Читать книгу Hexenzirkel 3: Das Lied des auferstandenen Gottes - R.A. Salvatore - Страница 6
ОглавлениеDer Staub der Zeit begrüßte Bruder Thaddius Roncourt von der abellikanischen Kirche, als es ihm und seiner Begleiterin endlich gelang, die in einen Hügel eingelassene Steinplatte aufzustemmen. Thaddius legte den Kopf in den Nacken, um die abgestandene Luft besser genießen zu können, schloss die Augen und gab sich seiner Hoffnung hin.
Unterdessen stemmte sich Schwester Elysant mit einem angestrengten Ächzen fester gegen ihren Stab, den sie als Hebel benutzte, um die Steinplatte – nein, das war keine Platte, sondern eine richtige Tür, die an gebogenen Metallhaken aufgehängt war – weiter zu öffnen. Da die Tür schräg war, drückte ihr Gewicht auf den stabilen Stab.
»Hilf mir doch mal bitte, Held der Faulheit«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Bruder Thaddius griff nicht nach der Tür, sondern hob die Hand, in der er einen großen Malachit hielt. Er vertiefte sich in dessen Lied und attackierte das Gewicht der Tür mit der gegensätzlichen Magie des Edelsteins.
Elysant trat vor, als sie spürte, wie sich der Druck verringerte. Die Tür schwang vollends auf und schlug gegen den Hang.
»Sieh dir die mal an«, sagte sie bewundernd und berührte die gebogenen Türangeln. »Fünftes Jahrhundert?«
»Mindestens sechstes«, erwiderte Thaddius. Sie kannten solche Türangeln natürlich aus St.-Mere-Abelle, denn das alte Kloster war Stück für Stück über neunhundert Jahre hinweg errichtet worden, was sich in seiner Architektur widerspiegelte.
»Und etwas, das man nicht in den Wildlanden erwarten würde«, fügte Elysant hinzu.
Bruder Thaddius nickte und betrachtete das dunkle Loch, das sich nun vor ihm auftat. Stellte es wirklich ein Tor in eine andere Zeit dar? War dies tatsächlich eine Gruft abellikanischer Brüder? Vielleicht sogar die Gruft von Heiligen, unter ihnen auch der wichtigste Abellikaner, der je gelebt hatte? Ihm fiel das Atmen schwer, was nicht an der abgestandenen Luft lag.
Seit Monaten durchsuchten Thaddius und Elysant bereits die Ausläufer des Gürtel-und-Schnalle-Gebirges ein großes Stück südwestlich der Stadt Ursal. Sie waren den Gerüchten und Legenden der Menschen gefolgt, die sich in dieser als südliche Wildlande bekannten Region niedergelassen hatten. Bislang war es eine frustrierende, oft sogar äußerst ärgerliche Entdeckungsreise gewesen, denn die Bräuche der unzivilisierten Einwohner kamen Thaddius fremd und empörend vor. Bei ihnen handelte es sich wie auch bei den beiden Mönchen um Bärländer, darunter viele, die dem Königreich Honce-der-Bär den Rücken gekehrt hatten, um in diesem ungezähmten Land Freiheit und vielleicht sogar Reichtum zu finden; außerdem gab es eine Menge Nachfahren der Auswanderer aus Thaddius’ Heimat, die in dieser Region geboren worden waren.
Obwohl die Wildvölker, wie Thaddius sie nannte, sich größtenteils als Abellikaner bezeichneten, hatten nur wenige Thaddius und Elysant mit offenen Armen empfangen. Stattdessen brachten sie den beiden Mönchen aus Honce-der-Bär großes Misstrauen entgegen. Wenn sie ein Dorf besucht hatten, hatten die Bewohner unablässig hinter dem Rücken der Mönche getuschelt und viele, vor allem Kinder, hatten sich in den Schatten versteckt, wenn sie vorbeigingen.
»Fühlst du es?«, fragte Thaddius und als er seine Begleiterin ansah, wusste er, dass er die Frage nicht klarer formulieren musste.
»Die Tür war nicht jahrhundertelang verschlossen«, bemerkte sie nickend. »Die Pflanzen, die sie bedecken, sind nicht so alt.«
»Was glaubst du, wie lange es her ist?«, fragte Thaddius.
Sie ging näher heran und betrachtete die Wurzeln, darunter auch solche, die irgendwann abgeschlagen worden waren. »Jahrzehnte?« Das war ebenso sehr eine Frage wie eine Feststellung und sie fügte ein Schulterzucken hinzu, um zu verdeutlichen, dass sie sich nicht festlegen wollte.
»Fünfundzwanzig Jahre?«, fragte Thaddius.
Elysant zuckte erneut mit den Schultern.
»Genau wie uns der alte Mann berichtet hat«, sagte Thaddius, womit er den älteren Dorfbewohner meinte, der Thaddius und Elysant den Weg zu diesem unauffälligen, in einem Wald am Rande der Zivilisation verborgenen Hügel beschrieben hatte.
»Bis jetzt wissen wir noch gar nichts darüber«, rief sie ihm ins Gedächtnis.
Bruder Thaddius nickte und zog einen weiteren Edelstein aus seinem Beutel, einen Diamanten. Er suchte nur einen Moment lang nach dem Lied des magischen Steins, dann brachte er ein helles Leuchten aus ihm hervor und hielt ihn hoch wie eine Fackel.
Er machte einen Schritt auf den Eingang zu, aber Elysant stellte sich ihm in den Weg. Mit einer Hand streckte sie ihren Stab in die Dunkelheit, während sie sich halb zu ihm umdrehte und die andere auf Thaddius’ Brust drückte, um ihn aufzuhalten.
»Du machst deine Arbeit, ich meine«, sagte sie.
Thaddius lachte leise über ihre vorgetäuschte Ernsthaftigkeit. »Wenn wir recht haben, ist dies ein Ort der Toten«, rief er ihr ins Gedächtnis.
»Und wenn es noch andere Wege ins Innere gibt, dann vielleicht auch ein Zuhause für Schlangen oder Skorpione?«
Thaddius reagierte darauf, indem er die Magie des Diamanten in seiner Hand verstärkte und ihn deutlich heller leuchten ließ.
Der kurze Tunnel führte durch natürliches Gestein und Dreck, durchzogen von einigen Wurzeln. Der Boden bestand jedoch aus flachen und überwiegend ebenen Steinplatten. Der Gang führte nach rechts zu einer weiteren steinernen Tür, die allerdings offen stand. Elysant stieß sie mit ihrem Stab vollends auf, sodass die Treppe zum Vorschein kam, die dahinter abwärts führte.
Sie stiegen sie hinab. Die Sicht wurde ihnen von der niedrigen Decke versperrt, deren Schräge sich parallel zur Treppe hinabzog, zumindest bis zum ersten Absatz. Dort machte die Treppe eine scharfe Rechtskurve und die schräge Decke endete nach einem Dutzend Stufen in einer annähernd quadratischen Höhle aus behauenem Gestein. Elysant ging in die Hocke und bat flüsternd um mehr Licht. Ihr Ton verriet Thaddius, dass er sich beeilen musste. Er hockte sich neben sie und verstärkte erneut das magische Diamantlicht. Der Anblick, der sich ihm und Elysant daraufhin bot, entlockte beiden ein Keuchen.
Am Ende der Treppe lag eine fast gänzlich skelettierte Leiche, die in Lumpen und Felle gehüllt war – die typische Bekleidung der Wildmenschen. Eine zweite Leiche lag zerschmettert und mit verdrehten Gliedmaßen in der linken Ecke des kleinen Raums, aber die beiden Mönche verschwendeten kaum einen Blick an sie.
Denn dies war tatsächlich eine Gruft, und zwar eine alte. In der Mitte jeder Wand stand ein steinerner Sarkophag, doch nur der an der gegenüberliegenden Wand war noch geschlossen. Ein fünfter Sarkophag, der größte von allen, befand sich im Zentrum des Raums. Große Steine sorgten dafür, dass man den Deckel nicht abnehmen konnte.
»Was?«, fragte Elysant und sah ihren Begleiter an.
Thaddius schüttelte unsicher den Kopf, rang sich aber zu einer Antwort durch. »Die Grabräuber, nehme ich an. Der Aberglaube der Wildmenschen sitzt tief.«
Sie wagten sich langsam in den Raum hinein und Elysant stieg vorsichtig über die Leiche am Fuß der Treppe hinweg. Sie ging zu dem Sarg, der an der Wand gleich links von ihr stand. Die Steinplatte, die ihn bedeckte, war so weit beiseitegeschoben worden, dass sie einen Blick ins Innere werfen konnte: Dort lag ein zerbrochenes Skelett, das ein zerschlissenes, abellikanisches Gewand trug.
»Komm mit dem Licht näher«, bat sie und beugte sich über eine Inschrift. Sie blies den Staub von den uralten Schriftzeichen, zog den Ärmel ihres Gewands über die Hand und rieb über die Buchstaben, bis sie das Gedicht vorlesen konnte:
Hier ruht Meister Percy Fenne,
Der wie ein Held aus Sagen
Goblins mit großer Kraft erschlug,
Bis zwanzig vor ihm lagen.
Hier ruht Meister Percy Fenne,
Er wäre noch am Leben,
Hätte es da nicht zwanzig
Und einen Feind gegeben.
Elysant lachte unwillkürlich. »Sogar im Tod waren sie tapfer«, sagte sie.
»Weil sie ihren Glauben hatten und deshalb nicht verzweifelten«, fügte Bruder Thaddius hinzu, bevor auch er leise über das auf geistreiche Weise makabre und amüsante Gedicht lachte.
Thaddius richtete sich auf und drehte um, während Elysant seinem Beispiel folgte. Dann trat er an den mittleren und beeindruckendsten Sarkophag heran. Sie blieb jedoch stehen und zeigte auf die Rückwand, an der sich der kleinste Sarg befand, der anscheinend noch nicht ausgeraubt worden war.
»Bei Sankt Abelle«, flüsterte sie.
»Der alte Mann hatte recht«, sagte Thaddius.
Wie ein schwarzes Maul starrte es sie an, offen und abweisend.
Aber dort wollten sie hinein.
»Hey, wart’ ab und lass ihnen Zeit«, flüsterte ein kräftiger Mann und packte seinen Freund am Arm, der bereits seinen gespannten Bogen in der Hand hielt und losgehen wollte.
Dem Rest der Gruppe gefiel das nicht.
»Soll’n sie uns doch die Drecksarbeit abnehmen«, sagte der kräftige Mann.
»Der dürre Kerl und das kleine Mädchen?«, fragte eine stämmige Frau hinter ihm skeptisch.
»Mit ’nem Hammer klappt’s jedenfalls nich’, da kannste so hart zuschlagen, wie du wills’«, sagte der Älteste in der Gruppe, ein Mann mittleren Alters. Er war der Sohn des ältesten Einwohners ihres Dorfes und hatte diese Geschichten sein ganzes Leben lang gehört.
»Ja, die erledigen die Drecksarbeit und dann erledigst du den Dürren, so schnell du kannst«, sagte der kräftige Mann zu seinem Freund, dem Bogenschützen.
»Genau wie du vermutet hattest«, flüsterte Schwester Elysant, als Thaddius sein magisches Werk an der vergleichsweise kleinen Kiste beendet hatte. Erneut hielt er den Diamanten empor, reduzierte jedoch dessen Leuchtkraft – er wusste nicht genau, warum ihm das wichtig war, aber irgendwie kam ihm das respektvoller vor. Er wich ein Stück zurück, als Elysant vorsichtig den Deckel, der sich nun bewegen ließ, von der Truhe schob. Und es handelte sich tatsächlich um eine Truhe, keinen Sarg, denn im Gegensatz zu den vier anderen Behältnissen war dieses nicht für einen Toten bestimmt gewesen.
Elysant war erstaunlich stark für ihre Größe und so gelang es ihr, den Deckel sanft zu Boden gleiten zu lassen. Sie warf Thaddius über ihre Schulter einen ratsuchenden Blick zu, denn er war noch einen Schritt zurückgewichen und rührte sich nun nicht mehr.
»Thaddius?«, fragte sie.
Er antwortete nicht. Er konnte sich nicht dazu überwinden, vorzutreten und einen Blick in die Truhe zu werfen. Er erinnerte sich an die vielen Schritte, die ihn an diesen Ort und zu diesem Moment geführt hatten – falls es sich wirklich um das handelte, was er annahm und nach dem er sich vor Sehnsucht fast verzehrte.
»Dann stimmte es also«, sagte Elysant, der es schwerfiel, Worte hervorzubringen, denn ihre Lippen zitterten, obwohl es nicht kalt war. Die kleine Frau stellte sich zögernd auf die Zehenspitzen und warf einen Blick in die Steintruhe, allerdings nur einen kurzen Moment lang, dann wandte sie sich ab. Thaddius erkannte, dass sie sich genauso fühlte wie er.
»Wenigstens taugen die Heiden doch mal zu etwas«, sagte Bruder Thaddius, um der Situation die Spannung zu nehmen.
»Heiden?«, fragte Elysant skeptisch.
»Du hältst sie doch nicht wirklich für Abellikaner, oder?«, erwiderte Thaddius. »Siehst du sie beten oder Opfer darbringen? Ich halte sie für Samhaist und keine Abellikaner – oder schlimmer noch, für eine Mischung aus beidem, was verdammenswerter wäre als einfach nur ein Samhaist zu sein.«
»Weil Abellikanismus so rein ist?«, fragte Elysant grinsend, während sie ihren Kampfstab kreisen ließ. Damit wollte sie Thaddius nicht gerade subtil daran erinnern, dass sie von Pagonel, einem Jhesta-tu-Mystiker aus dem weit entfernten Behren, zur Kriegerin ausgebildet worden war.
»Das ist nicht dasselbe«, widersprach Bruder Thaddius, schüttelte dann jedoch den Kopf und ließ die Diskussion auf sich beruhen, weil er wusste, dass er sie nicht gewinnen konnte. Seit einem Jahrzehnt fungierte Schwester Elysant als sein mentales Gegenstück. Sie forderte ihn immer wieder heraus und manövrierte ihn gerne (und öfter als ihm lieb war) in logische Ecken hinein, aus denen er nicht entkommen konnte. Die Vorstellung, dass Elysant, die drei Jahre jünger als er war und noch keine dreißig, zu seiner wichtigsten Lehrerin geworden war, amüsierte Thaddius.
Er hoffte, dass sie ihn auch so sah.
»Sie glauben das, was sie glauben müssen, um die Prüfungen, die dieses harte Land ihnen auferlegt, bestehen zu können«, entgegnete Elysant. »Und um das Leben selbst meistern zu können, denn der Tod beobachtet sie ständig mit hungrigen Augen. War unser eigener Glaube vor ein paar Jahren so gefestigt? War es deiner?«
»Wir stehen vor einem großen Schatz und streiten uns über Politik«, erwiderte Thaddius und stieß ein nervöses Lachen aus.
»Wir stehen vor den Geheimnissen der ersten und größten abellikanischen Mönche – zumindest hoffen wir das«, rief ihm Elysant ins Gedächtnis. »Nur dank Politik und Glauben betrachten wir sie überhaupt als Schätze.«
Bruder Thaddius entfernte sich noch weiter von der offenen Truhe und musterte die Frau mit eindringlichem Blick, obwohl er in Gedanken über sich selbst urteilte und natürlich nicht über sie. Er dachte sorgfältiger über ihr Argument nach, vor allem wegen seines eigenen inneren Konflikts, der im Rahmen der Umwälzungen des Bürgerkriegs entstanden war, der Honce-der-Bär vor mehr als einem Jahrzehnt verwüstet hatte. Bruder Thaddius hatte zu den Streitkräften gehört, die das wichtigste Kloster der Welt, die Abtei von St.-Mere-Abelle, verteidigen sollten. Dabei hatten sie unter dem Kommando von Vater Abt Fio Bou-raiy gestanden, einem Abellikaner, der sich den Glaubenssätzen des kurz davor heiliggesprochenen Bruders Avelyn Desbris verschrieben hatte. Avelyn betonte in seinen Lehren Mitgefühl und Toleranz, was so weit ging, dass er sogar die Schönheit der magischen Ringsteine verbreiten wollte.
Ihnen gegenüber standen die Streitkräfte der dämonischen Ausgeburt König Aydrian Boudabras, der mit seiner mächtigen Armee einen Angriff gegen St.-Mere-Abelle gestartet hatte, die letzte Bastion des Widerstands gegen seine drakonische Herrschaft. Zu dieser Armee gehörten auch einige abellikanische Mönche, die von dem grimmigen und mächtigen Meister De’Unnero angeführt worden waren.
De’Unnero.
Bruder Thaddius Roncourt verzog schon das Gesicht, wenn er nur an den Namen dachte. Marcalo De’Unnero hatte an die alten Bräuche geglaubt, an Urteil und Strafe, daran, dass die Kirche allein das Recht hatte, die Ringsteine zu horten, und dass das Leid der Welt den armen Abschaum lehren sollte, dass man nur auf Erlösung hoffen konnte, wenn man sich der abellikanischen Kirche unterwarf und ihr huldigte. Vater Abt Bou-raiys gütige Umarmung war auf den Schlag von De’Unneros Arm getroffen, der sich gleichsam in eine todbringende Tigerpranke verwandelt hatte.
Beide Männer waren bei dieser Schlacht, in der sogar ein Drache aus der Wüste von Behr mitgemischt hatte, umgekommen, ebenso wie viele Tausend andere, aber Bou-raiys Seite hatte sich durchgesetzt. St.-Mere-Abelle war siegreich, König Aydrian war geschlagen und wurde verbannt und der sanftmütige Braumin Herde, ein Freund und Jünger von St. Avelyn stieg zum Vater Abt der abellikanischen Kirche auf.
Bruder Thaddius verstand mittlerweile, dass die Seite, die auf Güte und Gemeinschaft setzte, gewonnen hatte. Aber er wusste auch, ebenso wie seine Begleiterin, die zu seiner besten Freundin geworden war, dass er die innere Reise zu seiner momentanen Philosophie als heimlicher Anhänger von Marcalo De’Unnero angetreten hatte.
»Urteile nicht über die Leute hier, Bruder«, sagte Elysant, als hätte sie seine Gedanken gelesen, was, wie Thaddius erkannte, gerade wohl nicht besonders schwer war. »Deine Empörung lastet schwerer auf dir als auf ihnen. Sie wissen nur, was sie wissen, so wie wir nur wissen, was wir wissen.«
»Und nun sind wir hier«, erwiderte Thaddius leichthin und grinste. Es war ein ehrliches Lächeln, das ihm die unbezahlbaren Relikte entlockten, die nun anscheinend zum Greifen nahe waren. Zögernd kehrte er zu dem offenen Sarg zurück, dem einzigen, der von Vandalismus und Plünderung durch andere ungebetener Besucher verschont geblieben war. Die Kerben auf dieser Truhe – das Behältnis trug keine Inschrift und war ansonsten frei von jeglichen Zeichen oder Einritzungen – ließen erkennen, dass Grabräuber vergeblich versucht hatten, sie aufzubrechen, so wie der alte Dorfbewohner behauptet hatte. Er hatte den beiden Mönchen von Geschichten erzählt, in denen es hieß, einer der Särge hätte selbst den schwersten Hämmern der Diebe widerstanden. Nur diese eine unverzierte Truhe, die ansonsten bescheiden wirkte, passte zu dieser Beschreibung und wies die entsprechenden Kratzer auf.
Thaddius nahm an, dass sich in den anderen vier Särgen die Leichen und Habseligkeiten uralter abellikanischer Mönche befunden hatten. Wahrscheinlich hatten nur einige Knochen und verrottete Stoffreste die Plünderungen überstanden, so wie es beim ersten Sarg der Fall gewesen war. Doch diese letzte ungeöffnete Truhe war kein Sarg. Wer auch immer die Toten hier zur Ruhe gebettet hatte, war bei dieser Truhe besonders sorgfältig vorgegangen. Thaddius nahm an, dass sich einer der hier bestatteten Mönche kurz vor seinem Tod darum gekümmert hatte. Denn dieser Schatz war magisch versiegelt worden und ließ sich nicht mit Gewalt öffnen. Der Stein war mit der magischen Macht des orangefarbenen Zitrinsteins verstärkt und zu einem Stück verschmolzen worden, sodass er sich weder mit Hammer noch Streitkolben oder roher Gewalt zertrümmern ließ.
Bruder Thaddius besaß jedoch etwas anderes als die vorherigen Eindringlinge. Er besaß Ringsteine. Er besaß Magie. Und er hatte diese Magie benutzt: zuerst den mächtigen Sonnenstein, um die vielen Schutzzauber, von denen die Truhe umgeben war, zu entfernen. Dann ein poliertes Stück Zitrin, den Stein der Erde, nicht etwa, um den Deckel aufzubrechen, sondern um ihn sanft vom Rest der Truhe zu trennen.
»Wirst du hineinsehen?«, fragte Elysant nach einer langen Pause.
Thaddius atmete tief durch.
»Ich weiß«, stimmte die Frau zu und trat dann plötzlich vor, stellte sich ihrer Angst vor einer Enttäuschung und warf einen Blick in die offene Truhe. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und kicherte nervös.
»Was ist?«
»Komm her«, sagte Elysant. »Komm doch her!«
»Ist es …?«
Die Frau wandte sich nicht von der Steintruhe ab, sondern winkte ihn nur aufgeregt heran. Sie keuchte erneut und kicherte lauter, als sich Thaddius mit dem leuchtenden Diamant näherte und die Schönheit des Anblicks gänzlich zum Vorschein brachte.
Denn in dieser Steintruhe standen drei Kästchen aus Alabaster, die mit Gold überzogen waren, in das man immergrüne Blätter und andere Symbole der abellikanischen Kirche eingraviert hatte. Die Füße der Kästen bestanden ebenfalls aus Gold. Diese Kisten stellten für sich genommen bereits einen Schatz dar, deuteten jedoch auch an, dass sich in ihrem Inneren etwas noch Wertvolleres befand.
»Das waren keine gewöhnlichen Brüder«, flüsterte Thaddius ehrerbietig. »Das hier ist nicht einfach eine Gruft für gefallene Mönche.«
»Ja, das denken wir auch schon fast ’n Leben lang«, sagte eine Stimme am Eingang und als die beiden Mönche herumwirbelten, sahen sie eine Handvoll grobschlächtige Leute, die mit gezogenen Waffen die Gruft betraten.
Der kräftige Mann, der als Erster gesprochen hatte, verriet Bruder Thaddius, was sich hier gerade abspielte, denn er erkannte in ihm den Sohn des Dorfbewohners, der ihn zu diesem Ort geführt hatte. Sie hatten ihn und Elysant benutzt, um auch die letzte Truhe zu öffnen! Unwillkürlich fragte er sich, ob er den Deckel nicht einfach wieder verschließen und versiegeln konnte, doch er wusste, dass ihm dazu die Zeit fehlte.
»Gibt keinen Grund, dass ihr hier draufgehen müsst«, sagte der kräftige Mann.
»Quatsch, Mönche als Zeugen können wir nich’ brauchen«, zischte ein anderer. Er hob seinen Bogen und zielte damit auf Thaddius.
»Hier drin stehen aber noch mehr Kisten«, rief Elysant. »Die werdet ihr ohne uns nicht öffnen können!«
Eine Frau drückte die Arme des Bogenschützen nach unten, sodass er die Waffe sinken ließ.
»Na, dann woll’n wir mal verhandeln«, sagte der kräftige Mann.
Aber Bruder Thaddius hörte gar nicht richtig zu. Er rieb einige Edelsteine zwischen den Fingern, beschwor deren Magie und bereitete sich auf einen Angriff vor. Er zählte fünf Gegner, nahm aber an, dass sich weitere auf der Treppe befanden.
Fünf Feinde, zwei Fackeln.
Thaddius versenkte sich in die Schwingungen des Mondsteins, ließ die Magie, die sich danach sehnte, freigelassen zu werden, seine Sinne kitzeln.
»Und?«, fragte der kräftige Mann, der sich neben den mittleren Sarkophag stellte und sein Schwert senkte, sodass es auf Thaddius gerichtet war, der keine zwei Schritte von ihm entfernt stand. »Du holst jetzt raus, was in der Kiste is’, und legst es aufn Boden«, befahl er Elysant.
Die kleine Frau warf Thaddius einen fragenden Blick zu, der kaum wahrnehmbar nickte. Die beiden reisten und kämpften seit einem Jahrzehnt zusammen – zwischen ihnen brauchte es nicht viele Worte.
»Sofort!«, schrie der kräftige Mann, also setzte sich Schwester Elysant in Bewegung, doch nicht in Richtung der offenen Steintruhe.
Sie sprang auf den doppelt so großen Mann zu und ließ ihren Stab herumwirbeln. Der Riese riss die Augen auf und krächzte überrascht, als sie den Stab so präzise und kraftvoll herumschwang, dass ihm das Schwert aus der Hand geprellt wurde.
Elysant bremste den Schlag ab, indem sie ihre obere Hand lockerte und den Stab mit der unteren herabzog, sodass sich ihre Hände nun nahe seiner Mitte befanden und sie ihn vertikal drehen konnte. Ein Stoß mit der oberen Hand ließ den Stab gegen den Kopf des Manns krachen. Er hob die Arme, um ihn zu parieren, aber das spielte keine Rolle, denn es war nur eine Finte. Elysant drehte die obere Hand, sodass der Daumen nach unten zeigte, zog sie zurück und nach unten, während sie die Schultern zurücknahm, einen Schritt nach vorn machte und alle Kraft in einen nach oben gerichteten Stoß mit der linken Hand legte.
Der stabile Stab traf den Mann zwischen die Beine, krachte gegen seine Hoden und hob ihn auf die Zehenspitzen.
Die Bande hinter ihm brüllte und stürzte sich nun auch in den Kampf. Der Bogenschütze hob erneut seine Waffe und zog sich zu einem zweiten Schützen zurück, der geduckt auf der Treppe stand.
Doch in diesem Augenblick schlug Bruder Thaddius zu und beschwor mit der Macht des Mondsteins eine Wand aus Wind, die er genau vor Elysant platzierte und auf die Treppe richtete.
Der kräftige Mann, der seine zerquetschten Hoden umklammerte und sich ohnehin kaum noch auf den Beinen halten konnte, wurde umgerissen und krachte gegen den Sarkophag, der rechts neben der Treppe stand. Beide Bogenschützen versuchten zu schießen, aber ihre Pfeile kamen dem Ziel nicht einmal nahe, denn auch sie verloren den Halt. Einer knallte gegen die Wand, der andere prallte mit ihm zusammen.
Die beiden Fackeln erloschen im Wind und Thaddius brach im selben Moment den Leuchtzauber seines Diamanten ab, sodass es in der Gruft auf einmal stockdunkel war. Thaddius ging hinter der Kopfseite des mittleren Sarkophags in Deckung, damit dieser sich zwischen ihm und dem Eingang befand. Er spürte, wie jemand sich neben ihn hockte, und wusste, dass es sich um Elysant handelte.
Er drehte sich und tippte ihr auf die Schulter, damit sie wusste, dass sie sich bereithalten musste, dann kroch er vorsichtig um den Sarkophag herum und rief sich die Steine ins Gedächtnis, die jemand darauf gestapelt hatte. Er setzte die Energie eines anderen magischen Steins frei, einem Stück Graphit.
Ein Blitz riss die Gruft aus der Dunkelheit und zeigte ihm die Räuberbande. Ein zweiter Blitz fächerte sich auf und traf gleich drei von ihnen, darunter auch beide Bogenschützen.
Dann kehrte die Schwärze zurück.
»Jetzt«, flüsterte Elysant und Thaddius weckte erneut das Licht des Diamanten. Die Ordensschwester sprang hinter dem Sarkophag hervor und stieß dem kräftigen Mann das Ende ihres Stabs wie einen Speer ins Gesicht. Seine Nase knirschte, er verdrehte die Augen und ließ seine Hoden los, um stattdessen nach seinem flach gedrückten Riechkolben zu greifen, aus dem Blut strömte.
Zwei andere stürzten nach vorne und trieben sie zurück, sodass Elysant dem kräftigen Mann nicht den Rest geben konnte. Der dritte noch stehende Grabräuber umrundete den Sarkophag auf der anderen Seite und griff Thaddius an.
»Hinter mich!«, schrie Elysant, während sie sich in die rechte Ecke der Gruft hinter der kleineren Truhe zurückfallen ließ, möglichst weit weg von der Treppe.
Thaddius eilte in diese Ecke und versenkte sich in seine Magie. Er war sich sicher, dass die kampferprobte Elysant ihm Zeit verschaffen würde. Sie setzte ihren Stab ungeheuer geschickt ein, schlug den Speer einer Frau zur Seite, parierte mit derselben Bewegung einen Schwertstoß und drehte den Stab, um erneut die Speerträgerin anzugreifen.
Es gelang ihr sogar, den Schwertkämpfer im Gesicht zu treffen, während sie wieder ihre Verteidigungshaltung einnahm. Doch sie wusste, dass sie und ihr Begleiter in Schwierigkeiten steckten.
»Beeilung«, flehte sie, denn auf der Treppe kam gerade einer der Bogenschützen auf die Beine und versuchte, einen Pfeil an die Sehne zu legen. Gleichzeitig schüttelte eine stämmige Frau die Nachwirkungen des Blitzschlags ab. Sogar der kräftige Mann kämpfte sich wankend hoch.
Und der Mann in der Mitte des Raums, der Thaddius hatte angreifen wollen, änderte seine Taktik, kletterte auf den Sarkophag im Zentrum und hob einen der schweren Steine über den Kopf.
Elysant zog ihren Stab erneut von rechts nach links, um einen Speerstoß zu parieren. Dann duckte sie sich und wich nach links aus, gerade noch rechtzeitig, um dem Schwertschlag ihres anderen Gegners zu entkommen.
»Mach das Licht aus!«, schrie sie, während sie den Stab vorschnellen ließ, um den Schwertkämpfer zurückzutreiben.
Bruder Thaddius konnte ihre Aufforderung nachvollziehen, war jedoch anderer Meinung, denn es war bereits zu spät. Der Mann auf dem Sarkophag schleuderte den Stein in ihre Richtung und Dunkelheit würde nur verhindern, dass Thaddius und Elysant ihm ausweichen konnten.
Der Stein flog in hohem Bogen über die beiden Räuber hinweg und zwang Elysant, sich verzweifelt zu ducken, während sich Thaddius hinter ihr rasch drehte und den Stein instinktiv mit der Hand zur Seite schlug, sodass der ihn nur streifte und abgesehen von einem blutenden Finger und einer geprellten Hüfte keine körperlichen Schäden anrichtete, sondern gegen die Wand krachte und zu Boden fiel.
Das Problem war jedoch, dass Thaddius mit der Hand, in der er die magischen Edelsteine hielt, nach dem Stein geschlagen hatte. Zwei entglitten ihm dabei, unter anderem auch ein heilender Seelenstein, sodass ihm nur der Diamant und ein weiterer Stein blieben!
Elysant kämpfte wütend gegen ihre beiden Gegner, als sich ein dritter dazugesellte: Die Frau, die auf der Treppe gestanden hatte, drang ebenfalls auf sie ein und die Ordensschwester wehrte sie mit einem heftigen Stabstoß ab, der ihr den Atem raubte und ihre männlichen Begleiter innehalten ließ.
Thaddius suchte nach seinen verlorenen Schätzen.
»Das Licht!«, schrie Elysant.
»Nein, nicht der!« Der kräftige Mann mit der zertrümmerten Nase schrie anscheinend den Mann auf dem mittleren Sarkophag an. »Nein, leg ihn wieder hin!«
Thaddius spähte hinüber. Der Mann auf dem Sarg hatte bereits den nächsten Stein über den Kopf gehoben. Ihm das Licht zu rauben, würde nichts bringen.
Doch der Mann mit dem Stein zögerte und musterte seinen Freund überrascht, der ihn gerade so unerwartet heftig angebrüllt hatte, was Thaddius die Zeit verschaffte, die er für einen weiteren Windzauber benötigte.
Mit einer Böe riss er den Steinwerfer vom Sarkophag. Dieser ging hart zu Boden, der Stein traf ihn schwer an Schulter und Kopf und die anderen, kleineren Steine rutschten nach und landeten ebenfalls auf ihm.
Thaddius kommentierte den Sieg mit einem Knurren. Wenn er doch nur seine anderen Edelsteine finden könnte.
In der Sekunde, als er seine Suche fortsetzen wollte, sorgte ein lautes Krachen dafür, dass er sich sofort umdrehte. Schockiert sah er zu, wie der Deckel des mittleren Sarkophags zur Seite glitt und zu Boden fiel.
Schreie gellten durch die Gruft.
»Weg!«, heulte der kräftige Mann.
Der Inhalt des Sargs erhob sich, eine verdorrte Leiche, die ein abellikanisches Gewand trug und eine dünne schwarze Kapuze, unter der ein runzeliges Gesicht mit lippenlosem Grinsen hervorlugte. In den nahezu skelettierten Händen hielt sie einen Stab, der aus poliertem Stein zu bestehen schien.
Der immer noch hinkende kräftige Mann lief auf die Treppe zu, aber der schaurige Neuankömmling sprang aus seinem Sarg, landete neben ihm und zog ihm den Stab über den Kopf, wobei er den Schädel zerschmetterte, sodass der Mann in einer Fontäne aus Blut, Knochen und Gehirn zu Boden ging.
Der Bogenschütze auf der Treppe schoss einen Pfeil aus nächster Nähe ab, der, so schien es Thaddius, sein Ziel eigentlich hätte treffen müssen, es jedoch verfehlte, als der Untote den Kopf leicht drehte.
Der Bogenschütze wartete allerdings nicht ab, um zu sehen, wie erfolgreich er gewesen war. Kaum hatte der Pfeil die Sehne verlassen, stürmte er auch schon die Stufen hinauf. Sein Begleiter, der sich halbwegs von Thaddius’ Blitzschlag erholt hatte, folgte ihm mit qualmender Kleidung und tanzenden Haaren.
Doch die Stufen vor ihm leuchteten plötzlich auf und der zweite Bogenschütze brüllte vor Schmerz, als er sie betrat.
Der Zombieghoul wandte sich von ihm ab.
Thaddius wusste nicht, was er machen sollte. Der Kampf vor ihm hatte geendet, denn die drei Angreifer waren an den Rand der Gruft geflohen, wo sie sich an die Wand drückten und verzweifelt nach einem Fluchtweg suchten. Und Elysant schien nicht an ihrer Verfolgung interessiert zu sein, sondern konzentrierte sich auf die größere Monstrosität.
»Tu doch was«, bat sie ihren magiekundigen Freund.
Aber Thaddius hatte keinen Schimmer, was er unternehmen sollte. Er überlegte kurz, das Diamantlicht erlöschen zu lassen, in der Hoffnung, dass es ihm und Elysant gelingen würde, zum Ausgang zu gelangen, bevor das Ungeheuer sie erwischte.
Der Mann auf der Treppe schrie noch immer vor Schmerz. Er war auf die rot glühenden Steinstufen gefallen. Seine Kleidung hatte Feuer gefangen und erhellte die Gruft. Er wand sich, fiel von den Stufen und landete auf dem Sarkophag an der Wand. Dann rutschte er zu Boden und wurde von den Flammen verzehrt.
Der Zombie wandte sich nach rechts, wo zwei von Elysants Angreifern nun einen Bogen schlugen und versuchten, zur Treppe durchzukommen. Die Frau, die sich als Letzte in den Kampf gestürzt hatte, schlich an der rechten Wand entlang und stolperte über die offene Steintruhe. Dann, als das grausige Ungeheuer sich auf ihre Begleiter stürzte, preschte sie zur Treppe.
Die wie immer tapfere Kriegerin Elysant sprang jedoch auf den Zombie zu.
Nein! Lauf weg!, wollte Thaddius ihr zurufen, aber er bekam die Worte nicht über die Lippen – und dann kamen sie ihm ohnehin sinnlos vor, denn der in sein Gewand gehüllte Zombie erledigte die beiden Männer an der gegenüberliegenden Wand schnell und mühelos. Sein Steinstab durchschlug den Schild des Schwertkämpfers mit bemerkenswerter Kraft, traf ihn an der Schulter und schleuderte ihn hoch in die Luft. Der Mann prallte gegen die Wand.
Die Frau mit dem Speer stach nach dem Zombie, aber der riss seinen Stab brutal nach unten, wobei er nicht nur die Waffe zerschmetterte, sondern auch den Arm, der sie hielt. Dann zuckte der Stab hoch und schien sie nur leicht am Kinn zu berühren, doch die Frau wurde zur Seite geschleudert. Sie landete auf den Knien neben einem der Särge an der Wand. Ihr Kopf prallte gegen den Deckel und sie blieb benommen in dieser Stellung hocken.
Der Zombie hob den Steinstab, um sie hinzurichten.
»Nein!«, brüllte Elysant und schlug dem Zombie ihren Holzstab mit solcher Kraft auf den Rücken, dass jeder normale Mensch zu Boden gegangen wäre.
Sie rettete die Grabräuberin, denn der Tote hielt inne. Die Frau kreischte erschrocken und warf sich zur Seite, dann kam sie stolpernd auf die Füße und lief zur Treppe, auf der die andere Frau bereits keuchend versuchte, über die geschmolzenen Stufen zu hüpfen.
Elysant ließ sich zurückfallen, als das grausige Ungeheuer sich langsam zu ihr umdrehte.
»Lauft weg!«, schrie sie Thaddius zu, ebenso wie dem Mann, der durch die Luft geschleudert worden war, und dem, der noch am Boden hinter dem mittleren Sarkophag lag und sich erst jetzt von den Steinen befreite.
»Und du fährst zurück zur Hölle!«, knurrte die Ordensschwester und deckte den Zombie mit einer Reihe kraftvoll und schnell geführter Stöße und Schläge ein.
Der Steinstab drehte sich, zuckte nach unten und nach oben und wurde schließlich senkrecht auf den Boden gestellt, nachdem er jeden Angriff der erfahrenen Kämpferin gekonnt und mühelos abgewehrt hatte.
Elysant ließ sich erneut zurückfallen. »Lauft weg«, wiederholte sie, allerdings nicht mehr ganz so selbstsicher. Sie knurrte, straffte sich und fügte mit kräftigerer Stimme hinzu: »Wenn euch euer Leben lieb ist.«
Der Mann an der Wand schlich hinter dem Zombie vorbei und auch der am Boden wollte davonkriechen, aber der Zombie hob den Stab, um ihn zu zerschmettern.
Elysants Stab zuckte vor und drückte die Waffe ihres Gegners geschickt zur Seite. Damit verschaffte sie dem Verwundeten genügend Platz, um an dem Zombie vorbeizukommen.
Der Zombie trat zurück und stellte seinen Stab ab. Seine toten, lidlosen Augen starrten die Frau an. Das Grinsen des Ungeheuers schien irgendwie breiter zu werden, während es langsam nickte, als wollte es ihr Anerkennung zollen.
Der letzte Räuber hastete die Treppe hinauf und jaulte, als seine Stiefel auf den glühenden Steinen qualmten.
»Gnade«, sagte der Untote immer noch nickend und obwohl er das Wort nur undeutlich hervorbrachte, sodass es wie »Nade« klang, konnte Elysant es verstehen.
»Lauf, Thaddius«, sagte sie und stellte sich breitbeinig hin.
Aber Thaddius rührte sich nicht, suchte nicht einmal nach seinen Edelsteinen. Er stand nach vorn gebeugt mit dem Diamanten in der Hand da und starrte den Zombie mit offenem Mund an.
»Lauf!«, brüllte Elysant, als wollte sie versuchen, ihn aus einer Trance zu reißen.
»Gewartet«, keuchte der Ghoul. »…lich frei …«
Elysant holte zum Schlag aus.
»Warte!«, schrie Thaddius ihr zu.
»Er hat unsere Gegner ohne zu zögern angegriffen«, fuhr Thaddius fort, als sie innehielt. »Warum? Warum ist er jetzt so ruhig?«
»End…lich fr…ei«, brachte das grausige Ungeheuer mühsam hervor. »Wäch…ter … nehmt … alles.«
»Was soll das heißen?«, fragte Elysant scharf.
Der Zombie streckte die knochige Faust aus und öffnete sie. Zwei Steine fielen zu Boden: ein orangefarbener Zitrin, der dem ähnelte, mit dem Thaddius die Steintruhe geöffnet hatte, und ein leuchtend roter Rubin. Auch den Stab, den er in der anderen Hand hielt, ließ er los und der steinerne Gegenstand landete mit einem Knall vor Elysants Füßen.
»Nehmt«, stöhnte der Zombie. Er löste den Verschluss seines Umhangs und seiner Kapuze und ließ beides zu Boden fallen. »Nehmt alles.«
Thaddius und Elysant wichen angeekelt zurück, als der Untote sein Gewand aufschnürte. »Ich … bin frei … Kann endlich … ruhen.«
Das Gewand fiel zu Boden. Der nackte Leichnam zitterte einige Momente heftig, dann brach er zusammen und bildete einen Haufen aus Knochen und papierdünner grauer Haut.
Elysant wich einen Schritt zurück. »Bei Sankt Abelle«, flüsterte sie.
Bruder Thaddius trat an ihr vorbei, um den Zitrin und den Rubin aufzuheben. Er verharrte in seiner gebückten Haltung und betrachtete den langen, schmalen Stab. »Stein«, sagte er kopfschüttelnd, denn er wusste nicht, wie das sein konnte. Er streckte die Hand danach aus, zögerte dann aber, richtete sich auf und wandte sich mit ungläubiger Miene an seine Begleiterin. »Der Stab scheint aus Stein zu bestehen, aus feinstem Marmor. Wie kann das sein?«
Elysant ließ ihren eigenen Stab fallen, kam heran, nahm die ungewöhnliche Waffe in beide Hände und hob sie mit einem Knurren auf. Ihre Augen weiteten sich.
»Was ist?«, wollte Thaddius wissen.
»Macht«, hauchte sie. »Die Verzauberung. Ich kann sie spüren.« Probeweise führte sie ein paar Stöße und Schläge mit der Waffe aus, schwang sie mit einer Hand hinter ihren Rücken und fing sie mit der anderen auf. Dann hielt sie sie abwehrend vor sich. »Perfekt ausbalanciert.«
»Ein solcher Stein ist doch viel zu brüchig«, argumentierte Thaddius.
Zur Antwort hob Elysant den Stab über den Kopf und ließ ihn mit aller Kraft auf den Rand des mittleren Sarkophags hinabfahren. Er traf ihn mit solcher Wucht, dass ein Splitter vom Rand absprang, aber der Stab selbst zeigte nicht mal einen Kratzer.
»Anscheinend nicht«, sagte die Frau kopfschüttelnd. Sie war sichtlich beeindruckt von diesem Schatz.
»Das Ungeheuer wollte, dass wir alles nehmen«, sagte Thaddius nachdenklich, während Elysant sich vorbeugte, um den Schaden, den ihr Stab an dem Sarkophag hinterlassen hatte, zu begutachten. »Es bewachte …«
»Das war kein Ungeheuer!«, unterbrach ihn Elysant, die nun nicht mehr den Sarkophag musterte, sondern mit weit aufgerissenen Augen den herabgerutschten Deckel anstarrte.
»Was hast du entdeckt?«
»Belfour Albrek«, las sie leise vor, als kämen ihr die Worte kaum über die Lippen. »Der Fels von Vanguard.«
»Sankt Belfour«, hauchte Thaddius, fiel sofort auf die Knie und begann, vor lauter Überwältigung zu schluchzen. Der untote Geist von Sankt Belfour hatte sie gerettet!
Elysant kniete ebenfalls nieder, lachend und keuchend, nicht weinend, aber alles, was sie von sich gab, war ebenfalls Ausdruck ihrer ungläubigen Ehrfurcht.
Nach einer langen Weile und vielen Gebeten hoben die beiden alles, was von der Leiche übrig war, vorsichtig auf und trugen es zu dem offenen Sarg. Doch dann hielten sie inne, denn das Innere war nicht leer. Dort lagen ein zweiter Stab und ein kleiner Beutel.
Thaddius nahm den Beutel, öffnete ihn und nickte, als er darin einen kleinen Haufen heiliger Ringsteine entdeckte. Als Elysant den Stab in die Hand nahm, nickte sie jedoch nicht.
»Was ist?«, fragte Thaddius.
»Der ist nicht zum Kämpfen«, erwiderte die Frau und hielt den Stab hoch.
Thaddius richtete den magischen Diamanten darauf und verstärkte dessen Licht. Der leichte Stab bestand aus Holz, aber aus einem, das er noch nie gesehen hatte. Es war grün und von silbernen Linien durchzogen. Sechs ebenfalls silberne Fassungen waren darin eingelassen und wurden von einer Linie miteinander verbunden, die wie ein Faden wirkte, den man aus Seelensteinen gewoben hatte. In einer der Fassungen steckte ein weiterer Diamant.
»So etwas habe ich noch nie …«, begann der Mönch, als er Elysant den Stab aus der Hand nahm. Der Satz endete in einem Keuchen, denn als er das Artefakt berührte, hörte er das Lied dieses Diamanten so laut wie das von dem, den er in der anderen Hand hielt, so als hätte er ihm die Magie bereits entlockt.
Er begegnete Elysants Blick und lächelte breit. »Nicht für deine Art des Kampfes«, bemerkte er trocken. Er sehnte sich danach, diesen Schatz so schnell wie möglich richtig auszuprobieren. »Bringen wir das hier zu Ende, damit die Toten endlich in Würde ruhen können.«
Die beiden arrangierten die Leiche von Sankt Belfour ehrfürchtig in ihrem Sarkophag. Dann verschloss Thaddius begleitet von vielen Gebeten den Deckel mit Belfours Zitrin.
Sie nahmen die beiden Stäbe, das Gewand, den Umhang und die Kapuze und Thaddius fand auch seine eigenen Edelsteine wieder, die er zu den anderen in den Beutel legte. Sie entfernten die drei Kästen aus der Steintruhe, bevor Thaddius sie ebenfalls mit dem magischen Edelstein erneut versiegelte.
»Jetzt kann er ruhen«, sagte Thaddius, als er sich auf der mittlerweile abgekühlten Treppe ein letztes Mal umdrehte.
»Er hat darauf gewartet, dass Abellikaner kommen und die Gegenstände einsammeln«, sagte Elysant. Sie betrachtete das Gewand, das sie in der Hand hielt. »Wir hätten ihn ankleiden sollen.«
»Er hat das Gewand als einen weiteren Schatz für uns fallen lassen«, erwiderte Thaddius. »Wieso hätte er das tun sollen, wenn er wollte, dass wir es ihm wieder anziehen?« Er lächelte seine Begleiterin an. »Du kämpfst im selben Stil wie Sankt Belfour. Trage es.«
Elysant warf dem Gewand einen skeptischen Blick zu.
»Er war nicht viel größer als du«, sagte Thaddius scherzhaft.
»Das gehört in eine Vitrine«, argumentierte sie. »Wir dürfen es nicht verrotten lassen.«
»Wenn das wirklich das Gewand von Sankt Belfour ist, dann liegt es hier seit über zweihundert Jahren«, rief ihr Thaddius ins Gedächtnis. »Nach all dem, was wir hier gefunden haben und nach der Anweisung des Heiligen, alles mitzunehmen, bezweifelst du da wirklich, dass es voller Magie steckt? Zieh es an, meine Liebe.« Er betrachtete den Sarkophag in der Mitte der Gruft und Elysant folgte unwillkürlich seinem Blick. »Wenn ich das richtig verstanden habe, hat dich der Geist eines Heiligen gebeten, es zu tragen.«
Elysants Hände zitterten ununterbrochen, während sie sich umzog. Sie konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich die Robe des legendären Sankt Belfour von Vanguard anlegte.
»Und?«, fragte Thaddius, als sie das Gewand festschnürte. Es saß etwas locker, aber nicht zu sehr.
Elysant lächelte und nahm den Steinstab entgegen. Sie schien etwas sagen zu wollen, lächelte aber dann einfach immer breiter, während sie ungläubig den Kopf schüttelte.
Thaddius verstand den Grund. Sie spürte die Macht, die magische Energie, den heiligen Ruhm.
»Lassen wir diesen Ort weit hinter uns«, sagte Thaddius.
»Was ist mit den geflohenen Dieben?«
Bruder Thaddius schüttelte den Kopf. Er wusste, dass sie keine Rolle spielten. Sie waren völlig unbedeutend.