Читать книгу Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät - Pseudonymous Bosch - Страница 13
ОглавлениеDer bescheuerte Tisch
Die Xxxxxxxxx-Schule. In Xxxxx Xxxxxx. Zur Mittagspause.
Tut mir leid, aber den Namen von Kassandras Schule kann ich dir noch immer nicht verraten. Oder wo sie sich befindet. Oder wie sie aussieht. Ich kann dir eigentlich so gut wie gar nichts darüber sagen.
Nein, natürlich vertraue ich dir. Aber es besteht immer noch die Möglichkeit, dass du ohne eigenes Verschulden das Buch aus dem Fenster wirfst und es dann in die falschen Hände fällt*.
Aber so viel kann ich sagen: Es ist eine Schule, in der strenge Regeln herrschen.
Da waren zunächst die Regeln, die Mrs Johnson, die Schulleiterin, aufgestellt hatte; sie waren wirklich ziemlich streng, aber in der Regel konnte man sie verstehen. Zum Beispiel war es verboten, in den Korridoren Skateboard zu fahren oder die Unterhosen über der Kleidung zu tragen.
Aber daneben gab es noch viele andere Regeln, die nirgends aufgeschrieben waren und die niemand Spezielles aufgestellt hatte – und die überhaupt keinen Sinn ergaben.
Eine dieser sinnlosen Regeln besagte, dass man sein Mittagessen immer am selben Tisch und mit denselben Leuten essen musste; setzte man sich an einen anderen Tisch, dann konnte das nur bedeuten, dass man sich gestritten hatte oder etwas wirklich Schlimmes passiert war.
Die Tische standen in Gruppen draußen im Schulgarten, in einem Bereich, den man den Hain nannte (obwohl dort überhaupt keine Bäume standen). Am Tisch in der Mitte saßen Amber und ihre Freundinnen. Amber, ihr erinnert euch vielleicht noch, war das netteste Mädchen in der ganzen Schule und das dritthübscheste. Wenigstens sagten das alle.
Drum herum waren die anderen Tische gruppiert – wie Planeten, die die Sonne umkreisen.
Kass und Max-Ernest, ich muss das leider sagen, unternahmen wenig, um sich gegen dieses System aufzulehnen. Der Tisch, an dem sie saßen, stand am äußersten Rand des Hains und er war so bekannt, dass er sogar einen Namen hatte: der bescheuerte Tisch.
»Der Name ist Quatsch«, beschwerte sich Max-Ernest fast täglich. »Er sollte eigentlich der gescheuerte Tisch heißen, weil er für Kinder ist, die Allergien haben, und immer ganz sauber sein muss.«
»Ich vermute, die Leute finden, der bescheuerte Tisch klingt lustiger«, erwiderte Kass dann immer.
Aber sie ließ sich nicht weiter auf das Thema ein. Denn wenn Max-Ernest nicht kapierte, dass die anderen Schüler diejenigen, die am bescheuerten Tisch saßen, für, nun ja, bescheuert hielten, umso besser für ihn.
Kass hatte keine Allergien, trotzdem aß sie nur sehr wenig. Denn das Mittagessen war Teil ihres Überlebenstrainings. Alles, was sie aß, musste monatelang haltbar sein und durfte weder in einem unterirdischen Bunker noch in einer Weltraumrettungskapsel verderben. Frisches Obst kam also nicht infrage, Fruchtbonbons hingegen waren erlaubt. Sandwiches waren verboten, Instant-Nudeln waren okay.
Am allerbesten war Studentenfutter; es ersetzte eine komplette Mahlzeit.*
Heute jedoch stutzte Kass, ehe sie sich über ihre Chip-Mischung hermachte, denn obenauf lag ein handgeschriebener Zettel.
Mürrisch verzog Kass das Gesicht. Sie hasste es, wenn ihre Mutter Zettel in ihr Mittagessen legte – das war so peinlich! Ganz abgesehen davon, dass es in der Regel eine nicht sehr spaßige Liste von Dingen war, die Kass erledigen sollte.
Sie steckte den Zettel in ihren wiederverwendbaren, wasserdichten Brotzeitbeutel zurück. Sie würde ihn später lesen. Vielleicht.
Anders als Kass hatte Max-Ernest gleich mehrere Allergien. Zum Beispiel gegen Nüsse (dabei war nie ganz klar, gegen welche Nüsse er allergisch war). Dazu kam noch eine ganze Reihe von ernährungsbedingten Leiden. Aber was noch bemerkenswerter war: Er brachte stets zwei Pausenbrotpakete in die Schule mit. Eines hatte seine Mutter gemacht, das andere sein Vater. Max-Ernest war immer sehr darauf bedacht, gleichviel von jedem zu essen. Seine Eltern waren nämlich geschieden und alles in seinem Leben war entweder doppelt oder halbiert. (Als Kass ihn zum ersten Mal zu Hause besuchte, konnte sie nicht glauben, was sie sah: Das Haus war in der Mitte geteilt, jede Hälfte war anders eingerichtet und weder Vater noch Mutter betraten jemals die Seite des anderen.)
Heute allerdings hatte es Max-Ernest nicht sehr eilig, eines seiner Schulbrote zu essen.
»Hör mal, ich habe ein neues Kartenkunststück gelernt. Willst du es mal sehen?«, fragte er und war schon im Begriff, die Spielkarten auszulegen. »Es heißt Die vier Brüder.«
Max-Ernest las nun schon seit ein paar Monaten alles, was ihm über Zauberei in die Hände fiel – nicht nur Anleitungen fürs Zaubern, sondern auch über die Geschichte der Zauberei und Lebensbeschreibungen berühmter Magier. Jedes Mal, wenn Kass ihn sah, las er eine neue Geschichte von einem indischen Schwertschlucker oder einem Flohzirkus aus dem neunzehnten Jahrhundert oder er hatte einen Aufsatz dabei, in dem es darum ging, wie es einem Zauberer erstmals glückte, einen Elefanten verschwinden zu lassen.
Für das Kunststück, das er heute vorführte, nahm er die vier Buben aus dem Blatt und legte sie fächerförmig auf den Tisch. »Siehst du diese vier Buben? Sie sind Brüder und sie wollen nicht getrennt werden.«
Dann nahm er die Buben, steckte sie an verschiedenen Stellen in den Kartenstapel zurück – jedenfalls tat er so. Dann hob er die Karten ab.
»Jetzt pass auf, wie die Buben wieder zusammenkommen …«
Er mischte die Karten und zeigte Kass, wie sie wieder hintereinanderlagen – oder hintereinander zu liegen schienen. »Wie findest du das?«
Er wird besser, dachte Kass bei sich. Wenn auch nur ein bisschen.
Zugegeben, es war nicht gerade vorteilhaft, dass Max-Ernest einen großen Pickel an der Nasenspitze hatte. Mit diesem Pickel und seiner stacheligen Frisur – jedes Haar war wie immer exakt gleich lang geschnitten – sah er eher wie ein Maulwurf aus und nicht wie ein Magier.
»Ziemlich gut«, antwortete Kass diplomatisch. »Aber ich glaube, ich habe diesen Trick schon mal gesehen – nur war er damals mit Königen. Und die waren keine Brüder, sondern Freunde.«
»Das ist doch Quatsch. Vier Könige würden niemals miteinander befreundet sein – sie wären Feinde und würden sich gegenseitig ihre Reiche streitig machen. Und selbst wenn sie sich nicht streiten würden, so zweifle ich doch stark, dass sie so viele Freunde hätten. Das ist nicht sehr realistisch …«
Kass wollte ihn gerade darauf aufmerksam machen, dass bisweilen auch Brüder verfeindet sein können. Wie zum Beispiel Pietro und Dr. L. Die waren sowohl Zwillinge als auch Todfeinde. Andererseits gab es viele Leute, die vier Freunde hatten, manche sogar mehr. Amber zum Beispiel. Amber glaubte von sich, dass sie mit der ganzen Schule befreundet war.
Aber Kass entschloss sich zu schweigen. Man musste sich genau überlegen, ob man sich mit Max-Ernest auf ein Streitgespräch einlassen wollte. Es konnte nämlich gut sein, dass es dann einen ganzen Tag lang dauerte.
Tatsächlich hatte keiner von ihnen beiden viele Freunde; was das anging, hatte Max-Ernest recht. Genau genommen war Kass der einzige Freund, den Max-Ernest hatte. Und obwohl sie es ungern zugab: Max-Ernest war auch ihr einziger Freund. (Wenn man von ihrem früheren Klassenkameraden Benjamin Blake absah. Aber der ging seit diesem Schuljahr in eine andere Schule. Und er hatte auch nie viel gesagt – jedenfalls nicht viel, was man hätte verstehen können.)
»Mir wäre es lieber, du würdest für die Mieheg-Gesellschaft trainieren, anstatt dir neue Zauberkunststücke beizubringen«, sagte Kass.
»Wir wissen ja nicht einmal, was wir trainieren sollen!«, protestierte Max-Ernest ein wenig gereizt. »Außerdem, Pietro war Magier, oder etwa nicht?«
»Du meinst, er ist Magier – er lebt ja noch, erinnerst du dich?«
»Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Den Brief könnte auch ein anderer geschrieben haben, dessen Name mit den gleichen Anfangsbuchstaben beginnt. Oder jemand, der nur so tat, als wäre er Pietro. Oder vielleicht ist er ja gestorben, nachdem er den Brief geschrieben hat. Immerhin ist es schon vier Monate her. Weshalb hat sich die Mieheg-Gesellschaft nicht längst bei uns gemeldet, wo sie doch –«
Kass warf ihm einen bösen Blick zu. Sie hasste es, wenn er so tat, als wäre Pietro gestorben. Oder als gäbe es die Mieheg-Gesellschaft gar nicht. Sie hatte schon so viel Zeit damit verbracht, sich auf ihre zukünftigen Aufgaben vorzubereiten, dass sie diese Möglichkeit gar nicht erst in Betracht ziehen wollte.
»In dem Brief stand, dass Owen uns abholen würde, und das wird er auch«, sagte sie zuversichtlicher, als sie eigentlich war.
Owen hatte geholfen, sie aus den Klauen der Meister der Mitternachtssonne zu befreien. Er hatte die Gewohnheit, sein Aussehen komplett zu verändern. Monatelang hatten Kass und Max-Ernest deshalb jedes neue Gesicht eingehend geprüft. Aber niemals war ihnen auch nur ein einziger falscher Bart untergekommen, nie hatte jemand mit einem falschen Akzent gesprochen. Und man hörte auch nicht von verdächtigen Autounfällen. (Owen war ein fürchterlich schlechter Autofahrer.)
»Vielleicht ist er ja bereits da gewesen«, lenkte Max-Ernest versöhnlich ein. »Vielleicht war es so etwas wie eine Entführung. Er hat uns verschleppt und wir haben unseren Schwur auf die Gesellschaft unter Hypnose abgelegt. Und jetzt arbeiten wir unter geheimem Befehl, ohne es zu wissen …«
Kass musste lachen. Max-Ernest war wirklich jederzeit bereit, noch die unwahrscheinlichsten Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.
»War das komisch?«, fragte er überrascht.
Kass nickte.
»Was sagt man dazu?«, wunderte sich Max-Ernest und grinste.
(Zu Kassandras Leidwesen hatten Max-Ernests Ambitionen in puncto Zauberei sein ebenso abwegiges Bestreben, Komiker zu werden, nicht im Mindesten geschmälert.)
»Ist der Zettel von deiner Mutter?«, fragte Max-Ernest, um das Thema zu wechseln. Er betrachtete das Blatt Papier, das zur Hälfte aus dem Brotzeitbeutel herausschaute.
Ärgerlich zog Kassandra ihn hervor. Und das stand auf dem Zettel:
Kass, hier die Einkaufsliste für morgen: Schwarte – vom Metzger, der kein Sch sprechen kann Bier (3) – aber nur das vom Bootshafen 12 Pürierte Mehlkartoffeln Paprika. Butter. Mutter
Als Kass den Zettel las, wunderte sie sich doch sehr. Und zwar aus mehreren Gründen:
Erstens war ihre Mutter erst am Vortag einkaufen gewesen.
Zweitens hatten sie nie Bier im Haus, geschweige denn gleich drei Flaschen.
Drittens kaufte ihre Mutter Mehlkartoffeln immer roh und nicht püriert. Das machte sie zu Hause selbst. Kass war sich gar nicht mal sicher, ob man überhaupt fertig pürierte Kartoffeln kaufen konnte.
Viertens unterschrieb ihre Mutter ihre Zettel nie mit »Mutter«. Meistens kritzelte sie nur ein »M«. Wenn sie in besonders liebevoller oder neckischer Stimmung war, verstieg sie sich mitunter auch zu einem »Mommy«. Manchmal, wenn sie Kass beweisen wollte, dass sie sie wie eine Erwachsene behandelte, schrieb sie nur kurz »Mel«.
Aber nie Mutter, nicht dass Kass wüsste.
Ein Gefühl der Erregung kitzelte Kass plötzlich in den Fußzehen, blubberte durch ihren Bauch und platzte dann aus ihrem Mund heraus:
»Hey, sieh dir das an …«, flüsterte sie Max-Ernest zu. »Das kommt von ihnen, da bin ich mir sicher. Es ist eine geheime Botschaft. Kaum zu glauben, aber sie müssen es in meinen Brotzeitbeutel gesteckt haben! Dabei lag er nur eine Stunde in meinem Schrank! Meinst du, Owen ist hier irgendwo?«
Sie sah sich um. Der Einzige, den sie nicht kannte, war ein asiatisch aussehender Junge, der am Nebentisch saß; er schloss gerade seine Gitarre an einen kleinen, tragbaren Verstärker an.
Stirnrunzelnd betrachtete Max-Ernest den Einkaufszettel.
»Glaubst du etwa nicht, dass es sich um eine geheime Botschaft handelt?«, fragte Kass. »Es muss eine sein. Der Zettel ist ganz bestimmt nicht von meiner Mom.«
»Nein, da hast du recht. Sieht aus, als ob es irgendein Code wäre. Er ist nur etwas verzwickt …«
Heimlich zog Max-Ernest ein Ding aus der Tasche, das aussah wie ein Gameboy. Pietro hatte es ihm geschickt, und dieses kleine, handliche Gerät war in Wirklichkeit ein ULTRA-Decoder II, der eigens zu dem Zweck erfunden worden war, Geheimbotschaften zu entschlüsseln. In seinem Speicher hatte er mehr als tausend Sprachen und sogar noch mehr Geheimcodes.
Unter dem Tisch richtete Max-Ernest den Decoder auf die Einkaufsliste und scannte sie.
»Merkwürdig, der Decoder entziffert gar nichts«, flüsterte er. »Wenn es wirklich ein Geheimcode ist, dann steckt jedenfalls kein System dahinter.«
Kass seufzte. Und wenn den Zettel nun doch ihre Mutter geschrieben hatte?
»Das habe ich als Preis gewonnen, als ich bei den Hundert Besten der Skelton-Schwestern aufgenommen wurde«, hörten sie eine vertraute, honigsüße Stimme.
Die Stimme gehörte Amber, die mit ihrer Freundin Veronika (das zweithübscheste Mädchen der Schule, aber nicht einmal das viert- oder fünftnetteste) vorbeiging. Soweit Kass wusste, war noch keine von beiden dreizehn. Aber irgendwie schienen sie während des Sommers um Jahre älter geworden zu sein. Es lag wohl an ihrer eng anliegenden Kleidung und an dem Glitzer-Make-up. (Kass konnte es kaum fassen, dass Mrs Johnson zuließ, dass die Mädchen so herumliefen, ganz zu schweigen von ihren Müttern.)
Amber hielt ein funkelndes pinkfarbenes Handy in die Höhe, das mit einem großen roten Herz geschmückt war. »Jedes Mal, wenn die Skelton-Schwestern einen neuen Song herausbringen, habe ich ihn gleich als Klingelton!«, prahlte sie so laut, dass man es auf dem ganzen Schulhof hörte. »Wenn ich dann in ihr Konzert gehe, kenne ich schon alle ihre Lieder. Falls ich noch reinkomme – denn es ist schon so gut wie ausverkauft.«
(Romi und Montana Skelton waren Teenager und Zwillingsschwestern; sie hatten es im Fernsehen zu einigem Ruhm gebracht und herrschten mittlerweile über ein weitverzweigtes Firmenimperium – twinheartsTM inc. –, wo alles Mögliche hergestellt wurde, angefangen von rosafarbenen Flauschrucksäcken bis zu stinkendem Lipgloss. Kass hatte eine ausgeprägte Abneigung gegen die Skeltons – nicht zuletzt deshalb, weil Amber eine ausgeprägte Vorliebe für sie hatte.)
»Hier, hör mal …« Amber drückte ein paar Tasten auf ihrem Telefon, aber bevor sie es zum Klingeln brachte, schrillte eine Rückkopplung über den ganzen Schulhof und das verzerrte Jaulen einer E-Gitarre. Es kam von dem neuen Jungen am Nachbartisch, der so tat, als wäre er Jimi Hendrix.*
Kass lachte laut auf. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können – das Kreischen unterbrach Amber genau in dem Augenblick, wo sie ansetzte, sie alle mit einem dieser entsetzlichen Skelton-Songs zu quälen.
Kass schaute zu dem jungen Gitarristen hinüber. Er zupfte auf seiner Gitarre herum und blickte dabei gedankenverloren in die Ferne, als säße er irgendwo allein in einer Garage und nicht zusammen mit Hunderten anderer Schüler auf dem Schulhof. Er war ziemlich groß gewachsen für sein Alter, und seine Haare waren wie ein dichter schwarzer Mopp, der ihm über die Augen hing. Er trug hellgrüne Tennisschuhe und ein T-Shirt mit dem Aufdruck
ALIENS OHRENSCHMERZ
Wir rocken so laut, man hört’s bis zum Mars
»Ich wette, das ist der Neue … aus Japan«, sagte Kass zu Max-Ernest. »Du erinnerst dich doch an die Durchsage von Mrs Johnson?«
Kassandras Lachen war Amber nicht entgangen.
»Hey, Kass … geht’s dir gut?«, fragte sie und blieb am Tisch stehen, nicht ohne den Gitarristen zuvor von oben bis unten zu mustern.
»Hm, ja, glaub schon …«
»Wie schön«, flötete Amber zuckersüß. »Ich hab schon befürchtet, du hättest wegen der Gitarre einen Ohrenschaden abbekommen …«
Die Richtung, die das Gespräch nahm, behagte Kass ganz und gar nicht.
»Ich nehme an, deine Ohren sind sehr empfindlich, weil sie – na ja, du weißt schon.«
»Nein, wir wissen gar nichts!«, brauste Max-Ernest auf. »Ihre Ohren sind völlig normal, Amber. Sie hört nicht mehr und nicht weniger als du.«
Wie jeder wusste, waren die Ohren Kassandras wunder Punkt. Nicht nur, dass sie groß und spitz waren wie die Ohren eines Kobolds, sie wurden auch sehr schnell knallrot, wenn Kass ärgerlich oder verlegen oder sonst wie aufgebracht war.
Oder wenn andere über sie sprachen.
Im Moment nahmen sie gerade eine dunkelrote Farbe an, die ins Violette spielte.
»Oh, hi, Max-Ernest!«, sagte Amber, als hätte sie ihn gerade eben erst gesehen. »Ich habe es wirklich nicht böse gemeint. Aber es ist echt süß, wie du sie verteidigst! Seid ihr beiden jetzt ein Pärchen?«
Max-Ernest verschluckte sich fast an den beiden völlig gleich aussehenden Karotten, an denen er gerade kaute. Dann wurde er sehr blass.
Verstohlen blickte Amber zu dem Gitarrenspieler, um zu sehen, ob er das alles auch mitbekäme. Was er aber anscheinend nicht tat.
»Wir sind kein Pärchen«, erwiderte Kass, so ruhig sie konnte, und das obwohl so viel Blut in ihre Ohren schoss, dass es sich anfühlte wie eine Feuersbrunst. (Wenn es eine richtige Feuersbrunst gewesen wäre, dann hätte sie eine Asbestdecke dabeigehabt, um sich davor zu schützen.)
»Oh, das ist zu schade. Ihr beide würdet so ein nettes Pärchen abgeben«, mischte sich Veronika ein. »Komm weiter, Am…«
Die beiden Mädchen unterdrückten ein Kichern und schlenderten davon.
»Tut mir leid, ich hab nicht auf die Lautstärkeregelung geachtet, jo!«, sagte der Gitarrenspieler und klang dabei alles andere als japanisch. Er langte nach unten, um seine Gitarre vom Verstärker zu trennen, dabei schaute er zum bescheuerten Tisch hinüber. »Ich hab gehört, Amber soll das netteste Mädchen der ganzen Schule sein. Ich hatte eben gar nicht den Eindruck.«
»Ja, das ist ein bisschen k-k-komisch, hm?«, stotterte Kass und versuchte dabei, die Haare über die Ohren hängen zu lassen (was ziemlich schwierig war, denn sie hatte die Haare zu Zöpfen geflochten.) »Egal, mach dir keine Gedanken deshalb. Ich fand es …«, sie suchte nach einem passenden Wort, »cool, wie du gespielt hast.«
»Danke«, sagte er und grinste dabei übers ganze Gesicht. »Ich bin Jo-schi. Du weißt schon, der Neue.«
»Ja, haben wir uns fast schon gedacht«, sagte Kass und hoffte inständig, ihre Ohren würden wieder ihre normale Farbe annehmen.
»Du kannst mich Jojo-schi nennen. Wenn du willst. Alle meine Freunde nennen mich so …«
»Okay. Ähm, Jojo-schi, tut mir leid, dir das so deutlich sagen zu müssen, aber ich glaube, du wirst dich gleich noch mal entschuldigen müssen …«
Kass deutete mit dem Kinn in Richtung Schulleiterin, die über den Schulhof direkt auf Jojo-schi zukam; ihr riesiger gelber Hut schwankte bei jedem Schritt.
Jojo-schi zog eine Grimasse und tat, als würde er vor Angst gleich sterben. »O-oh! War jedenfalls nett, euch kennengelernt zu haben.«
»Ja, war nett, dich kennengelernt zu haben … Oh, warte! Beinahe hätte ich es vergessen – ich bin Kass. Und das ist Max-Ernest … Sag hi, Max-Ernest.«
Sie zupfte ihren Freund am Ärmel.
»Hi, Max-Ernest«, sagte Max-Ernest, der in stummer Wut dasaß, seit Amber ihn gefragt hatte, ob er und Kass ein Pärchen wären.
Ehe Jojo-schi etwas darauf antworten konnte, stand Mrs Johnson schon an seinem Tisch.
»Aufstehen!«, kommandierte sie. »Da lang …« Sie zeigte in die Richtung, in der sich ihr Büro befand. Jojo-schi zuckte die Schultern und marschierte los, die Gitarre auf dem Rücken.
Kass sah ihm nach und fragte sich, welche Rolle diese unerwartete Verschiebung in ihrem sorgfältig geknüpften gesellschaftlichen Umfeld der Schule spielen würde. Sollte sie womöglich irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen treffen?
Plötzlich setzte sich Max-Ernest kerzengerade auf. »Ich hab’s!«
»Was?«, fragte Kass zerstreut.
»Schwarte«, sagte Max-Ernest geheimnisvoll. »Die Einkaufsliste auf dem Zettel. Da steht: Schwarte – aber nur vom Metzger, der kein Sch sprechen kann. Du hast gerade warte gesagt, das hat mich auf eine Idee gebracht. Was, wenn man bei Schwarte einfach das Sch weglassen muss?«
»Du meinst, wir sollen irgendwohin gehen und warten? Wusste ich’s doch!«, rief Kass und verschwendete keinen Gedanken mehr an Amber, Jojo-schi und ihre roten Ohren. »Und was ist mit der zweiten Zeile? Bier und in Klammern 3?«
»Aber nur das vom Bootshafen«, las Max-Ernest weiter. »Das könnte doch auch ein Hinweis sein. Ein Bier am Hafen. Vielleicht ist damit gar kein Bier gemeint, sondern –«
»Ein Pier!«, unterbrach ihn Kass. »Und zwar Nummer drei. Es bedeutet also: Warte am Pier 3.«
Max-Ernest nickte. »Der Rest ist einfach. 12 pürierte Mehlkartoffeln, das heißt so viel wie 12 p. m., und das heißt so viel wie 12 Uhr mittags. Und Paprika und Butter stehen für die Anfangsbuchstaben P und B, also für Pietro Bergamo.«
»Pietro Bergamo!«
»Wie findest du das?«, sagte Max-Ernest. »Aber ich wundere mich trotzdem, dass er keinen normalen Code verwendet hat mit dem dazugehörigen Schlüsselwort.«
»Na wennschon, du hast es auch so rausgekriegt. Ich habe nichts anderes von dir erwartet.«
Max-Ernest nickte, lächelte und schrieb die entzifferte Nachricht auf die Einkaufsliste:
Warte am Pier 3, 12 Uhr mittags, Pietro Bergamo.
* Da wir gerade beim Thema sind: Du weißt ja noch, dass alle Namen in diesem Buch erfunden sind, nicht wahr? Kassandra. Max-Ernest. Einfach alle. Zugegeben, ich bin rücksichtslos und ohne Skrupel – aber sogar für mich gibt es Grenzen. Ich würde dir niemals die richtigen Namen meiner Personen preisgeben. Wenn jemand dieses Buch liest – ich habe absichtlich jemand gesagt, nicht du – und die Namen der Personen herausfindet, nun, ich mag lieber gar nicht daran denken, was dann passiert.
* Keine Sorge, es enthielt keinerlei Nüsse, wie Kass ihrem überbesorgten Tischnachbarn immer wieder versicherte, es bestand nur aus Erdnussbutterchips mit künstlichem Aroma. Für Kassandras patentiertes Spezial Super-Chiprezept siehe Buch I, Anhang.
* Wenn du deine Eltern fragst, werden sie dir sicherlich erzählen, dass Jimi Hendrix der größte Rock-Gitarrist aller Zeiten war. Was sie dir vielleicht nicht erzählen werden, ist, dass er gerne Perücken trug. Eine Rückkopplung übrigens ist das schrille Geräusch, das entsteht, wenn man ein Mikrofon zu nahe an einen Lautsprecher hält (das Mikrofon fängt das Geräusch ein, das es, wenn man’s genau betrachtet, zuvor selbst verursacht hat). In den Zeiten vor Hendrix hielten die meisten Leute eine Rückkopplung für Krach. Aber er machte Musik daraus.