die meisten Menschen – wie Kassandras Mutter zum Beispiel – würden eine solche Wand ziemlich beunruhigend finden. Auf Kass hingegen wirkte sie überaus beruhigend.
Normalerweise jedenfalls.
Als Überlebenskünstlerin wollte Kass auf das Schlimmste vorbereitet sein. Sie glaubte, sie würde alles überstehen, wenn sie nur wusste, was auf sie zukam.
Ein Hurrikan? Verbarrikadiere die Fenster. Eine Dürre? Sammle Wasservorräte. Feuer? Keine Panik. Atme möglichst keinen Rauch ein, suche einen sicheren Fluchtweg.
Aber das alles waren ja natürliche Katastrophen, und Kass fragte sich unwillkürlich, was sie täte, wenn sich jemals eine übernatürliche Katastrophe ereignen würde.
Das war das eigentlich Beunruhigende an ihren Träumen. Sie waren seltsam und irrational. Sie ergeben keinen Sinn, wie ihr Freund Max- Ernest zu sagen pflegte. (Max-Ernest redete zwar ununterbrochen, aber alles, was er sagte, war immer sehr logisch.) Ein Erdbeben war vielleicht nicht mit letzter Sicherheit vorauszusagen, aber wenigstens gehorchte es den Naturgesetzen.
In den meisten ihrer Träume kamen ein monsterhaftes Geschöpf und ein schauriger, alter Friedhof vor. Wie soll man sich auf so etwas vorbereiten?
Nicht dass Kass ernsthaft geglaubt hätte, ihre Träume würden wahr; nein, abergläubisch war sie nicht. Es war einfach nur so, dass die Träume ihr so unglaublich echt vorkamen.
»Auf diesem Friedhof muss etwas sein, was du dir wünschst«, hatte Max-Ernest sofort vermutet, als sie ihm davon erzählte. »Ein Traum ist die Erfüllung eines Wunsches. Behauptet jedenfalls Sigmund Freud. Wie findest du das?«*
»Aber warum sollte ich mir ein Monster wünschen?«, hatte Kass zurückgefragt. Max-Ernests Eltern waren Psychologen – deshalb nahm sie an, dass er sich auskannte.
»Na ja, ich weiß nicht, ob man tatsächlich behaupten kann, du hättest dir das gewünscht. Ich glaube, Träume sind wie Dinge, von denen man sich nicht eingesteht, dass man sie gern hätte. Weil man sich dann schuldig fühlt oder weil’s peinlich ist oder sonst was. Man nennt es das Unbewusste«, hatte Max-Ernest erklärt. »Ist alles ist ein bisschen verwirrend.«
Kass lag also im Bett und dachte über seine Worte nach. Sie griff unter ihr Kopfkissen und holte ein kleines ausgestopftes Ding hervor, das sie darunter versteckt hatte.
»Wer bist du? Was bist du?«
Kassandras Sockenmonster war ein kleines, kurioses Geschöpf aus alten Socken und Überbleibseln aus der Altwarenhandlung der Großväter. Kass hatte es eines Tages wie im Fieberrausch zusammengebastelt, als sie an nichts anderes mehr denken konnte als an das Wesen, das durch ihre Träume geisterte. Ihr Sockenmonster war grün und violett, sah aus wie ein Kobold und hatte eine große Knollennase, die aus den Fersen der Socke bestand, Glotzaugen aus Kronkorken und Schlappohren, die sie aus den Zungen ihrer Tennisschuhe gemacht hatte. Kass mochte die Ohren ganz besonders, sie waren fast so groß, aber längst nicht so spitz wie ihre eigenen.
Da es ganz und gar aus Altmaterialien bestand, war das Sockenmonster ein Super-Überlebenskünstler, und Kass glaubte, wenn sie es nur fest genug an sich drückte, dann gingen auch seine Überlebenskräfte auf sie über.
Manchmal jedenfalls.
Ansonsten war es einfach nur schön, das Monster an sich zu drücken*.
Vielleicht, dachte Kass, würden ihre schlimmen Träume ja aufhören, wenn erst ihr neues Leben – ihr geheimes Leben, das Leben in der Mieheg-Gesellschaft – begonnen hatte.
Wie jeder Überlebenskünstler hatte Kass sich morgens nach dem Aufstehen ein strenges Programm auferlegt. Als Erstes zog sie ihren Rucksack unter dem Bett hervor und überprüfte mit größter Sorgfalt dessen Inhalt. Der Rucksack war eine Spezialanfertigung, die ihr Pietro geschickt hatte, und er hatte ein paar besondere Vorzüge. So ließ er sich beispielsweise in ein Zelt oder in einen Fallschirm verwandeln. Trotzdem bewahrte Kass auch noch einige ihrer alten Überlebensutensilien in dem Rucksack auf, zum Beispiel Kaugummi, den man sehr gut als Klebstoff verwenden konnte, oder Traubensaft, den sie als Tinte zu benutzen pflegte.
Sie wusste nicht, welchen Auftrag ihr die Mieheg-Gesellschaft übertragen würde – alles, was sie über diese Gesellschaft wusste, war, dass es ihre Aufgabe war, das Geheimnis zu bewahren –, aber Kass war in jedem Fall bereit dazu.
Als Nächstes nahm sie jeden Winkel des Hauses unter die Lupe, um sich zu vergewissern, ob nicht vielleicht jemand, ganz gleich ob Freund oder Feind, nachts ins Haus eingedrungen war.
Sie überprüfte
1. die winzigen Flusen Zahnseide, die sie an den Griffen ihrer Schreibtischschublade angebracht hatte, damit niemand sie unbemerkt öffnen konnte,
2. die vertrocknete tote Biene, die sie eines Tages gefunden und sofort strategisch auf dem Fenstersims platziert hatte,
3. alle Fenster, Spiegel und Türen, um nachzusehen, ob nicht vielleicht jemand eine verschlüsselte Botschaft in den Staub geschrieben oder mit Zahncreme oder Rasierschaum hinterlassen hätte,
4. und noch ein paar andere Orte, die ich aber hier nicht verraten will, für den Fall, dass die Falschen dies lesen.
Erst nachdem Kass sicher sein konnte, dass im oberen Stockwerk alles war, wie es sein sollte, gestattete sie sich, nach unten zu gehen, wo sie für gewöhnlich als Erstes am Küchenschrank haltmachte. Kass hatte so eine Vorahnung, dass sie die nächste geheime Botschaft der Mieheg-Gesellschaft in einer besonders alten Schachtel mit Buchstaben-Cornflakes finden würde.
Doch als Kass an diesem Morgen die Küche betrat, stieß sie einen ganz unüberlebenskünstlerischen Überraschungsschrei aus. Die Haftmagnete am Kühlschrank waren nicht mehr an Ort und Stelle. Sie klebten nicht mehr dort, wo sie noch am Abend zuvor geklebt hatten (Kass hatte sie nach ihrer Farbe, nicht alphabetisch angeordnet); das konnte sie mühelos schon von der Tür aus erkennen.
In zwei Sätzen war Kass dort und stand nun atemlos vor dem Kühlschrank, darauf gefasst, eine verschlüsselte Nachricht zu entziffern oder zu einem geheimen Treffpunkt geschickt zu werden oder die Einzelheiten eines Auftrags zu erfahren. Oder alles drei auf einmal.
Doch dann war ihre Enttäuschung groß.
Auf dem Kühlschrank stand in Magnetbuchstaben: Hab dich lieb.
Darunter klebte ein handschriftlicher Zettel.
Bin zur Arbeit gegangen. Im Toaster ist eine Vollkornwaffel. Vergiss nicht die Exkursion zum Gezeitenbecken morgen – weißt du, wo dein Anorak ist? Ich finde ihn nicht.
M.
M stand für Mom oder Mutter. Es konnte aber auch Mel heißen. Mel war die Kurzform von Melanie, denn so hieß ihre Mutter.
Also wohl kaum ein Geheimcode.
Niedergeschlagen zerknüllte Kass den Zettel. Warum war ihre Mutter so, wie sie war?
Und wann würde sich endlich die Mieheg-Gesellschaft bei ihr melden?
* Du wirst bemerkt haben, dass ich die Kapitel dieses Buchs rückwärts zähle. So wie beim Countdown für einen Raketenstart. Oder bei einer Bombenexplosion. Mit ein bisschen Glück wird das Buch zum Schluss in die Luft fliegen. Dann muss ich es wenigstens nicht zu Ende schreiben.
* Falls du diesen Brief nicht kennst, empfehle ich dir, ihn zu lesen. Er ist in einer Geheimschrift verfasst und mit den Initialen P. B. – Pietro Bergamo – unterzeichnet. Kass und ihr Freund Max-Ernest hatten diesen Brief, der auf eine angelaufene Fensterscheibe geschrieben war, entdeckt. Aber du kannst ihn auch am Ende des letzten Kapitels meines ersten Buchs, Kass, Max-Ernest und das Geheimnis des Faulen-Eier-Gestanks, oder wie immer es auch heißt, nachlesen. Es bleibt dir überlassen, ob du das ganze Buch liest (was ehrenhaft wäre) oder ob du nur den Brief liest und dann das Buch ins Regal zurückstellst (was im Prinzip auf Diebstahl hinausläuft).
* Freud war der Erfinder des freudschen Versprechers – das ist etwas, was in der untersten Schublade des Gedächtnisses versteckt ist, und wenn man etwas Bestimmtes sagen will, dann sagt man aus Versehen das, was in der Schublade lag. Aber Schnitte – ich meine natürlich bitte – nimm alles, was dieser Freud gesagt hat, nicht ganz so wörtlich. Vielleicht meint er ja auch nur, dass ein Traum die Erfüllung eines Punsches ist!
* Ja, ich stimme dir zu. Ein knuddeliges Kuscheltier an sich zu drücken – selbst wenn es sich dabei um ein Recycling-Monster handelt –, hat mit Überlebenskunst nicht gerade viel zu tun. Wenn Kass wüsste, dass ich das erzähle, wäre sie bestimmt ziemlich entsetzt. Also bitte vergiss das sofort wieder – so wie auch alles andere, was ich noch erzählen werde.