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Kapitel neunundzwanzig

Es juckt


Max-Ernest juckte es. Unter seinem Zeh. Um genau zu sein, unter dem zweiten Zeh seines linken Fußes, wenn man von außen zählt. Und Max-Ernest nahm alles immer sehr genau.

Nein, warte, das stimmt ja gar nicht.

Es juckte unter seiner mittleren Zehe. Ja, die mittlere Zehe. Die war es.

Max-Ernest versuchte, mit der Zehe zu wackeln, ohne die anderen zu bewegen. Aber noch ehe er sie richtig bewegt hatte, war der Juckreiz schon – oh nein! – unter seine vierte Zehe gewandert …

Nein, verflixt noch mal. Der Juckreiz war schon wieder weitergewandert. Diesmal nach oben. An die große Zehe. Nein, an die ganze Fußspitze. Es war, gestand Max-Ernest sich ein, ein wandernder Juckreiz.

Die allerschlimmste Art von Juckreiz überhaupt.

Sein Gehirn befahl seiner Hand, den Fuß zu kratzen – aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht bewegen. Seine Hand steckte hinter seinem Rücken fest und kam nicht los.

Er schlug die Augen auf. Es war dunkel in dem Raum, trotzdem wusste er sofort, dass er in keinem seiner zwei Schlafzimmer war. Es roch hier anders.

Irgendwie muffig und staubig. Aber auch salzig. Wie das Meer.

Wo war er bloß?

»Max-Ernest«, flüsterte Kass. »Bist du wach?«

Oh, dachte er erleichtert. Wie es aussah, hatte er wohl bei Kass übernachtet. Aber weshalb kam es ihm dann so vor, als ob ihr Zimmer – schaukelte?

»Wie spät ist es?«, fragte er zurück. »Mich juckt es fürchterlich. So als würde irgendein Ungeziefer an meinem Bein hochkrabbeln. Vielleicht habe ich auch Ausschlag. Oder ein Ekzem. Aber normalerweise bekomme ich keine Ekzeme an den Füßen, also –«

»Psst! Vergiss das mit dem Ekzem. Weißt du nicht mehr, dass wir auf einem Schiff mitten auf dem Meer festsitzen und sie uns den Fischen zum Fraß –«

»Hey, wir sind ja gefesselt!«

»Endlich hat er’s kapiert! Hör auf, dich zu bewegen, das tut meinen Händen weh!«

»Tut mir leid.« Jetzt, da er darüber nachdachte, fiel Max-Ernest auf, dass auch ihm die Hände wehtaten. Genau genommen tat ihm alles weh. Er war sich gar nicht mehr sicher, was schlimmer war: der Schmerz oder der Juckreiz.

»Was, denkst du, sollen wir machen?«, fragte Kass.

»Wieso fragst du ausgerechnet mich? Du bist doch diejenige, die für Fluchtpläne zuständig ist.«

»Ja, aber jetzt habe ich keinen. Und mein Rucksack liegt dort drüben in der Ecke. Ich komme nicht an meine Utensilien ran.«

»Also werden wir einfach sterben?«

Kass gab darauf keine Antwort. Das brauchte sie auch nicht.

Einen Moment lang saßen sie in ängstlicher Stille da.

Dann hatte Max-Ernest eine Idee.

»Ich habe dir doch gesagt, hör auf, dich zu bewegen!«, fauchte Kass.

»Ich weiß – ich prüfe gerade, ob das Seil irgendwo locker ist. Ich habe das Buch von Houdini gelesen und –«

»Houdini?«

»Ja, Harry Houdini, der Entfesselungskünstler. Der berühmteste Magier aller Zeiten.« »Ich weiß, wer das ist!«

»Er behauptet, der Fehler, den alle machen, wenn sie jemanden fesseln, ist, dass sie zu viel Seil verwenden. Dann gibt es immer eine lockere Stelle. Siehst du …«

Max-Ernest zog an dem Seil, um es ihr zu beweisen.

»Und jetzt zieh deine Schuhe aus.«

»Was? Wie?«

»Du musst sie einfach mit den Füßen abstreifen. Dann kann man sich leichter von dem Seil befreien. Houdini hat seine Schuhe immer ausgezogen, ehe er seine Entfesselungs-Nummer begann.«

»Ich fasse es einfach nicht, dass du jetzt eine Houdini-Nummer ausprobieren willst«, murmelte Kass, aber sie streifte die Schuhe ab, wie er es gesagt hatte. Sie war ein bisschen, aber auch wirklich nur ein bisschen von ihm beeindruckt.

Max-Ernest erklärte ihr, dass Houdini in seinen Entfesselungsnummern niemals mit Zaubertricks oder Sinnestäuschungen gearbeitet hatte; er verließ sich nur auf seine Kraft – und ein paar Tricks. Zum Beispiel konnte er seinen Brustkorb in einer ganz besonderen Weise dehnen. In der Regel brauchte Houdini weniger Zeit, um sich zu befreien, als es Zeit brauchte, ihn zu fesseln.

Max-Ernest brauchte viel länger als Houdini, nämlich siebenundzwanzig Minuten. Zum einen lag das daran, dass er als Entfesselungskünstler nicht geübt war. Zum anderen kam ihm Kass ständig in die Quere, weil sie dauernd herumzappelte. Bis er ihr schließlich sagte, sie solle doch endlich stillhalten.

Gerade als das Seil sich etwas lockerte, hörten sie Schritte.

Schnell fesselten sie sich wieder fester und taten so, als schliefen sie.

Vom Eingang aus leuchtete sie ein Matrose mit einer Taschenlampe an – dann ging er zum Glück wieder weg.

Max-Ernest machte weiter und schließlich fiel das Seil ganz zu Boden. Keuchend und zittrig kamen sie auf die Beine.

»Geschafft. Wie findest du das?«, flüsterte Max-Ernest.

»Du hast es geschafft. Wie findest du das? Schätze, die ganzen Bücher über Zauberei waren doch keine so große Zeitverschwendung.« Sie lächelte im Dunklen.

Max-Ernest lächelte zurück. Es kam nicht oft vor, dass Kass zugab, sich geirrt zu haben.

Kass hob ihren Rucksack auf und begann, ihre Überlebensutensilien, die auf dem Boden verstreut lagen, wieder einzusammeln.

Als sie ihre Taschenlampe ertastet hatte, knipste sie sie sofort an.

Der Ort, an dem sie sich befanden, war, wie sie jetzt sehen konnten, eine Art Frachtraum. Um sie herum lagen stapelweise geplünderte Schätze – als wären sie doch auf einem Piratenschiff.

Ein Archäologe hätte hier vermutlich die Geschichte der Mitternachtssonne erforschen können. Ägyptische Statuetten mit Schakalköpfen lagen herum, ebenso große griechische Vasen, die mit Schlachtenbildern geschmückt waren. Helme und Rüstungen aus dem Mittelalter befanden sich neben gotischen Gemälden und Kristallpokalen.

An einer Wand standen die Überbleibsel eines Laboratoriums aus dem sechzehnten Jahrhundert: alte Reagenzgläser und Karaffen, Waagen und Gewichte. Und an der gegenüberliegenden Wand standen die Überbleibsel einer Bibliothek aus dem achtzehnten Jahrhundert: alte Landkarten und Globen, Stapel von Büchern aller Größen und Formate.

Viele der Bücher waren an den Rändern angekohlt – so als hätte man sie aus dem Feuer gezogen. Und das hatte man ja wirklich: aus dem Feuer im Spa der Mitternachtssonne. Aus dem Feuer, das Kass und Max-Ernest höchstpersönlich gelegt hatten, als sie ihren Klassenkameraden Benjamin Blake befreiten.

»Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen, solange es draußen noch dunkel ist«, sagte Kass.

»Ich weiß – leuchte mir nur einen Augenblick lang.«

Max-Ernest hielt ein großes, in Leder gebundenes Buch in der Hand. Auf smaragdgrünem Grund war in goldenen Lettern die Überschrift geprägt: Lexikon der Alchemie.

Kass richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Buch und Max-Ernest blätterte darin, bis er den Eintrag fand, den er suchte.

»Sieh dir das an …«

Homunculus

Die meisten Menschen halten einen Homunculus einfach für einen kleinen Menschen oder einen Zwerg. Aber für einen Alchemisten hat das Wort eine besondere Bedeutung: Für ihn ist es ein Mensch, der von einem Menschen erschaffen worden ist.

Im Mittelalter und auch noch später waren viele Alchemisten davon überzeugt, dass man einen winzigen Menschen in einer Flasche erschaffen könne – wenn man nur im Besitz der richtigen Rezeptur sei. Einige berüchtigte Alchemisten behaupteten sogar, dass ihnen dies tatsächlich gelungen sei.

Aus den Überlieferungen ist nicht klar ersichtlich, welche Zutaten sich am besten eignen. Doch waren alle davon überzeugt, dass man die Flasche in Schlamm oder in Mist vergraben müsse, damit der Homunculus gedeiht …

Völlig vor den Kopf geschlagen starrten unsere beiden Freunde auf die Seite, die vor ihnen aufgeschlagen war.

Fraglos waren sie verblüfft, von einem Menschlein zu lesen, das in einer Flasche großgezogen wurde. Aber es waren nicht nur die erklärenden Worte, die sie entsetzten, es war auch das dazugehörige Bild.

Es war nur eine einfache Schwarz-Weiß-Zeichnung, so klein, dass sie auf eine Streichholzschachtel gepasst hätte. Aber groß genug, dass sie es sahen: die gleichen Glubschaugen, die gleichen Schlappohren, die gleiche große Nase, der gleiche viel zu kleine Körper.

Es gab keinen Zweifel: Der Homunculus sah genauso aus wie das Sockenmonster.

»Hast du den schon mal irgendwo gesehen?«, flüsterte Max-Ernest.

»Nein, ich schwör’s dir.«

»Wie ist das möglich …«

»Woher soll ich das wissen? Es ist mir selbst ein Rätsel.«

Und es stimmte – sie hatte noch nie zuvor von einem Homunculus gehört. Sie war genauso überrascht wie Max-Ernest.

Kass ließ ihre Träume in Gedanken noch einmal vorbeiziehen und erschauerte, als der unheimliche Ton von dem Friedhof ihr in den Sinn kam.

Plötzlich hörten sie Stimmen.

Kass knipste die Taschenlampe aus.

»Bist du dir ganz sicher, dass wir diesen Homunculus dazu brauchen? Gibt es keine andere Möglichkeit?«

Dr. L.

Seine Stimme klang so nahe, als befände er sich hier bei ihnen im Raum.

Kass und Max-Ernest kauerten sich hinter eine große Truhe und wagten es kaum, Luft zu holen.

»Natürlich bin ich mir sicher! Wann hätte ich mich je geirrt?«, erwiderte Madame Mauvais schrill.

»Wo sind die beiden?«, flüsterte Max-Ernest Kass ins Ohr.

Kass hielt ihm den Mund zu. Er nickte und schob ihre Hand beiseite: Hab schon kapiert.

»Du warst überzeugt, dass dieses Ding uns helfen würde, ihn zu finden – dieses Klangprisma. Und, hat es das?«

»Niemand sonst weiß, wo das Grab ist!«, sagte Madame Mauvais, ohne auf seine Frage einzugehen. »Der Homunculus ist der Schlüssel zum Geheimnis.«

Sie konnten unmöglich in diesem Raum sein, dachte Kass. Sie hatte keine Schritte gehört, keine Tür, die sich öffnete. Und doch …

»Was ist mit den beiden Kindern?«

Max-Ernest deutete in der Dunkelheit auf die Truhe vor ihnen: Dr. L.s Stimme schien direkt aus ihr herauszukommen.

»Was soll schon mit ihnen sein?«, fauchte Madame Mauvais. Auch ihre Stimme kam aus der Truhe. »Offenbar haben sie nicht die geringste Ahnung …«

Zitternd knipste Kass ihre Taschenlampe wieder an. Wenn man sie entdeckte, dann wäre alles aus. Aber sie musste Gewissheit haben.

Nein. Sie waren allein. Sie und Max-Ernest atmeten erleichtert auf.

Die Truhe war wuchtig und dunkel und groß genug, dass – nun ja – alle möglichen Sachen darin Platz fanden.

»Komm schon«, flüsterte Max-Ernest, »mach sie auf.«

»Nein, du …«, sagte Kass ungewohnt zurückhaltend.

Max-Ernest schüttelte energisch den Kopf.

Kass zuckte die Schultern – und ließ die Schnappverschlüsse aufspringen.

Ich bin mir nicht sicher, was die beiden in der Truhe vorzufinden glaubten – Dr. L. und Madame Mauvais vielleicht, die wie Vampire in einem Sarg lagen?

Was sie tatsächlich sahen, war: Nichts. Niemand.

Nur einen Ball, der auf einem Tuch lag. Zumindest hielten sie das, was sie sahen, für einen Ball. Du hättest natürlich sofort gewusst, was es ist.

(Weil wir gerade bei dem Thema sind, würdest du mich, bitte schön, dazu beglückwünschen, dass ich über das Klangprisma – von Dr. L. und Madame Mauvais gar nicht zu reden – schreibe, ohne mit der Wimper zu zucken? Ich denke, das war sehr mutig von mir, vielen Dank.)

Die Stimmen waren immer noch zu hören, jetzt sogar noch lauter.

»Wenigstens werden sie uns keine Scherereien mehr machen … nicht wahr, liebster Doktor?«

Ein grausames Lachen war die Antwort. »Ja, dafür werden wir schon sorgen.«

Kass blickte hinter die Truhe, aber da war nicht mal eine Maus zu sehen, geschweige denn ein böser Doktor oder eine unheimliche, alterslose Frau.

»Glaubst du, dass es hier so etwas wie ein Lüftungssystem gibt, durch das man ihre Stimmen hört?«, fragte sie Max-Ernest.

»Höchst unwahrscheinlich. Das ist ein Schiff und kein Bürogebäude. Und ich sehe auch nirgendwo einen Lüftungsschacht. Es sei denn …«

»Es muss der Ball sein«, sagte Kass und beugte sich vor, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

»Du meinst, es ist ein Abhörgerät? Eine Art Babyfon? Oder ein Walkie-Talkie? Aber das ist doch Unsinn – das Ding hat vermutlich nicht einmal eine Batterie. Es sieht aus wie eine Handvoll zusammengeknüllte Strohhalme …«

Kass nahm den Ball in die Hand und leuchtete ihn mit ihrer Taschenlampe an; er sah merkwürdig aus und schön und ganz anders als alles, was sie bisher gesehen hatte.

»Ich finde, das Ding sieht aus, als käme es aus dem Meer.«

»Wie ein Stück von einem tropischen Riff? Ja, das könnte sein«, sagte Max-Ernest. »Man kann sich vorstellen, wie Hunderte winzige Fische durch diese winzigen Löcher hinein- und hinausgeschwommen sind.«

Kass hielt den Ball ans Ohr und drehte ihn hin und her. Und tatsächlich hörte sie mit einem Mal alle möglichen Geräusche: Max-Ernests Atem dicht neben ihr. Die Wellen, die an den Schiffsrumpf klatschten. Sogar den Gesang eines Wals weit draußen im Meer.

Es war, als würde man am Senderwahlknopf eines Radios drehen und einen Sender nach dem anderen einstellen.

War dieser Ball wirklich ein Abhörgerät? Er sah viel zu schön aus, um irgendwelchen kriminellen Zwecken zu dienen.

»Hör dir das mal an …« Sie hielt den Ball Max-Ernest ans Ohr.

»Was? Sag bloß, es klingt nach Ozean? Das tun doch sonst nur Muscheln. Das liegt nämlich an der Art und Weise, wie die Luft in sie hineinströmt und – oh, wow!«

»Ich werde das Ding mitnehmen«, sagte Kass und nahm ihm den Ball aus der Hand.

»Aber das ist Diebstahl!«

»Na und? Sie haben uns entführt. Sie sind Mörder. Gut möglich, dass wir sogar ein Menschenleben retten, wenn wir das Ding mitnehmen.«

»Hm, ich weiß nicht, ob das alles einen Sinn ergibt«, sagte Max-Ernest, aber er tat nichts, um sie davon abzuhalten.

Auf Zehenspitzen schlichen sie aus dem Frachtraum und weiter nach oben bis zum Kabinendeck. Dort gingen sie einen langen, schmalen Gang entlang, dessen Boden mit einem dicken weißen Teppich ausgelegt war; an den Mahagoniwänden brannten kleine Lämpchen, die ein gelbliches Licht warfen.

Als sie an einer Reihe verschlossener Türen vorbeikamen, hielt Kass den Ball ans Ohr und hörte die Mannschaft schnarchen. Ganz leise gab sie Max-Ernest zu verstehen, dass alles in Ordnung sei.

Der Gang führte zu einem verschwenderisch ausgestatteten Salon, der ganz in Weiß möbliert war, abgerundete Wände und einen glänzenden schwarzen Fußboden hatte.

Als sie ihr eigenes Spiegelbild auf dem Boden erblickte, fiel ihr einen schrecklichen Augenblick lang wieder das Spa der Mitternachtssonne ein. Dort hatte sie sich auch gerade im Spiegel betrachtet, als Madame Mauvais angeschlichen kam und scheußliche Bemerkungen über ihre Ohren gemacht hatte (sie hatte nämlich ganz richtig vermutet, dass Kassandras Mutter viel hübschere Ohren hatte als sie).

Von wem, fragte sich Kass flüchtig, hatte sie dann ihre Ohren? Von ihrem Vater vielleicht, den sie gar nicht kannte?

Max-Ernest packte sie am Arm und riss sie aus ihren Träumereien. Zu ihren Füßen leuchtete kurz eine große Qualle auf, die mit weichen, pulsierenden Bewegungen unter dem Schiffsrumpf schwamm. Der Fußboden war aus Glas.

Ein lautes Gurgeln schreckte sie auf. War das die Qualle?

»Nein, da ist jemand aufs Klo gegangen«, flüsterte Kass und hörte in dem Ball, wie die Toilettenspülung lief.

Angespannt warteten sie einen Moment. Schritte waren zu hören – aber sie entfernten sich wieder. Niemand ließ sich blicken.

Immer noch auf Zehenspitzen huschten sie zur Wendeltreppe, die aufs Deck hinaufführte.

Es war eine sternenklare Nacht. Das Schiff lag vor Anker und schaukelte sanft.

Sie suchten den Horizont ab – nirgendwo Land, kein einziges anderes Schiff. Kass drehte den Ball in ihrer Hand hin und her, aber er fing keine Geräusche ein außer das Schreien der Seemöwen und das Klatschen der Wellen.

»Mein Rucksack schwimmt und er ist wasserdicht«, flüsterte Kass, als sie den Ball vorsichtig darin verstaute. »Glaubst du, wir könnten dort draußen so lange überleben, bis Hilfe kommt? Ich habe ein bisschen Studentenfutter dabei.«

»Du willst, dass ich ins Wasser gehe? Hast du vergessen, dass ich nicht schwimmen kann? Außerdem, hast du an Dehydrierung gedacht? Und an Hypothermie? Und an diese Qualle?«

»Okay, und was machen wir dann, Houdini?«

»Meinst du nicht, dass es hier ein Rettungsboot oder so was Ähnliches gibt?«

So leise sie konnten, suchten sie die ganze Schiffslänge nach einem Rettungsboot ab. Auf der Brücke blieben sie stehen, wie von Geisterhand drehte sich dort ein Steuerrad im Rhythmus des schwankenden Schiffes hin und her.

Hinter ihnen ging ein Licht an …

Die schemenhaften Umrisse von Madame Mauvais wurden sichtbar. »Wer ist da? Romi? Montana?«

Kass und Max-Ernest drückten sich in den Schatten und rührten sich nicht vom Fleck. Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, aber in Wirklichkeit dauerte es kaum eine Minute, dann erlosch das Licht wieder.

Was erleichtertes Aufatmen unserer beiden Freunde zur Folge hatte.

Dann krochen sie auf der anderen Seite des Schiffs wieder zurück, fanden jedoch auch hier kein Rettungsboot – nicht einmal einen Rettungsring.

»Siehst du das?«, flüsterte Max-Ernest.

Kass schaute in die Richtung, in die auch Max-Ernest blickte – und schauderte.

Zwei große Hände klammerten sich an die Bordwand des Schiffs – genau wie in ihrem Traum. Konnte es sein …?

Während sie das Schauspiel ängstlich und gebannt verfolgten, zog sich ein triefend nasser Mann über die Reling und kletterte an Deck.

»Mr Needleman«, schrie Kass auf.

Er nickte und lächelte verschmitzt unter seinem nassen Bart. »Ihr beiden haltet die ganze Klasse auf.«

»Aber wie sind Sie hierhergekommen?«

Mr Needleman legte den Finger auf die Lippen. »Später. Jetzt möchte ich erst einmal, dass ihr euch bereit macht, um ins Wasser zu springen.«

»Werden wir großen Ärger bekommen?«, fragte Max-Ernest besorgt.

»Springt!«, befahl Mr Needleman und deutete über Bord. »Oder wollt ihr warten, bis euch jemand sieht?«

Sie schauten über die Reling. Das Meer lag schwarz und unheilvoll unter ihnen – und zwar fürchterlich tief unter ihnen. Ein paar Meter entfernt schaukelte ein einsames Schnellboot auf den Wellen.

»Jetzt!«

Mr Needleman packte die beiden am Handgelenk, und noch ehe Max-Ernest ihm erklären konnte, dass er Höhenangst hatte und dass er vom Springen immer Nasenbluten bekam, ganz zu schweigen davon, dass er überhaupt nicht schwimmen konnte, sprangen sie los.

Mit den Füßen voran mitten in der Nacht in ein kaltes finsteres Meer zu springen, ist etwas ganz anderes als am helllichten Tag in einen warmen Swimmingpool zu hüpfen.

Ich sage das nur, falls du vielleicht gedacht hast, es wäre so ähnlich.

Max-Ernest hatte natürlich keines von beiden vorher probiert. Er war noch nie unter Wasser gewesen.

Kein Wunder, dass er glaubte, er sei tot.

Er glaubte nicht, dass er sterben würde. Oder ertrinken. Nein, er glaubte, er sei tot.

Warum sonst wusste er nicht, wo oben oder unten war? Warum sonst fühlte er einen solchen Druck auf seiner Brust und in seinen Ohren? In welch anderem Zustand hätte er wohl so entsetzlich am ganzen Körper frieren können?

Es spielte dabei keine Rolle, dass ihn Mr Needleman die ganze Zeit über fest im Griff hatte.

»Ich lebe noch!«, schrie er daher, als er endlich wieder auftauchte. »Ich lebe!!!«

»Pst!«, zischte Kass und schnappte prustend auf der anderen Seite von Mr Needleman nach Luft. »Willst du, dass sie uns hören?«

Als sie an Bord kletterten, kenterte das kleine Boot beinahe. Es war nicht dafür gebaut, Passagiere aufzunehmen.

»Danke, Leute«, sagte Mr Needleman, als sie es schließlich alle geschafft hatten, ins Boot zu klettern – mit durchweichten Kleidern, zähneklappernd, aber, wie Max-Ernest es so treffend ausgedrückt hatte, lebend. »Ohne euch hätten wir nicht gewusst, wo wir die Mitternachtssonne suchen sollen. Herzlichen Glückwunsch!«

»Glückwunsch w-wozu?«, fragte Kass verblüfft. Ihr war gerade aufgefallen, dass Mr Needleman der neuseeländische Akzent mit einem Mal abhandengekommen war.

»Na, dass ihr euren ersten Mieheg-Auftrag erfüllt habt, natürlich.«

Kass und Max-Ernest sahen erstaunt, wie sich Mr Needleman ans Gesicht griff und seinen Bart abnahm.

»Aua!«, rief er und zuckte zusammen.

Es war Owen.

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