Читать книгу Hexenzirkel 3: Das Lied des auferstandenen Gottes - R.A. Salvatore - Страница 10
Diese Lieder der Magie
ОглавлениеAoleyn stand auf der windgepeitschten Klippe und warf einen Blick zurück auf die kleine Gruppe, die in Serpentinen den steilen Felsabhang hinunterging.
So wenige. Vielleicht hundert, nicht mehr.
Die Tränen in ihren Augen stammten vom Wind – das sagte sich die Frau zumindest. Ja, in der vergangenen Nacht war es zu unglaublichen und dramatischen Veränderungen gekommen; ein ganzes Gebirge war geschmolzen und ein gewaltiger, tiefer See hatte sich in die Wüstenebene ergossen.
Ja, ihre Welt war plötzlich auf den Kopf gestellt worden. Nicht zum ersten Mal – und auch nicht zum letzten Mal, das wusste sie, als sie sich Feuchtigkeit von der Wange wischte.
Es liegt nur am Wind, sagte sie sich erneut, während sie verzweifelt, aber vergeblich versuchte, die Realität zu verdrängen: Für jeden Flüchtling, der gerade das Ayamharas-Plateau verließ, waren dreißig Männer, Frauen und Kinder an nur einem Tag abgeschlachtet worden.
Gestern.
Aoleyn hatte nicht viele Freunde – jedenfalls keine engen außer Bahdlahn, der zu den Flüchtlingen gehörte, die gerade von dem eroberten Plateau flohen. Doch das linderte den Schmerz nicht, auch wenn sie ihn zu verbergen versuchte. Dass die Vernichtung so schlagartig und in diesem Ausmaß über sie gekommen war, überwältigte Aoleyn.
Die Frau strich sich eine lange Strähne ihrer schwarzen Haare aus dem Gesicht, blinzelte entschlossen mit ihren dunklen Augen, um die Trauer und die Tränen zu vertreiben, dann legte sie eine Hand auf ihren nackten Bauch und auf die Kette mit den Edelsteinen, die sie dort befestigt hatte. Ihr Finger strich über die glatte Oberfläche eines Mondsteins und verharrte dort, während sie sich enger mit der magischen Energie verband, die in dem kleinen Stein steckte.
Sie lockte die Macht darin Stück für Stück hervor, bis die magischen Schwingungen in ihren Fingern vibrierten, bis das Lied des Edelsteins ihre Gedanken erfüllte.
Sie beschwor diese Magie, sprang hoch und flog, als besäße sie die Schwingen eines Vogels. Sie begann, den gewaltigen Abgrunds zu umrunden, der noch am Vortag ein Bergsee gewesen war, hielt sich jedoch am Rand und blieb so niedrig am Boden wie möglich, damit die Eroberer, die bereits wie Ameisen über den südlichen Teil des Beckens ausschwärmten, sie nicht entdeckten.
Und damit der Riese unter ihnen sie nicht erspähte, diese gewaltige, wunderschöne und schreckliche Kreatur, die gestern auf einem Ungeheuer, einem schlangenartigen Drachen, der durch die Luft zu schwimmen schien, geritten war.
Manchmal überstieg ihre Flughöhe kaum ihre eigene Körpergröße, manchmal wand sie sich zwischen den Bäumen kleiner Wäldchen hindurch, aber immer blieb sie am Westrand des Beckens, hielt sich von allen Bewegungen fern und auch von dem einzigen Dorf auf dieser Seite. Es war geplündert worden, während sie und die anderen ihre verzweifelte Flucht über das tiefe, dunkle Wasser angetreten hatten. Sie brachte die Längsseite der Schlucht rasch hinter sich und erreichte die dichteren Wälder und die Deckung versprechenden Felsen des Hügellands am Fuß des gewaltigen Bergs, der sich über den südöstlichen Rand erhob. Fireach Speuer, so nannte man ihn: Er war breit und groß und warf jeden Morgen lange Schatten über das Wasser des Sees, den es dort einmal gegeben hatte. Der gewaltige Berg war ihre Heimat gewesen. An seinen Hängen, auf etwas mehr als halber Höhe, gab es einen ebenerdigen Bereich, der ihrem Volk, den Usgar, als Sommerlager gedient hatte. Das Felsplateau unterhalb des Gipfels war im Winter ihre Heimat gewesen und ihr Machtzentrum. Der Zirkel hatte seine Magie aus ihm geschöpft, genau wie Aoleyn selbst.
Sie landete im Hügelland, hielt inne und dachte über ihr Glück nach – oder war es vielleicht Schicksal? Denn nur, weil sie vor ihrem Volk geflohen war, weil sie sich von den Usgar und allem, woran sie glaubten, abgewandt hatte, war sie der tödlichen Flutwelle seltsam aussehender Eroberer, die über sämtliche Bergpässe und Vorsprünge des Fireach Speuer hereingebrochen war, entkommen.
Sie war sich nicht sicher, was sie von der augenscheinlichen Eroberung und Vernichtung der Usgar halten sollte. Hatten die Invasoren ihr einen Gefallen getan, hatten sie der Welt einen Dienst erwiesen, weil sie das Land von diesem furchtbaren Barbarenstamm und dessen mörderischen Bräuchen befreit hatten?
Nein, Aoleyn konnte sich nicht dazu überwinden, so zu denken. Schließlich hasste sie nicht alle Usgar und betrachtete viele von ihnen, vor allem die unterdrückten Frauen, als Opfer, denen man Gehorsam eingeprügelt hatte. Sie hatte vorgehabt, sie alle von den Bräuchen der Usgar zu befreien – ohne etwas von der Gefahr durch diese seltsamen Eroberer zu ahnen, deren Existenz ihr verborgen geblieben war, bis sie über das Dorf Fasach Crann geflogen war, während es von ihnen zerstört wurde – und erst als Aoleyn erkannt hatte, dass sie die Usgar nicht vor sich selbst beschützen konnte, war sie geflohen.
Aoleyn verzog das Gesicht, was wie ein schiefes Lächeln aussah, als sie an Tay Aillig dachte, den Anführer der Usgar und ihren schlimmsten Peiniger. Sie hatte ihn auf ihrer Flucht inmitten einer Steinlawine abstürzen lassen. Sie warf einen Blick auf ihre Hand, die schmale, zarte Hand einer jungen Frau, auf die die Umrisse einer Wolkenleopardenpfote tätowiert waren.
Sie spürte die Vibrationen dieser Tätowierung und der Edelsteinsplitter, die sie darin eingebettet hatte, um das Bild auf ihre Haut zu zeichnen. Sie spürte die Magie, die darin steckte, die Macht, die diese Hand und den Arm in die Pranke eines Wolkenleoparden verwandelt hatte. Sie stellte sich die langen Klauen vor und sah erneut Tay Ailligs letzten entsetzten Blick, als er hilflos unter den herabgefallenen Steinen gelegen hatte. Sie hatte ihm keine Gnade gezeigt.
Ihre Grimasse vertiefte sich, als sie an den tödlichen Schlag dachte. Ihre schwungvoll geführte Klaue, die dem Mann so leicht, so geschmeidig die Kehle herausgerissen hatte. Das Blut, so viel Blut, das hervorgespritzt war. Der entsetzte Gesichtsausdruck eines verwirrten Manns, der sich für einen Gott gehalten hatte – all das war für immer in Aoleyns Verstand eingefroren.
Dann war es eben so.
Ein tiefer Atemzug vertrieb die Erinnerung für den Moment und brachte Aoleyn zurück in die Gegenwart, wo sie rasch erkannte, dass sie nicht so allein war, wie sie gehofft hatte. Sie ging sofort hinter einigen Felsbrocken in Deckung und lauschte.
Sie konnte sie hören. Ihre melodischen, etwas hohen, zweifellos schönen Stimmen schienen nicht weit entfernt zu sein.
Aoleyn zog sich tiefer in die Schatten der Felsbrocken zurück. Sie beschwor die Magie des Diamanten in ihrem Bauchring, damit er das Licht in der Nähe absorbierte und die Schatten, die sie umgaben, verstärkte.
Schnell erkannte sie, dass sich eine ganze Menge von Feinden in der Nähe befand. Ihr Daumen glitt über das Band an ihrem Ringfinger, über den Rubin und den Schlangenstein, die darin eingelassen waren.
Schlangenstein, um sie vor Flammen zu beschützen. Rubin, um Feuer zu erschaffen.
Aoleyn kräuselte angewidert die Nase, als sie sich an den Geruch der verbrannten Leichen erinnerte, die sie in der Höhle zurückgelassen hatte. Männer, Usgar, die sie bewacht und verspottet hatten.
Die vor ihren Augen geschmolzen waren.
Ich habe getan, was ich tun musste, sagte sie sich stur, was stimmte, aber nichts daran änderte, dass der Anblick sie noch immer verfolgte.
Und dann vergaß sie das alles angesichts der plötzlichen Überraschung, denn sie sah ihn: einen großen, goldhäutigen Mann, dessen Nase so rot war wie das Blut, das aus Tay Ailligs Hals geflossen war, und dessen Gesicht von Linien durchzogen war, die so blau leuchteten wie das Wasser des verlorenen Loch Beag in der herbstlichen Sonne. Er trug eine Brustplatte, die aus rechteckigen Goldplatten und silbern schimmernden Linien zu bestehen schien, und einen ebenfalls goldenen Helm. Es musste sich um dieses Metall handeln, denn kein geringeres wäre diesem wunderschönen goldhäutigen Mann gerecht geworden.
Aoleyn wurde aus ihrer Trance gerissen, als ihr Blick zu seinem erhobenen Arm glitt, denn er holte mit einem Speer aus – nein, es war das Ende eines ypsilonförmigen Wurfstabs! – und zielte direkt auf sie.
Aoleyn hatte das magische Lied ihrer Edelsteine noch nicht zum Höhepunkt bringen können.
Aoleyn konnte weder Feuer noch Blitze schleudern.
Aoleyn konnte nicht fliehen.
Seine Wunden würden ihn nicht umbringen. Das wusste er inzwischen. Er warf einen Blick auf die goldene Schicht, die man über seine Hüfte und seine Seite geschüttet hatte.
Geschüttet! Flüssiges Gold!
Das hätte ihn natürlich umbringen sollen und es hatte auch geschmerzt, stärker als alles, was sich der Usgar-Krieger je hatte vorstellen können. Doch der Verband, den ihm die seltsamen, großen Menschen mit den bemalten Gesichtern vorher angelegt hatten, verhinderte, dass seine Haut durch das geschmolzene Metall verbrannt worden war.
Nun fühlte er sich besser, so viel besser, dass es sich nicht leugnen ließ. Seine Kraft kehrte zurück, auch wenn er nach wie vor ein gebrochenes Bein hatte, dass er sich offensichtlich bei seinem Sturz zugezogen hatte. Er glaubte, dass sie auch über diese Verletzung Gold gießen würden, zumindest schienen die Anweisungen des Schamanen oder Priesters oder was auch immer er war darauf hinzudeuten. Er spürte dort unten keine Schmerzen, er spürte gar nichts und hoffte mit aller Macht, dass ihre Medizin auch das ändern würde.
Er stützte sich auf die Ellenbogen, als eine Frau an ihm vorbeiging.
»Weißt du etwa nicht, wer ich bin?«, verkündete er herrisch. »Tay Ail…«
Sie schlug ihm die Faust ins Gesicht, setzte ihren Fuß auf seine Kehle und drückte ihn zu Boden. Ihre Waffe, ein flaches Holzpaddel, dessen Ränder mit den Zähnen irgendeines Tiers besetzt waren, schwebte drohend über seinem Gesicht.
Tay Aillig ist mein Onkel. Egard vollendete den Satz in Gedanken, war aber klug genug, ihn nicht auszusprechen.
Er schloss die Augen und wünschte sich weit, weit weg.
Dass die Frau kurz darauf mit einem anderen dieser seltsam aussehenden Menschen zurückkehrte, überraschte ihn. Sie packten seine Schultern und halfen ihm grob, sich aufzusetzen.
»Was …«, brachte er hervor, schrie dann jedoch auf, als die Frau etwas Scharfes von hinten in seine Schulter bohrte. Er fuhr herum, um sie anzusehen, und schrie erneut, als der Mann seiner anderen Schulter das Gleiche antat.
Sie stachen ihn erneut an anderen Stellen – nein, es waren nicht einfach nur Dolchstiche, das erkannte er, als die Frau ihn von hinten am Arm erwischte: Sie bohrten Haken in ihn hinein!
Ein dritter Fremder, vielleicht sogar mehr als einer, zogen hinter ihm an mehreren Seilen. Seine Arme hoben sich über den Kopf, dann folgte Egards gesamter Körper, der von acht in seinem Fleisch steckenden Haken festgehalten wurde. Zuerst stand er, obwohl er seine Beine nicht spüren konnte und sie ihn auch nicht trugen, und dann ließ er auch schon den Boden hinter sich und hing hilflos in der Luft, während schockierend heftige Schmerzen durch seinen Körper zuckten, begleitet von einem quälenden Druck.
Die Schmerzen betäubten ihn so sehr, dass er kaum spürte, wie der heilende Stoff um die Haken gewickelt wurde. Ebenso fasziniert wie entsetzt sah er zu, wie die Fremden auch darauf flüssiges Gold gossen und damit die Stellen rund um die Haken versiegelten und stützten, sodass die Haken nicht aus seinem Fleisch gerissen wurden und ihn fallen ließen.
Er brüllte und wand sich, zuckte wild hin und her, was den Schmerz nur noch schlimmer machte.
Sie brachten ihm ein langes goldenes Metallstück, das so gut poliert worden war, dass er sich darin erkennen konnte.
Ein riesiger Spiegel?
Das ergab keinen Sinn. Nichts hier ergab Sinn!
Ein anderer Fremder tauchte hinter ihm auf und spähte über seine Schulter hinweg in den Spiegel.
Egard schreckte bei dem Anblick zurück und sein Entsetzen ließ ihn einen Herzschlag lang seine Qualen vergessen. Denn das Gesicht dieses Fremden verbarg sich hinter einer Maske, wenn es denn eine Maske war. Sie sah aus wie ein menschlicher Schädel, den man in das Fleisch seines Gesichts gepresst hatte.
Egard versuchte, den Kopf zu drehen, um den Fremden anzusehen, doch der packte seinen Hinterkopf mit eisernem Griff und zwang ihn, in den Spiegel zu blicken.
Und in diesem Spiegelbild traf Egards Blick auf den des Fremden, der ihn festhielt, ihn tiefer in das Bild hineinlockte, tiefer in diesen monströsen Mann hinein.
Er fühlte die intime Invasion, den Fremden, der so spürbar in seinen Kopf eindrang, als würde er ihm die Finger in die Augenhöhlen stoßen. Er wand sich und schrie und schloss die Augen, aber es war zu spät.
Denn der schädelgesichtige Augur war in ihm, in seinen Gedanken, und suchte.
Aoleyn streckte abwehrend und verzweifelt die Hände aus und drehte den Kopf vor Entsetzen so schnell zur Seite, dass sie die Verwandlung ihrer Arme nicht einmal bemerkte.
Instinktiv sprang sie hoch und war bereits in der Luft, als ihr die Verwandlung auffiel. Auf einmal schwebte sie zwanzig Fuß über ihrem Angreifer, der schockiert zu ihr hochstarrte. Dann fiel sie auch schon und spannte sich vor dem Aufprall an.
Doch sie landete weich, sprang nach vorn und begrub den goldenen Mann unter sich. Sie schlug auf ihn ein, während er am Boden lag, und bemerkte erst dann, dass ihre Arme und ihre Beine wie die eines Leoparden aussahen und nicht wie die einer Frau.
Aoleyn zog den Kopf zurück und betrachtete den zerfleischten Fremden, der blutüberströmt und mit tiefen Wunden übersät unter ihr lag.
Was war geschehen? Wie hatte das passieren können?
Ihre Tätowierung, erkannte sie. Der Edelstein, der an eine Leopardentatze erinnerte, und mit dem sie ihren Körper verziert hatte, musste die Kontrolle übernommen haben. Vielleicht hatte sie ihn auch ganz unbewusst allein durch ihr Entsetzen beschworen. Ihr Überlebenswille hatte diese rasche Veränderung verlangt und so war sie geschehen, ohne dass Aoleyn sie bewusst eingeleitet hatte!
Sie zitterte und ihre Gedanken überschlugen sich, während sie versuchte, die schockierende Verwandlung zu verstehen.
Ihre Tätowierung? War die Verbindung wirklich so mächtig und tief gehend? Sie hatte in dieser verzweifelten Lage die Kontrolle übernommen und dadurch war Aoleyn etwas anderes geworden, etwas Animalisches und Monströses.
Wie die Fossa.
Sie starrte den zerfetzten Mann vor sich an, dessen Leben zusammen mit seinem Blut aus ihm wich.
»Nein!«, knurrte Aoleyn und zwang ihre Gliedmaßen, wieder zu denen einer jungen Frau zu werden. Sie beschwor sofort den Wedstein und verlangte nach seiner Heilmagie, die es ihr erlauben würde, den Fremden zu retten.
Sie wusste, dass sie die Gelegenheit zur Flucht hätte ergreifen sollen – die anderen Feinde hielten sich in der Nähe auf und hatten den Lärm bestimmt gehört. Aber sie blieb und rief nach der Magie. Er war ein Feind. Er hatte versucht, sie umzubringen. Sie wusste, dass sie das Recht hatte, ihn zu töten.
Sie wusste das, aber es interessierte sie nicht. Nicht dieses Mal, nicht, wenn etwas in ihrem Inneren, das sie nicht verstand, aber fürchtete, an ihrer Stelle gehandelt hatte. Sie blieb und brachte immer neue Wellen der Magie hervor. Sie änderte den Fokus des Wedsteins und benutzte ihn, um ihren Geist vom Körper zu lösen und in den des Verwundeten zu versetzen, von ihm Besitz zu ergreifen.
Ein Schwall von Worten und Bildern ergoss sich in ihren Verstand.
Xoconai.
Scathmizzane.
Goldene Tempel … Kuppelpyramiden … ein gewaltiger Talkessel, der am Meer endete …
So viele Bilder drangen auf sie ein. Nein, sie taten etwas anderes. Diese vielen Bilder informierten sie. Sie kehrte in ihren Körper zurück und atmete tief durch. Sie hörte, wie sich andere näherten. Sie musste hier weg.
Der Mann atmete nun wieder, lag aber reglos und halb bewusstlos vor ihr. Er war kein Goblin, das erkannte sie nun, wenigstens nicht äußerlich.
»Das ist keine Farbe«, flüsterte sie mit einem Blick auf die roten und blauen Markierungen auf seinem Gesicht.
Aber er war ein Mensch, das wusste sie nun. Eine Art Mensch, doch mehr konnte sie in diesem Moment nicht herausfinden. Und sie konnte auch nicht bleiben. Sie musste darauf hoffen, dass sie genug getan hatte, um ihn zu retten, um ihrer selbst willen, nicht nur um seinetwillen.
Sie beschwor den Mondstein in ihrem Bauchring und flog davon.
Der erschöpfte und ausgelaugte Egard verlor sich selbst in seinem Spiegelbild, das ihn von der anderen Seite des Todes wie Egards goldener Geist zu verhöhnen schien. Es schwebte vor ihm, während er ein wenig an seinen Haken zuckte, und eine Weile lang glaubte der durch die Schmerzen halluzinierende Mann, dass er dort sei, in dem Spiegel und nicht mehr in seinem Körper, als balanciere er auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod.
Das Gefühl wurde stärker, als Egard erneut das zweite Abbild im Spiegel bemerkte, ein Skelett oder einen hinter ihm schwebenden Schädel. Er hatte keine Angst. Seine Qualen waren so groß, dass er nicht mehr imstande war, Furcht zu empfinden.
Der Schädel ragte hinter seiner rechten Schulter hervor. Eine Hand, die aus Fleisch bestand und nicht nur aus Knochen, wurde gehoben und an seine Wange gepresst, und eine zweite legte sich auf die andere Wange, sodass beide seinen Kopf festhielten.
Der Schädel summte oder stöhnte oder etwas dazwischen.
»Pixquicauh«, sagte Egard, obwohl er das nicht beabsichtigt hatte und auch nicht wusste, was dieses Wort bedeutete.
Dann wurde Egard plötzlich und entsetzlich klar, dass er nicht mehr allein war, weder in diesem Raum noch in seinem eigenen Geist. Dieses Ungeheuer, was auch immer es war – Pixquicauh? – starrte ihn aus den Augenhöhlen des Schädels an und drang in seine Seele ein.
Er fühlte diese Präsenz und erinnerte sich erst da, dass er diese Erfahrung schon einmal gemacht hatte. Das Ungeheuer fragte ihn aus, durchsuchte ihn und holte sich die Antworten, bevor er sie geben konnte. Dieser Missbrauch ging tiefer und war schmerzhafter als die acht Haken, die man ihm ins Fleisch geschlagen hatte, denn das Ungeheuer riss nicht nur seinen Körper auseinander, sondern seine Identität.
Er zitterte und wand sich, um den Eindringling loszuwerden.
Doch der blieb und lächelte hinter seiner Maske.
Egard verlor sich langsam im Chaos seines zerbrechenden Verstands.
Dann, auf einmal, war er frei und wurde zurück in seine gegenwärtige Realität gerissen. Er war Egard, Neffe von Tay Aillig, und er hing an mehreren Haken vor einem goldenen Spiegel.
Das Ungeheuer blieb und starrte ihn über seine Schulter hinweg aus den Augenhöhlen des Schädels an.
Es verlangte etwas von ihm.
»Pixquicauh«, wiederholte er.
Das Ungeheuer lächelte hinter der Schädelmaske und ging davon.
Egard schwang an acht Haken hin und her.
Der steile Hang bereitete ihr keine Schwierigkeiten, denn einen Berg hinaufzufliegen, fiel ihr ebenso leicht, wie über einer Ebene zu kreisen. Und hier musste sich Aoleyn dank der vielen Vorsprünge, Baumreihen, Findlinge und Hügel nicht darum sorgen, entdeckt zu werden, was auch daran lag, dass es auf dem Berg an diesem frühen Morgen sehr diesig, aber nicht neblig war.
Sie blieb trotzdem sehr vorsichtig, im Gegensatz zum vorigen Tag, als sie denselben Berg hinabgeflogen war, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu geben, sich zu verstecken – eine offene Herausforderung an die Usgar, die sie jagten. Doch nun zogen ganze Kolonnen der seltsam aussehenden Invasoren über die Pfade des Fireach Speuer, vom Craos’a’diad am Gipfel bis zu dem zur Schlucht gewordenen See an seinem Fuß.
Aoleyn hielt irgendwann inne und benutzte die kleine Linse, die ihr Freund Talmadge ihr geliehen hatte, um einen Blick über das Becken bis zu dessen Nordrand zu werfen. Sie atmete auf, als sie dort keinen Eroberer entdeckte, und schöpfte Mut, dass ihre Freunde und die Flüchtlinge sich weiter rasch entfernten. Sie musste hierher zurückkommen, um den Feind auszukundschaften, um Informationen zu sammeln, aber die anderen mussten fliehen. Das rief sie sich ins Gedächtnis.
Aber sie wusste nicht so genau, woher sie diese Informationen bekommen sollte.
Sie berührte den Schmuck, den sie über der linken Ohrmuschel trug. In den Reif war ein kleiner Edelstein eingelassen, ein Katzenauge, das es ihr ermöglichte, auch im schwächsten Licht gut zu sehen. Der Reif selbst bestand aus Türkis und war somit magisch und mächtig. Aoleyn schloss die Augen und versetzte ihre Gedanken in den Reif. Sie hörte das ruhige Lied, das sie benutzte, um ihre Sinne zu einem nahe gelegenen Baum zu führen, wo ein kleiner Vogel auf einem Ast hockte.
Aoleyns Gedanken glitten in den Vogel hinein, übernahmen mühelos die Kontrolle und schon flog er los, schwang sich um den Berg herum und folgte den Hauptpfaden, die bis zum See hinunterführten. Sie spürte die Anspannung des kleinen Vogels und begriff durch dessen Sinne, dass er eine Eule entdeckt hatte – dann sah auch sie den Raubvogel.
Aoleyns Geist verließ den kleinen Vogel und huschte rasch zu ihrem Lieblingswirt hinüber. Nur einen Moment später erhob sich die Eule in die Luft, gelenkt von einer weit entfernten Frau.
Nun war ihr Gehör so scharf und fein, dass sie kurz darauf eine melodische, glatte Stimme hörte – sie hielt sie anfangs für die einer Usgar. Doch als sie die Kreatur sehen konnte, erkannte sie, dass die Tonlage sie getäuscht hatte, denn es handelte sich um einen männlichen Eroberer, einen großen und starken Mann, der Brennholz auf den Armen trug und auf eine gesattelte, an einen Baum gebundene Echse zuging.
Endlich hatte Aoleyn ein Ziel. Sie ließ die Eule mit ausgestreckten Krallen in den Sturzflug gehen, um dem Mann einen Schreck zu versetzen, und genoss es ein wenig, als er erschrocken das Brennholz fallen ließ und dabei Worte rief, die sie zwar nicht verstand, aber für Flüche hielt. Sie prägte sich das Gelände und dessen auffälligste Orientierungspunkte ein, dann gab sie die Eule frei und kam sofort wieder zu sich. Nun beschwor Aoleyn einen weiteren Edelstein. Sie legte die Hand auf ihre Hüfte und bedeckte mit den Fingern die große graue Einfassung des orangen Steins, der die Mitte des von ihrem Kettengürtel hängenden Medaillons bildete.
Erneut verließ sie ihren Körper, doch dieses Mal nicht nur als Gedankenstrahl, mit dem sie kurzzeitig ein Tier bewohnen konnte. Stattdessen ließ sie ihren Körper komplett zurück und unternahm eine Geistwanderung, die sie von ihrem Fleisch, ihren Knochen und ihrem Blut wegführte.
Sie warf einen Blick auf ihre körperliche Hülle, um deren Versteck zu überprüfen, dann stieg sie empor und stellte sicher, dass sich keine Feinde in der Nähe aufhielten. Anschließend machte sie sich auf die Suche nach dem Brennholzsammler, den sie mühelos fand. Er fluchte immer noch, während er die Holzscheite wieder auf seinem Arm stapelte.
Aoleyn fuhr wie eine Sturmböe in ihn, überwältigte ihn, bevor er die Besitzergreifung durchschauen konnte, und griff seinen Verstand und seinen Geist an. Sie hatte ihn völlig überrascht und konnte ihn deshalb schnell beherrschen. Sie versiegelte seinen Geist in einer Tasche tief in seinem Bewusstsein, bevor sie dieses Bewusstsein nach dem durchsuchte, was sie haben wollte: ausführliche Versionen der kurzen Einblicke, die sie bei den anderen Sidhe, mit denen sie verschmolzen war, gewonnen hatte – nein, keine Sidhe, sondern Xoconai.
Sie stieß schon bald auf Antworten. Bilder des Krieges, der Eroberung, der totalen Weltherrschaft traten vor ihr geistiges Auge. Eine gewaltige Kolonne dieser seltsamen Humanoiden, Zehntausende – mehr Wesen, als Aoleyn je zuvor gesehen oder sich hatte vorstellen können –, die sich versammelten, um in den Krieg zu ziehen. Und an ihrer Spitze ein golden leuchtender Gott, riesig und wunderschön und schrecklich.
Sie erkannte ihn.
Sie hatte ihn auf dem Drachen, der durch den Himmel zu schwimmen schien, reiten sehen.
Aoleyn schreckte zurück.
Ihr werdet scheitern, vermittelte sie dem Xoconai in seiner eigenen Sprache. Es faszinierte sie, wie leicht ihr die Sprache dank der engen geistigen Verbindung mit diesem Fremden fiel.
Sie spürte die Verwirrung des Xoconai und verstand viele der stummen Fragen, die auf sie einströmten, die verblüfften Gedanken.
Aoleyn floh aus dem Bewusstsein des Wesens und kehrte in ihren Körper zurück. Sie wusste, dass der Eroberer, der Xoconai, nach ihrem brutalen Angriff benommen sein würde und das, was ihm widerfahren war, vielleicht nie richtig verstehen würde. Schon bald flog sie erneut den Berg hinauf, doch dieses Mal in ihrem Körper. Sie musste hier oben noch eine Aufgabe erledigen, bevor sie zu ihren Begleitern – wenn man sie so nennen wollte – zurückkehrte und ihnen berichtete, was sie erfahren hatte.
Und dann würden sie und die anderen diesen Ort verlassen und weit, weit weggehen.
Sie stieg über die westliche Gipfelkette zur Spitze des Fireach Speuer empor und überquerte dabei auch den Bereich, in dem sie vor langer Zeit zum ersten Mal die dämonische Fossa gesehen hatte. In dieser Nacht hatte sie auf einer Kiefer im heiligen Hain ihres Volks gehockt. Sie erreichte den Rand eines Bergkamms und warf einen Blick zurück auf ihre alte Heimat.
Auf dem Winterplateau der Usgar wimmelte es von Eroberern. Ein Stück näher, aber immer noch weit genug entfernt, sah sie das heilige Wäldchen und die Wiese, die man Dail Usgar nannte. Dort bewegten sich mehrere Personen und sie hörte leisen Gesang. Das weckte ihre Neugier, ängstigte sie jedoch auch. Hatten einige aus ihrem Volk überlebt? Waren Mairen und die Hexen dort? Oder hatten die Xoconai diesen rituellen Ort an sich gerissen?
Schließlich hatte sie früh an diesem Morgen beobachtet, wie ihr Gott Dail Usgar auf seinem schlangenartigen Drachen verlassen hatte.
Aoleyn widerstand der Versuchung, sich das Ganze näher anzusehen, und rief sich ins Gedächtnis, dass sie aus einem anderen Grund hier oben war, einem, der es ihrer Flüchtlingsgruppe hoffentlich erleichtern würde, diese Gegend ganz hinter sich zu lassen. Außerdem, dachte sie, als eine Erinnerung in ihrem Kopf auftauchte, gibt es eine Stelle, von der aus ich die Geschehnisse in Dail Usgar besser sehen kann, ohne in Gefahr zu geraten. Also flog sie in Richtung Osten, zum höchsten Gipfel von Fireach Speuer.
Die Usgar nannten ihn Craos’a’diad, den Mund Gottes, aber für Aoleyn war das gähnende Loch im Hochplateau oben auf dem Fireach Speuer nichts weiter als eine Hinrichtungsgrube – allerdings eine, die zu einer Reihe von kristallverkrusteten Höhlen führte, die wunderbar magisch waren. Doch die Gedanken an die Schönheit, die sie dort unten erwartete, reichte nicht aus, um ihr das Betreten des Abgrunds zu erleichtern, denn dies war tatsächlich der Ort, an dem die Usgar ihre Opfer darbrachten.
Unter ihnen war auch Aoleyn gewesen.
Sie näherte sich der Stelle vorsichtig von oben und nutzte dabei jede Deckung, die sie finden konnte. Und das war auch gut so, merkte sie schlagartig, denn an diesem Tag hielten sich überraschend viele Eroberer hier oben auf. Einige bauten Gebilde, die sie nicht einordnen konnte, andere stellten überall goldene Ornamente auf. Aoleyn fiel auf, dass alle, Männer und Frauen, diejenigen, die ihr wie Krieger erschienen, und die, die wohl zum einfachen Volk gehörten, diese erstaunlich bunten Gesichter besaßen, mit der roten Nase und den blauen Linien. Bei einigen waren die Farben kräftiger als bei anderen, aber jedes Gesicht wirkte bemerkenswert einzigartig.
Zwar schienen sie den Abgrund nicht zu bewachen, aber dort hinzukommen, würde nicht einfach sein.
Aoleyn fragte sich, ob sie vielleicht lieber in der Nacht zurückkehren sollte.
Nein. Sie schüttelte entschlossen den Kopf. Sie hatte den Bau der dämonischen Fossa betreten. Sie hatte sich dem Zorn von Mairen und dem Zirkel gestellt und sie hinweggefegt. Sie hatte sich auf einen Kampf mit Tay Aillig eingelassen und er war nun tot, während sie selbst unverletzt geblieben war.
Erneut griff sie nach ihrem Mondstein und schöpfte dessen Kraft vollständig aus. Sie beschwor das Graphitstück in ihrem Fußkettchen und warf dessen Magie zu der des Mondsteins, wo sie kochte und umherwirbelte. Eine Gewitterwolke bildete sich, die Aoleyn in Richtung Craos’a’diad lenkte.
Die Xoconai sahen gleichzeitig auf, offensichtlich überrascht über den plötzlich heranziehenden Sturm, obwohl solche Ereignisse in den Bergen natürlich nicht ungewöhnlich waren.
Aoleyn brachte ihren Sturm dazu, Regen auf die Xoconai prasseln zu lassen. Als sie Blitze hinzufügte, suchten einige Xoconai Schutz, während andere versuchten, die Gegenstände, die sie auf das Plateau gebracht hatten, in Sicherheit zu bringen.
Aoleyn lächelte über ihren klugen Einfall, griff nach ihrem Diamanten und noch einmal nach dem Mondstein. Sie prägte sich den Weg ein und erschuf eine Kugel aus Dunkelheit um sich herum, die ihre Gestalt verbarg.
Sie ließ einen weiteren Blitz aus ihrer Gewitterwolke fahren, der in das Gestein einschlug, dann stieg sie rasch empor und ließ einen dritten Blitz folgen, der die Xoconai ablenkte, während sie in den Abgrund eintauchte und unbemerkt in seiner dunklen Tiefe verschwand.
Dort angekommen, verkehrte sie ihren Dunkelheitszauber ins Gegenteil, sodass sie nun von etwas Licht umgeben war. Die Grube war sehr tief, aber in der Felswand gab es Höhlen, die sich auf verschiedenen Ebenen durchs Gestein zogen. Aoleyn suchte sich die höchste davon aus. In den Höhlen dort wuchsen riesige Kristalle aus den Wänden. Sie war bei ihrem ersten Besuch schon einmal hier entlanggegangen, während ihrer Prüfung, die darüber hatte entscheiden sollen, ob sie sich dem heiligen Zirkel der dreizehn Hexen, die für den Gott Usgar tanzten, anschließen durfte.
In diesen Höhlen hatte sie ihren magischen Schmuck aus den Steinen angefertigt, die man in den Kristallen finden konnte.
Nun brauchte sie mehr.
Sie ließ die Kräfte, die in ihren eigenen Steinen wohnten, ruhen, bis auf die in einem roten Granat, der an ihrem rechten Ohrring hing. Mit seiner Hilfe konzentrierte sie sich auf die Schwingungen der Magie, von der sie umgeben war, und zündete diamantgefleckte Kristalle wie Fackeln im Vorbeigehen an. Mit der Kraft des Granats, einem Stein, der ihr Magie in der Nähe offenbarte, lauschte Aoleyn auf Veränderungen in der Musik der Steinvibrationen. Sie suchte nach Kräften, die sich von denen unterschieden, die sie bisher gesammelt hatte.
Das Höhlensystem war lang und verwinkelt und die Arbeit kostete viel Zeit, aber jedes Mal, wenn Aoleyn aufgeben wollte, stieß sie auf einen Kristall, der von einer Energie erfüllt war, die sie noch nie für ihre Zwecke benutzt hatte. So fiel ihr einer auf, der von grünen und roten Streifen durchzogen war, ein Blutstein. Als sie sein Lied beschwor, spürte sie, wie ihre Muskeln sich anspannten. Einen Moment lang befürchtete Aoleyn, sie würde sich erneut in einen Jaguar verwandeln, aber nein, sie wurde einfach nur stärker – viel stärker.
Sie suchte weiter.
Außerhalb der Höhlen wich der Tag allmählich der Nacht, aber Aoleyn suchte weiter. Als sie müde und hungrig wurde, kehrte sie zum Abgrund zurück. Sie flog jedoch nicht empor. Stattdessen wandte sie sich den unteren Tunneln zu und einem Raum, den sie wochenlang bewohnt hatte, während sie sich von ihrer versuchten Opferung erholt hatte. Sie betrat eine warme Kammer, die sich in einer tiefen Höhle befand. Hier befand sich ein kleiner Wasserfall, der sich rauschend in einen Teich voller Fische ergoss. Magische Energie durchzog die Wände der Kammer. Aoleyn badete und aß und schlief, aber nur kurz. Noch vor Sonnenaufgang nahm sie ihre Arbeit wieder auf.
Der zweite Tag ging vorbei und Aoleyn suchte weiter, nun jedoch mit einer Handvoll Kristalle, in denen unterschiedliche Edelsteine steckten und die sie in ihrer kleinen Tasche verstaut hatte.
Sie befürchtete zwar, dass es ihr schwerfallen würde, ihre flüchtenden Begleiter wiederzufinden, hätte aber ihre Suche trotzdem fortgesetzt, weil es sicherlich noch weitere Schätze zu finden gab, wenn sie nicht auf einmal ein Lied gehört hätte, eine Melodie, die sich von der, die sie kannte, unterschied, aber von Stimmen gesungen wurde, die ihr bekannt vorkamen.
Der Zirkel sang in dieser Nacht lauter, intensiver und kraftvoller.
Neugierig kehrte Aoleyn in die Teichkammer zurück, denn von hier unten aus, das wusste sie, ließ sich der Zirkel in Dail Usgar gut ausspionieren. Die mächtige Hexe beschwor die Kraft des Wedsteins, ließ ihre sterbliche Hülle neben dem unterirdischen Teich liegen und flog zur Decke hinauf. Sie entdeckte eine magische Kristallader nahe dem Wasserfall, folgte ihr an den höheren Höhlen vorbei zur Oberfläche und fuhr in den Gottkristall, den schrägen Obelisken, den die Usgar als ihren Gott bezeichneten, der in der Mitte der Lichtung stand, auf der die Hexen tanzten und sangen.
Und sie tanzten tatsächlich, obwohl sie nur zu zwölft waren, wie Aoleyn auffiel, nachdem sie eine Weile damit verbracht hatte, die in einem Kreis um sie herumwirbelnden Körper zu zählen. Sie konnte durch den Kristall nach draußen sehen, allerdings nicht sonderlich gut, deshalb wusste sie nicht, wer fehlte. Allerdings nicht Mairen, da war sie sich sicher, denn die Usgar-righinn, die Anführerin des Zirkels, stand an ihrer üblichen Stelle neben dem Gottkristall und leitete das Lied mit lauter, klarer Stimme.
Kurz darauf überkam Aoleyn ein Frösteln zusammen mit einem tief greifenden Unwohlsein.
Sie hatte sich schon einmal so gefühlt, in der Nähe des Abgrunds, wo die Geister der Toten festgehalten wurden. Da sie sich nicht in ihrem Körper befand, konnte sie den Atem nicht anhalten, aber sie hielt stattdessen mit ihren Gedanken inne, denn ihr Geist war nervös und spürte eine Gefahr.
Ein Xoconai betrat das Plateau. Aber nicht nur irgendein Xoconai. Nein, es war der Riese, der so groß wie die Bäume, schlank und schön war.
Und schrecklich. Aoleyn spürte seine Macht.
Die unangenehme Kälte um sie herum nahm zu und sie erkannte zu ihrem Entsetzen, dass sie von den Seelen stammten, die in diesem Augenblick durch den Kristall glitten und sich wie die Saat eines Mannes auf der heiligen Lichtung ausbreiteten. Dort wuchsen sie und nahmen eine geisterhafte Gestalt an, wie aus Nebel geformte Männer und Frauen, deren verzerrte Gesichter ihren Qualen Ausdruck verliehen.
Auch sie fingen in unmittelbarer Nähe des Kristalls an zu tanzen und Aoleyn betrachtete sie, ihre Gesichter – und erkannte sie wieder! Wenigstens einige, denn es waren Usgar, Mitglieder ihres eigenen Stammes.
Sie sah Tay Aillig!
Und sie sah die Geister von Xoconai, so viele von ihnen, ebenso wie die von unzähligen Seebewohnern.
Sie tanzten und wirbelten umher, bis sie den großen Xoconai-Gott erreichten. Dann verblichen sie, ihre Essenz schwand und wurde anscheinend von dem riesigen Wesen vor ihnen absorbiert.
Nein, nicht absorbiert, das wurde Aoleyn kurz darauf klar: Das, was sie gewesen waren, wurde vernichtet, ihrer Essenz wurde die Identität geraubt und ihre Seelen wurden …
Zu was?
Aoleyn spürte, wie Energie in den Gottkristall strömte, wie er die zerstörten Seelen einsammelte und immer stärker wurde.
Die Hexen um sie herum tanzten und erwiesen diesem Ungeheuer, diesem ruhmreichen, goldenen Gott singend ihre Ehrerbietung.
Und das Wesen betrachtete den Gottkristall – nein, sie! – und lächelte. In diesem Moment wusste Aoleyn, dass es sie sah, obwohl sie unsichtbar hätte sein sollen.
Sie floh. Aoleyn floh, um ihres Lebens willen, um ihrer Seele willen, um ihrer Ewigkeit willen.
Sie floh zurück in den Körper, der in der Höhle tief unterhalb der Lichtung neben dem Teich lag. Sie floh zu Fuß durch den Tunnel zum Abgrund, weckte die Kraft des Mondsteins und flog so schnell sie konnte hinauf, bis sie aus Craos’a’diad herausschoss. Es kümmerte sie nicht, ob jemand etwas davon mitbekam, aber sie hatte Glück, denn zu dieser dunklen Stunde hielten sich weder Xoconai noch andere Lebewesen dort oben auf.
So schnell sie konnte flog sie den Berg hinab und am Westrand der großen Schlucht entlang. Ihr Ziel war der Ort, an dem sie ihre Begleiter zurückgelassen hatte.
Aoleyn kannte nur das Leben auf dem Fireach Speuer, doch nun wusste sie, dass sie fliehen musste.
Und zwar so weit, wie sie konnte.