Читать книгу Hexenzirkel 3: Das Lied des auferstandenen Gottes - R.A. Salvatore - Страница 16
Flucht und Kampf
ОглавлениеEr war allein. Hing hin und her schwingend vor dem Spiegel und abgesehen von einem Wächter, der gelegentlich die Fackeln austauschte, leistete ihm nur sein Spiegelbild Gesellschaft.
Sie gönnten Egard nicht einmal Dunkelheit. Selbst dieses bisschen Würde verwehrten sie ihm. Sie wollten, dass er sich selbst in dem goldenen Spiegel hilflos an den Haken hängen sah. Sie wollten, dass er jeden sinnlosen Versuch, einen Arm so weit zu drehen, dass er einen der Haken aus dem anderen Arm ziehen konnte, beobachten konnte. Sie wollten, dass er sein eigenes schmerzverzerrtes Gesicht sah, wenn ihn die Frustration überkam und er sich hin und her warf, um die Haken einfach herauszureißen, damit er zu Boden fiel, was ebenso aussichtslos war.
Dass sie ihm keinerlei Beachtung schenkten, so als hätte er nicht die geringste Bedeutung, war vielleicht das Schlimmste für den gefangenen Usgar-Krieger. Als der letzte Wächter eintrat, um ihm neue Fackeln zu bringen, hatte Egard geschrien und gebettelt, hatte sich fast komplett herumgeworfen, bevor der Schmerz ihn dazu zwang, zum Spiegel zurückzukehren und in hilfloser Erschöpfung wie gelähmt dazuhängen.
Dieser Wächter hatte ihm nicht einmal das rot-blaue Gesicht zugewandt, hatte Egard keines Blickes gewürdigt und die Schreie des gequälten Manns eiskalt ignoriert.
Er war ihnen egal.
Abgesehen von einem gelegentlichen Besucher, dem Priester, dessen Gesicht zur Hälfte aus einem Schädel bestand, der über seine Schulter spähte und ihn einer schlimmeren Qual und Misshandlung aussetzte, als dies mit irgendeinem Folterinstrument möglich gewesen wäre.
Wenn dieser Schädel im Spiegel auftauchte, wusste Egard, was ihm bevorstand. Die Kreatur starrte ihn aus den Augenhöhlen in der Schädelmaske an, fing Egards Blick ein und drang durch diese Augen in seine Seele ein.
Der Missbrauch überstieg Egards dunkelste Ängste. Seine Seele und seine Gedanken, seine Identität, alles, was ihn zu Egard machte, wurde von dieser monströsen Kreatur freigelegt. In diesen Momenten der erzwungenen und brutalen Intimität verhöhnte der Priester ihn, indem er Egard Bilder zeigte, die ebenso schrecklich wie furchteinflößend waren.
Der dämonische Priester genoss es, ihm seine Geheimnisse, seine Ängste, seine Fehlschläge zu entreißen, und genoss es noch mehr, dieses Wissen gegen ihn zu verwenden.
Wenn die Verhöre – nein, das waren nicht nur Verhöre, das war eine mentale, emotionale und spirituelle Erosion – vorbei waren, wenn der Priester ihm so viel entzogen hatte, wie es ihm möglich war, ließ er Egard einige Stunden lang mit seinem Schmerz allein. Aber jedes Mal versprach er ihm, die Informationen, die er erlangt hatte, gegen alles einzusetzen, das Egard etwas bedeutete.
»Töte mich«, flüsterte Egard nach der letzten Seeleninvasion.
Zu seiner Überraschung antwortete ihm der Priester diesmal. »Nein«, sagte er in Egards Sprache, einer Sprache, die er dem Usgar-Gefangenen gestohlen hatte. »Du bist noch nicht leer. Du darfst erst sterben, wenn du ausgehöhlt worden bist.«
Er ging gleichgültig davon. Und Egard ließ den Kopf hängen und hoffte auf den Tod.
»Welchem Zweck dient das Ganze, abgesehen von deinem Vergnügen?«, fragte Tuolonatl den Hohepriester Pixquicauh, als der alte Augur das Gefängnis verließ. Im Gegensatz zu dem Mann, den sie angesprochen hatte, trug Tuolonatl keinen formellen Titel, obwohl viele sie Cochcal nannten – ein Rang, der sie als General der Xoconai-Armee auswies. Sie brauchte keinen Titel. Die Frau mittleren Alters war allen Xoconai in ganz Tonoloya ein Begriff. Sie führte die Mundunugu-Kavallerie an, die Elite, die höchste Kriegerkaste des buntgesichtigen Volks, todbringende Krieger, die auf den Cuetzpali, ihren Kragendrachen, ritten. Der Gottkönig Scathmizzane hatte den alten Auguren zum Hohepriester ernannt, zu seinem sterblichen Sprachrohr, und er hatte Tuolonatl dazu bestimmt, diesen glorreichen Marsch der Xoconai-Nation anzuführen, der Groß-Tonoloya, ein Land, in dem die Sonne über einem Meer aufging und über dem anderen versank, wiederherstellen sollte. Sie würden gen Osten marschieren, bis das Land endete.
Dass sie die Armeen anführte, war die einzig vernünftige Entscheidung gewesen. Es gab zwar viele Helden unter den Xoconai, aber Tuolonatls Stern leuchtete heller als alle anderen.
Dem alten Augur, der mittlerweile Hohepriester Pixquicauh genannt wurde, wäre es jedoch lieber gewesen, das Glorreiche Gold hätte sich für jemand anderen entschieden. Er fand Tuolonatl unerträglich und bei Weitem nicht religiös genug.
»Du hältst es nicht für wichtig, so viel Wissen wie möglich über unsere Feinde zu erlangen?«, fragte er die Frau.
»Es gibt wesentlich bessere Verhörmethoden. Einschmeicheln, sie zu Freunden machen, sich ihr Vertrauen erarbeiten. Dann verraten sie einem so viel mehr.«
Pixquicauh schnaubte, weil er sie für naiv hielt. Er fragte sich, wie es einer derart weichen Person wie ihr gelungen war, an die Spitze der kampfgestählten Mundunugu zu gelangen.
»Es wurde oft versucht und bewiesen«, antwortete sie.
»Ich spreche ihre Sprache«, gab der alte Augur an. »Du auch?«
Er sah, dass ihr diese Enthüllung einen Schock versetzte, und das freute ihn ungemein. Zudem entsprach dies der Wahrheit: Scathmizzanes goldener Spiegel hatte es ihm erlaubt, tief in die Gedanken des Gefangenen einzudringen, und diese Gedanken wurden übersetzt, wenn er sie aufspürte und abschabte. Dadurch beherrschte der alte Augur die Sprache des Gefangenen mittlerweile so gut, als hätte er sie sein Leben lang gesprochen.
Ein weiteres Wunder des Glorreichen Golds!
»Und ich muss nicht herausfinden, ob er mir die Wahrheit erzählt oder eine Lüge«, fügte Pixquicauh hinzu. »Er kann sich nicht vor mir verstecken. Wenn er darüber nachdenkt, mich mit seinen Antworten zu täuschen, dann höre ich diesen Gedanken, als hätte er ihn laut ausgesprochen.«
»Musst du ihn an Haken hängen?«
»Die Folter schwächt ihn. Das erleichtert mir meine Aufgabe. Stört es dich, große Tuolonatl, wenn Scathmizzanes Anordnungen sich leichter erfüllen lassen?«
Die Frau setzte eine mürrische Miene auf, sodass die Falten rund um ihre Augen und ihre zusammengekniffenen Lippen sichtbar wurden und ihr Alter verrieten. Nur wenige würden sie für knapp fünfzig halten, das wurde Pixquicauh klar, als er sie musterte. Ihre Muskeln waren fest, ihre Bewegungen von einer Grazie erfüllt, die man mit Jugend assoziierte, und auf ihrem Gesicht lag immer noch der Glanz jugendlicher Unschuld, obwohl allgemein bekannt war, dass diese Frau Massen von Feinden abgeschlachtet hatte.
»Es wundert mich, dass dir das so wichtig ist«, sagte er. »Sind die Geschichten über deinen blutigen Macana erfunden? Ist der Haufen Wurfspeere, der von Tuolonatls Siegen kündet, eine Übertreibung?«
»Ich lasse mich von dir nicht provozieren, Hohepriester«, sagte sie. »Wir beide dienen Scathmizzane, dem Glorreichen Gold, dem Gottkönig, der auf Kithkukulikhan reitet. Dank seines Segens haben wir diese Stellung.«
»Dann solltest du dich an deine erinnern und an meine«, wies Pixquicauh, der ihr diese Ergebenheit nicht glaubte, sie zurecht. »Ich werde diesen Menschen, dieses Kind von Cizinfozza, komplett ausnehmen und wenn ich mit ihm fertig bin, werde ich ihn opfern, damit sein Geist Scathmizzanes Macht steigern kann.« Er lenkte den Blick der Frau nach Norden, zum Rand des Beckens, in dem die heilige Xoconai-Stadt Otontotomi lag, die jahrhundertelang von Wasser bedeckt gewesen war. Die Xoconai hatten Hunderte Gefangene gemacht, die nun für sie arbeiteten, die Treppen reinigten, die Gebäude von den Ablagerungen befreiten, die sie bedeckten, sie reparierten und das Gold polierten.
Auch Tausende von Xoconai arbeiteten dort, aber nicht wie die versklavten Menschen, bei denen jede falsche Bewegung mit dem Knall einer Peitsche bestraft wurde.
»Wir werden sie schuften lassen, bis sie sterben.« Er sprach jedes Wort genüsslich aus, weil er spürte, dass diese Vorstellung Tuolonatl absolut zuwider war. Pixquicauh freute sich über Tuolonatls scheinbare Schwäche, da sie ihn in dem Glauben und dem Wunsch bestärkte, die wichtigste Person an Scathmizzanes Hof zu sein. »Und ihr Geist wird den Tzatzini hinaufsteigen, zum Kristallsymbol des Glorreichen Golds und dort werden die Schwestern der Menschen, die einst ihre Hexen waren, sie in Scathmizzanes Schlund führen. Ihr Körper wird im Leben zerschunden werden, ihre Seele im Tod gefressen. Stört dich das?«
»Es sind nicht nur die Seelen der Menschen«, erwiderte sie flüsternd.
Das stimmte, was Pixquicauh natürlich wusste. Die Xoconai, die im Kampf gefallen waren, wurden Scathmizzane selbstverständlich ebenfalls überlassen!
»Ich kann mir keinen ruhmreicheren Dienst für den Gottkönig vorstellen«, sagte er und fügte in anklagendem Tonfall hinzu: »Kannst du das?«
Tuolonatl antwortete nicht und der alte Augur sah den Konflikt, der in ihrem Inneren tobte. Sie konnte nichts gegen Scathmizzanes Erlasse sagen, obwohl sie sie entsetzten. Dass man vom Leben in den Tod überging und dann vom Tod in den Bauch des Gottkönigs war etwas, das viele Leute nur positiv betrachten konnten, solange es eine weit entfernte Vorstellung war.
Nun war es jedoch Realität geworden, eine brutale Wirklichkeit, und selbst für jemanden wie die kampferprobte, tapfere Tuolonatl war diese glorreiche Wahrheit nur schwer zu ertragen.
Der alte Augur lächelte, verkniff sich aber ein Lachen. Sie konnte ihm nicht antworten – was hätte sie auch sagen sollen?
Er war Scathmizzanes Auserwählter. Sie war Scathmizzanes Speerspitze. Würde sie den Krieg überhaupt überleben?
Pixquicauh hoffte, dass dem nicht so sein würde.
Tuolonatl hielt eine Weile an der langen Treppe inne, die hinunter in das Becken zur alten Xoconai-Stadt Otontotomi führte. Obwohl dort erst seit wenigen Tagen gearbeitet wurde, waren die Fortschritte bemerkenswert. Die Xoconai hatten einige Hundert Sklaven, aber den Großteil der Arbeit verrichteten vierzigtausend unermüdliche Xoconai-Krieger, die sich bemühten, die Schönheit und die Pracht von Otontotomi wiederherzustellen.
Und die darauf hinarbeiteten, dass die Stadt so schnell wie möglich autark wurde. Das war das Wichtigste, wenn die Xoconai weiter nach Osten vorstoßen wollten. Die Treppe mit ihren mehr als zweitausend Stufen, die Tuolonatl vor sich sah, verriet ihr, wie weit sie bereits gekommen waren: Die Stufen waren komplett gesäubert und ausgebessert worden, zudem hatte man provisorische Geländer aus Seilen angebracht, auf die später haltbarere Konstruktionen folgen würden. Diese wurden bereits hergestellt.
Trotz all der Bedenken, die die Xoconai-Cochcal gegenüber dem Hohepriester geäußert hatte, war sie stolz auf ihre Truppen und deren Disziplin. Weit unten legten drei große Boote von der Treppe ab. Die Xoconai stellten eine Flotte aus den Booten zusammen, die sie in den Dörfern am Seeufer gefunden hatten. Am nächsten Morgen würde man auf dem neuen See viele Fischerboote sehen, während andere an den Ufern entlangfahren würden, um sich die Strömungen und die Winde zu notieren.
Und das alles in so kurzer Zeit.
Tuolonatl winkte eine ihre Adjutantinnen herbei, die mit einem Cuetzpali zu ihr eilte. Die Echse war bereits gesattelt. Ihr fiel auf, wie eifrig die junge Frau wirkte, so als wüsste sie etwas, von dem Tuolonatl noch nichts ahnte.
Tuolonatl sprang elegant in den Sattel und ließ die Echse die lange Treppe hinunterlaufen. Sie ritt nicht gern auf den Kragenechsen, weil sie das unelegante Schaukeln störte, aber sie musste zugeben, dass die Echsen mit ihrem tiefen Schwerpunkt und den wulstigen, rutschsicheren Füßen für ein so steiles Gelände wie diese Treppe besser geeignet waren als Pferde.
Ihre Adjutantin folgte ihr auf einem zweiten Reittier. Sie hielt ein Horn in der Hand, in das sie jedes Mal stieß, wenn sie sich jemandem auf den Stufen unter ihnen näherten. Diese Xoconai, sogar jene, die sich mit den schweren, unhandlichen Booten abmühten, gingen hastig aus dem Weg, um die große Tuolonatl durchzulassen – schließlich waren selbst Kleinigkeiten, die sie zu erledigen hatte, wichtiger als alles, was sie selbst taten.
Es war ein warmer Tag, die Sonne schien hell und der Echse stand viel Energie zur Verfügung, deshalb kam die mächtige Mundunugu-Kriegerin rasch am Boden des Beckens an. Sie machte sich auf den Weg zu der gewaltigen Hauptpyramide von Otontotomi, die als Tempel und Rathaus diente, und in der der Hohepriester und der Fürst dieser freigelegten Stadt leben und Hof halten würden. Tuolonatl vermutete, dass Scathmizzane die Pyramide zu seinem Palast machen würde.
»Große Cochcal, warte bitte«, rief die Adjutantin hinter Tuolonatl zu ihrer Überraschung. Sie zog an den Zügeln, worauf der Cuetzpali mit einem Zischen reagierte, und drehte sich im Sattel zu der anderen Reiterin um, die auf einen Sandhaufen neben einem fast komplett freigelegten Gebäude deutete.
Tuolonatl verstand nicht so recht, was sie meinte, bis ein gut aussehender junger Mundunugu hinter dem Sandhaufen hervorkam. Tuolonatl erkannte ihn sofort.
Sie wollte nach Ataquixt rufen, nach dem Mann, den sie zu ihrem Hauptkundschafter ernannt hatte, dem Mann, den sie mittlerweile als Freund betrachtete und hoffentlich irgendwann einmal als Liebhaber. Doch bevor sie seinen Namen aussprechen konnte, zog Ataquixt an dem Zügel in seiner Hand und im nächsten Moment trottete ein zweiter guter Freund hinter dem Sandhaufen hervor, vielleicht sogar Tuolonatls bester Freund.
»Pocheoya«, sagte die Frau und kicherte fröhlich beim Anblick des braun-weiß gescheckten Pinto-Pferds mit den blauen Augen. Ein brauner Schild bedeckte seine stolze, muskulöse Brust. Pocheoya war nicht groß, maß nicht einmal fünfzehn Handspannen, aber er war so schnell wie die besten Pferde, die Tonoloya zu bieten hatte. Und dank seines niedrigen Schwerpunkts und seiner Kraft konnte er bei den Fassrennen, wenn Tuolonatl ihn mit geübter Hand anleitete, jedes andere Pferd ausmanövrieren und übertrumpfen.
Im Gegensatz zu allen anderen Pferden, die sie kannte, und vor allem den dummen Cuetzpali-Echsen, kam sich Tuolonatl nie wie Pocheoyas Herrin vor. Wenn sie auf seinem breiten Rücken saß, waren sie nicht Herrin und Tier, sondern ein Team. Es kam ihr so vor, als würden sie dann zu einer Einheit verschmelzen, so gut verstanden sie einander.
»Wie hast du ihn so schnell den Berg herunter und nach Otontotomi gebracht?«, fragte sie Ataquixt, als er mit dem Pferd näherkam. Tuolonatl reichte ihm die Zügel ihres Cuetzpali, während er ihr Pocheoyas gab.
»Ich wusste, dass du ihn an deiner Seite haben willst«, antwortete Ataquixt lächelnd. Es schien ihn glücklich zu machen, dass er Tuolonatl offensichtlich großes Vergnügen bereitet hatte.
»Ataquixt war die ganze Nacht auf den Beinen und hat sich mit Pocheoya am Dorfrand entlanggeschlichen, damit du nichts bemerkst«, erklärte die Adjutantin.
Tuolonatl bedachte ihren Hauptkundschafter mit einem warmherzigen Lächeln, der auf niedliche Weise mit den Schultern zuckte, wie sie fand. Ihr Blick blieb länger als beabsichtigt an Ataquixts schönem Gesicht hängen. Es zog sie in ihren Bann. Die Farbmischung darauf verlieh ihm irgendwie etwas Besonderes, bemerkte sie in Gedanken. Seine Nase war leuchtend rot, wurde am unteren Rand jedoch rosa und endete in einem fast schon gelblichen schmalen Strich, an den auf beiden Seiten blaue Haut grenzte. Sie stellte sich vor, wie er frühmorgens auf der Seite lag und sie anschaute, und sie überlegte, dass dieses Gesicht, egal welche Hälfte, sie an die sanften Farben eines Sonnenaufgangs oder Sonnenuntergangs erinnern würde.
Im Morgenlicht würde sein farbenfrohes Gesicht sicher sanfter wirken und bestimmt sehr schön.
Sie bemerkte noch etwas anderes auf diesem Gesicht, was sie dazu brachte, den jungen Krieger eingehender zu betrachten. Er hatte den Krieg herbeigesehnt, die anderen Kundschafter mit lauten Rufen angefeuert und ihnen Ruhm versprochen, aber Tuolonatl spürte, dass sich in seinem Inneren ein ähnlicher Konflikt abspielte wie bei ihr. Sie zweifelte nicht daran, dass der Marsch gen Osten die Welt verbessern würde, aber auf die Pfützen aus Blut, durch die dieser Marsch führen würde, freute sie sich nicht.
Sie fragte sich, ob die gleichen Bedenken an Ataquixt nagten.
Ataquixt verschränkte die Hände ineinander und half Tuolonatl in Pocheoyas Sattel, dann stieg er auf den Cuetzpali, den sie geritten hatte.
»Nach Canahuac?«
Tuolonatl musterte ihn mit listigen Augen. »Canahuac oder Tepachoni?«, fragte sie. »Tempel oder Regierungssitz?«
»Canahuac«, erwiderte Ataquixt, ohne zu zögern. »Scathmizzane ist dort, in der großen Pyramide. Dies ist sein Ort und er füllt ihn mit seinen Auguren. Die Fürsten sind abgesehen von Einzelaudienzen, die er angeordnet hat, nicht eingeladen worden.«
Tuolonatl sank tiefer in den Sattel und in sich selbst, während sie über die Bedeutung von Ataquixts Aussage nachdachte. Aus Erfahrung wusste sie, dass es zu einem Tauziehen zwischen den Auguren und den weltlicher orientierten Fürsten, die über die großen Städte von Tonoloya herrschten, kommen würde, denn die Ziele der Auguren ließen sich oft nicht mit einer pragmatischen Staatspolitik vereinbaren. Sie hatte bereits vermutet, dass die Auguren bei diesem ewigen Streit die Nase in Zukunft vorn haben würden – schließlich war ihr Gottkönig zu ihnen gekommen –, aber dass es tatsächlich so war, erschütterte sie mehr, als sie erwartet hatte.
»Vielleicht sollten wir zuerst zur Ixnecia reiten«, sagte sie und wandte ihr Pferd gen Osten, zu der gewaltigen Spalte, die in das Gebirge gerissen worden war.
Sie ließ Pocheoya in gemächlichem Tempo über die breite Straße traben, die in diese Richtung führte, und warf immer wieder einen Blick zur Seite, um die Fortschritte zu begutachten, die überall um sie herum bei der Freilegung der Stadt gemacht wurden. Sie war noch weit von der Ixnecia entfernt, als sie einen Lichtblitz hoch oben zu ihrer Rechten bemerkte. Dann einen zweiten, von weiter unten, auf den Blitze von der linken Seite der Spalte antworteten.
Tuolonatl hatte mit diesen kurzen und langen Lichtsignalen, die von Sonnenlicht reflektierenden Spiegeln stammten, nicht gerechnet, deshalb verpasste sie die ersten und konnte den Rest nicht mehr entschlüsseln, nicht einmal zählen, aber es war ihr klar, dass sich dort hinten etwas Wichtiges ereignen musste.
Sie ließ Pocheoya schneller traben, dann galoppieren, sodass die Echsen ihrer Begleiter nur mit Mühe mithalten konnten.
Als sie am Ziel eintrafen, sahen sie, dass sich am rechten Ufer des Bergflusses, der am Südostrand des Beckens entlangführte und durch die Spalte in den gewaltigen neuen See stürzte, zahlreiche Xoconai versammelt hatten. Sie hatten bereits eine Brücke über diesen Fluss gebaut, aber sie war noch nicht verstärkt und außerdem zu schmal für ein Pferd. Tuolonatl stieg ab, winkte Ataquixt heran und bat ihre Adjutantin, sich um die Reittiere zu kümmern.
Die Xoconai, die auf dem großen flachen Felsen am anderen Flussufer standen, ließen sich auf ein Knie sinken, als sie die Frau erkannten, die auf sie zukam.
»Was wissen wir?«, fragte Tuolonatl Zhorivemba, einen erfahrenen und vernarbten Mundunugu, der den Trupp anführte.
Er zeigte durch die Spalte auf den See im Nordosten. »Flüchtlinge«, antwortete er. »Kinder von Cizinfozza. Anscheinend eine große Gruppe.«
»Wie groß?«
»Sie sind zu weit weg, um das mit Gewissheit sagen zu können, Große Cochcal Tuolonatl«, erwiderte Zhorivemba.
»Ich will es wissen.«
Zhorivemba nickte. »Ich und die meinen werden losreiten.« Er nickte seinen Kommandanten zu, die zu ihren Cuetzpali gingen und sich bereit machten.
»Du wirst Tage brauchen, um sie zu fangen, selbst wenn du den Pfad, über den sie das Plateau verlassen haben, schnell findest«, sagte Tuolonatl.
»Aber wir werden sie fangen«, sagte der Mann, der ungefähr in ihrem Alter war.
Tuolonatl schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, während sie noch versuchte, diese neue Entwicklung einzuordnen. Aus irgendeinem Grund erschien ihr die Vorstellung, eine ganze Mundunugu-Brigade von dem eroberten Plateau fortzuschicken, leichtsinnig. Wie weit würden sie von Otontotomi weg sein, wenn sie die flüchtenden Menschen endlich einholten? Wie weit würden sie von Proviant und Verstärkung entfernt sein?
»Die Menschen laufen davon, weil sie uns für unaufhaltsam halten«, erklärte Tuolonatl. Sie sprach ihre Gedanken aus, um die anderen in ihre Planung miteinzubeziehen. »Innerhalb eines einzigen Tages wurde ihnen alles genommen, was sie hatten, inklusive des Sees, den sie für ihre Heimat hielten. Sie sollten diese Nachricht zu den anderen Dörfern tragen, wo auch immer die sind. Ihre Furcht wird für uns von Vorteil sein.«
»Dann lassen wir die eine Hälfte weiterziehen und bringen die andere um«, verkündete Zhorivemba.
Seine Worte wirkten auf Tuolonatl furchtbar blutdürstig, ein letzter verzweifelter Versuch, seinen Macana noch einmal in Blut tränken zu können, nicht weil er es musste, sondern weil er es wollte.
»Nein«, wiederholte sie und spähte nach Südwesten, zu der großen Treppe, die hinunter nach Otontotomi führte, und zu den gekaperten Booten, die man hinabtrug.
»Wir segeln ihnen hinterher?«, fragte Ataquixt, der ihren Blick bemerkt hatte.
Tuolonatl lächelte. »Wir jagen ihnen Angst ein, lassen sie fliehen«, erklärte sie. »Dann folgen wir ihnen heimlich, halten uns in den Schatten. Sie werden uns zu den nächsten Dörfern führen.«
Ataquixt grinste breit. Er stammte aus dem westlichsten Teil der Xoconai-Nation, aus einer Stadt, in der man jeden Abend die Sonne in dem großen Ozean versinken sah. Tuolonatl wusste das natürlich.
»Du kannst anhand der Sterne navigieren.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Hier? Auf einem ruhigen See unter dem weiten Himmel?«, erwiderte Ataquixt und lachte.
»Ein Schiff, dreißig Krieger, keine Cuetzpali«, verkündete Tuolonatl, korrigierte sich aber rasch. »Ein Cuetzpali. Nur einer für meinen besten Kundschafter.«
Ataquixt nickte ernst. Er leitete die Mission nicht nur; er war der Mundunugu, den man damit betraute, die neue Marschrichtung der Xoconai zu bestimmen. Er hatte sie hierhergeführt, zum Tzatzini und nach Otontotomi, und nun würden seine Augen ihnen den Weg nach Osten weisen, immer weiter nach Osten, bis sie die Sonne über dem anderen Ozean aufgehen sahen. Ataquixt glaubte an das Ziel, das Reich von Groß-Tonoloya zu erschaffen. Die Xoconai waren gut und sie würden der Welt das Licht bringen. Obwohl er über großes Kampfgeschick verfügte, genoss er das Töten nicht.
»Für eine bessere Welt«, rief er sich ins Gedächtnis.
Als die Sonne unterging, hatten die geschäftigen Xoconai bereits ein Boot auf dem neuen See zu Wasser gelassen. Die sorgfältig ausgesuchte Besatzung, die Tuolonatl treu ergeben war, brach auf und die Segel des Boots blähten sich im günstigen Südostwind.
Ataquixt blieb am Bug und steuerte das Boot, während er die Umgebung im Auge behielt. Er hatte die anderen an der Reling verteilt, damit sie mit langen Stangen nach dem Grund des Sees stochern konnten, denn das Wasser war nicht tief. Schließlich hatte es hier vor nur zwei Tagen noch eine Wüste gegeben und der tiefe See, den die Menschen Loch Beag genannt hatten, hatte sich weit ausgedehnt.
Dennoch war der See tief genug für ihr Boot und es gab nur wenige große Felsen, die ihnen gefährlich werden konnten.
Der Wind blies kräftig, am Bug spritzte weiße Gischt herauf und kurz nachdem die Nacht ihre zweite Hälfte erreicht hatte, entdeckten die Xoconai das schwache Licht eines windgeschützten Feuers.
Aoleyn stand am See, den Umhang fest um sich gewickelt, und betrachtete das größtenteils ruhige Wasser, in dem sich die Sterne spiegelten. Die Macht des Wassers beeindruckte sie. Noch vor Kurzem hatte sich hier eine Wüstenebene aus schwarzem Sand und schwarzen Steinen befunden, doch das Wasser des gewaltigen Loch Beag, das mit unglaublicher Kraft Hunderte von Metern herabgestürzt war, hatte ein Loch gegraben und den Sand und die Steine unaufhaltsam zur Seite gedrückt. Das Ufer war uneben und zerklüftet, voller aufgetürmter Steinhaufen und von Bächen durchzogenen Böschungen. Da weiterhin Wasser in den neuen See floss, lief er über und so bildeten sich immer wieder kleine Flüsse und Rinnsale.
»Der Wind ist kalt heute Nacht«, sagte Bahdlahn, als er sich nur wenig später zu Aoleyn gesellte.
»Nicht so kalt wie dort oben«, erwiderte sie mit einem Blick nach Westen zu dem besetzten Plateau, auf dem die Feuer der Eroberer leuchteten.
»Ich habe einen ruhigen Platz gefunden«, fügte Bahdlahn sanft hinzu.
Aoleyn bemerkte das Zögern und Zittern in seiner Stimme, die Nervosität, die seinen subtilen Vorschlag erklärte. Ein ruhiger Platz wie der Bergvorsprung, zu dem sie ihn vor nicht allzu langer Zeit geführt hatte, auf dem sie sich unter einem Himmel, der dem in dieser Nacht ähnelte, geliebt hatten. Für Bahdlahn war es das erste Mal gewesen und auch für Aoleyn, denn sie konnte – und würde auch niemals – das, was ihr Ehemann ihr an dem Tag angetan hatte, an dem die dämonische Fossa ihn umbrachte, als Liebe bezeichnen.
Aoleyn spürte auf einmal einen Hauch von schlechtem Gewissen. Sie hatte in jener Nacht die Initiative ergriffen und Bahdlahn bei ihrer gemeinsamen ersten Nacht angeleitet. Sie hatte mit ihm schlafen wollen, weil sie ihn mochte und weil sie wissen wollte, wie sich ein echter Liebesakt anfühlte – denn sie kannte bis dahin nur Vergewaltigung. Und Aoleyn hatte diese Nacht auch wirklich genossen und erinnerte sich gern daran.
Sie liebte Bahdlahn, schätzte ihre Freundschaft und sie wollte auf seiner Reise vom Sklaven zum freien Mann nur das Beste für ihn.
»Wie haben diese Reise gemeinsam angetreten«, sagte sie und ergriff seine Hände, »aber wir werden sie nicht am selben Ort beenden.«
»Das weißt du nicht«, erwiderte er und sein selbstbewusster und tröstender Tonfall verriet ihr, dass er nicht wirklich verstand, was sie meinte. »Vielleicht finden wir einen neuen Ort, wo wir uns eine neue Heimat aufbauen können, wir alle zusammen.«
»Nein, Bahdlahn«, sagte sie sanft. »Du und ich. Du hast so viel zu lernen, so viele Erfahrungen, die auf dich warten. Du wirst wachsen und dich entwickeln. Du hattest noch kaum Gelegenheit, deine neu gewonnene Freiheit zu kosten und weißt noch nicht, was es bedeutet, ein Mann zu sein.«
»Wie meinst du das?« Sie bemerkte das Zittern in seiner Stimme, doch diesmal klang es anders als die nervöse Aufregung, die darin gelegen hatte, als er gehofft hatte, eine weitere Nacht mit ihr verbringen zu können.
»Dein Weg steht noch nicht fest«, versuchte sie ihm zu erklären. »Du weißt nicht, wohin die weite Welt dich bringen wird.«
»Aoleyn weiß das auch nicht.«
Mit einem Nicken räumte sie ein, dass sie das nicht leugnen konnte, fuhr jedoch fort: »Ich ahne, was mich in den großen Ländern im Osten erwartet, und ich glaube, dass mir eine gefährliche Reise bevorsteht, die mich hierher zurückführen wird.«
»Und ich werde an deiner Seite sein und für dich kämpfen.«
»Nein.«
»Wie kannst du mir verbieten …«
»Nein.«
Bahdlahn trat einen Schritt zurück und entzog seine Hände ihrem Griff.
»Unser Weg wird sich gabeln und zwar bald«, sagte sie. »Wir werden in verschiedene Richtungen gehen: Das ist das Beste für uns und alle in unserer Nähe.«
Sie hob die Hände und verwandelte sie mit einem Gedanken in die Tatzen eines Leoparden.
Wie sich Bahdlahns Augen weiteten!
»Die Magie verzehrt meine Gedanken und mein Herz, Bahdlahn, mein Freund Bahdlahn«, versuchte sie zu erklären, obwohl ihr gleichzeitig klar wurde, dass niemand, der die Schönheit des spirituellen Lieds nicht selbst erlebt hatte, das wirklich begreifen konnte. »Ich werde erst wissen, wer ich bin, wenn ich voll und ganz verstehe, was in mir steckt. Dies ist mein Weg, mein Weg allein. Das wäre dir gegenüber ungerecht.«
»Das ist mir egal.«
»Es wäre mir gegenüber ungerecht.«
Bahdlahn presste die Lippen zusammen. »Ich dachte, du liebst mich.«
»Du bist mein liebster Freund«, sagte Aoleyn ehrlich und ohne zu zögern. »Ich würde mein Leben hingeben, um dich zu beschützen.«
»Dann verbring diese Nacht mit mir.«
Aoleyn schloss die Augen und verwandelte ihre Tatzen wieder in die Hände einer jungen Frau. Sie hätte der Bitte beinahe nachgegeben, doch noch bevor sie ihre dunklen Augen öffnete, schüttelte sie bereits den Kopf. »Was wir getan haben, war wundervoll«, sagte sie. »Es hat mir Selbstbewusstsein geschenkt. Dich zu lieben, bewies mir, dass ich – ich und niemand sonst – die Kontrolle über den Körper hat, in dem Aoleyns Geist steckt. Es hat mir gezeigt, dass Intimität schön und beruhigend und vergnüglich sein kann. Ich wollte, dass du mir dieses Geschenk machst, und dass ich dir dieses Geschenk mache, dass unsere erste Erfahrung auf Vertrauen und Respekt und Freude beruht. Ich glaube, dass nichts, was in dieser Nacht hätte passieren können, als ich in deinen Armen lag und du in meinen, meinen Respekt für dich hätte schmälern können – oder deinen für mich.«
»Ich liebe dich«, sagte er atemlos. »Damals wie heute.«
Aoleyn schüttelte erneut den Kopf, ohne sich der Bewegung wirklich bewusst zu sein. »Dann sei mein Freund, Bahdlahn. Denn das brauche ich jetzt, während ich versuche, all die Rätsel zu lösen. Sei mein Freund und vertrau mir und lass mich dir vertrauen. Und versprich mir, dass die Gefühle, die du mir entgegenbringst, dich nicht daran hindern werden, herauszufinden, wer du bist. Wenn Talmadge recht hat, dann werden wir in den kommenden Wochen vielen neuen Menschen begegnen. Wir werden uns in einer neuen Welt zurechtfinden müssen.«
»Und das werden wir gemeinsam tun.«
»Unsere Wege werden sich trennen, vielleicht für immer.«
Er schüttelte den Kopf und wollte ihr widersprechen, aber Aoleyn trat rasch vor und legte ihm die Finger auf die Lippen.
»Du bist kein Krieger. Das ist noch nicht dein Platz. Meiner schon. Mit meiner Magie bin ich eine Kriegerin. Ich habe die Fossa getötet. Ich habe Tay Aillig getötet. Ich habe die Sprache unserer Feinde bereits gelernt und werde bald mehr über sie wissen als jeder andere. Ich werde herausfinden, wie man sie besiegen kann. Mir steht ein großer Kampf bevor und ich werde ihn nicht damit verbringen, mir Sorgen um Bahdlahn zu machen, der kein Krieger ist.«
Er reckte entschlossen das Kinn vor. »Ich werde lernen, ein Krieger zu sein.«
»Daran habe ich keine Zweifel.«
»Ich würde die Nacht gerne in deinen Armen verbringen. Dich einfach nur festhalten. Mich von dir festhalten lassen.«
Es überraschte Aoleyn, wie sehr ihr diese Bitte widerstrebte. An diesem dunklen Ort vor nicht allzu langer Zeit hatte sie Bahdlahn gebraucht und hatte gespürt, dass er sie auch brauchte. Aber nun war dieses Bedürfnis verschwunden, außerdem wollte sie das Ganze nicht noch komplizierter machen. Sie verzog das Gesicht, als sie erneut Schuldgefühle überkamen. Sie befürchtete, dass sie Bahdlahn ausgenutzt hatte. Sie versuchte einige Male, ihm zu antworten, aber ihr fehlten die Worte.
Bahdlahn kam mit einem schnellen Schritt auf sie zu und zerquetschte sie fast mit seiner gewaltigen Umarmung, bevor er eine Armeslänge zurücktrat.
»Du hast mir viele Male das Leben gerettet«, sagte er und seine Stimme klang mit jedem Wort kräftiger und selbstbewusster. »Du hast mir gezeigt, was Freundschaft ist. Du bist mir mit Liebe begegnet, die ich für unvorstellbar hielt.« Er hielt inne und atmete tief durch, während er den Kopf senkte und offenbar mit sich rang.
»Aoleyn«, sagte Bahdlahn schließlich. »Ich werde dir ein Freund sein.«
Er hob ihre Hand und küsste sie sanft, dann drehte er sich um und ging zum Lager der Flüchtlinge zurück.
Aoleyn wandte sich wieder dem See zu und schloss die Augen, um ihre aufwallenden Gefühle in den Griff zu bekommen. Sie dachte darüber nach, dass es ihr nicht schwergefallen wäre, die Nacht mit diesem Mann zu verbringen – schließlich vertraute sie ihm und er bedeutete ihr viel. Aber nein, wie hätte sie das tun können, wenn sie es nicht aus vollem Herzen wollte?
»Entschuldige, werte Dame«, hörte sie jemanden hinter sich sagen und als sie sich umdrehte, entdeckte sie Aydrian – er kam vom steinigen Ufer und nicht aus dem Lager.
Das Unbehagen in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Wie viel hast du mitbekommen?«, fragte sie scharf.
»Mehr als ich hätte hören sollen, fürchte ich«, entgegnete er. »Aber ich wollte euch nicht unterbrechen.«
»Dann vertraue ich auf deine Diskretion.« Sie wandte sich wieder dem See zu.
»Natürlich.« Aydrian trat neben sie und sagte leise: »Das hat dich verletzt.«
»Es hat Bahdlahn verletzt.«
»Er wird es überstehen«, sagte der große Mann, worauf Aoleyn ihm einen finsteren Seitenblick zuwarf.
»Es ist gut, dass dich das auch verletzt hat«, fügte Aydrian hinzu. »Es ist gut, dass du dir Gedanken über die Konsequenzen machst, die deine Entscheidungen für andere haben.«
Aoleyn spähte in Richtung Lager und entdeckte Bahdlahns Silhouette. Er war noch auf dem Rückweg.
»Aber es war trotzdem deine Entscheidung, nur deine«, fuhr Aydrian fort. »Wenn du dein Lager mit ihm geteilt hättest, was wäre beim nächsten Mal gewesen? Oder beim übernächsten?«
»Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht.«
»Das stimmt«, gab der Mann zu, doch während Aoleyn fortfuhr, weil sie einfach nicht anders konnte, bemerkte sie sein wissendes Grinsen.
»Bahdlahn erlebt gerade zum ersten Mal in seinem Leben Freiheit. Er versteht noch nicht richtig, was es bedeutet, eine Wahl zu haben, erst recht nicht, was es heißt, ein Mann zu sein, oder welche Verantwortung man als Geliebter oder Ehemann hat.«
»Bahdlahn?«
»Ja«, erwiderte sie überrascht.
»Aoleyn«, korrigierte sie Aydrian. »Du sprichst für Aoleyn, nicht für Bahdlahn. Verstecke dich nicht hinter dem, was du als deine Verantwortung gegenüber Bahdlahn empfindest.«
»Weist du mich etwa zurecht?«
»Ich sage dir die Wahrheit, denn ich hoffe um unser aller willen, dass du mir bald vertrauen wirst«, sagte Aydrian. »Aoleyn hat Bahdlahns Bett nicht für ihn verschmäht, sondern für sich selbst. Wenn dein Herz sich nach seiner Umarmung gesehnt hätte, wenn dein Körper bei seinem Anblick gekribbelt hätte, wärst du mit ihm gegangen.«
»Ich …« Sie sprach nicht weiter, sondern starrte auf den See hinaus und schwieg trotzig.
»Du entscheidest für dich und Bahdlahn entscheidet für Bahdlahn. Das ist Ehrlichkeit«, sagte Aydrian.
»Das Kribbeln meines Körpers geht dich gar nichts an!«, blaffte Aoleyn wütend, aber der Krieger, der zehn Jahre älter als sie war, grinste lediglich. Sie wandte sich ein weiteres Mal dem See zu, so herrisch, dass sie fast schon damit rechnete, gleich mit dem Fuß aufzustampfen.
»Das ist richtig«, stimmte er zu.
Aoleyn war froh, dass diese Diskussion vorbei war, aber das war sie nicht, denn nach einer langen Pause fügte Aydrian hinzu: »Mir fällt auf, dass du meine Beobachtung nicht leugnest.«
Nach einer weiteren Minute des Schweigens, in der sie seine Worte verdaute und sich innerlich eingestand, dass sie der Wahrheit entsprachen, sah sie Aydrian an.
»Und was soll ich deiner Meinung nach tun, weiser Mann?«, fragte sie und versteckte den ehrlichen Wunsch nach einer Antwort hinter Sarkasmus.
»Du hast das Richtige getan, für dich selbst und den jungen Mann«, sagte Aydrian. »Intimität ist nichts, was man jemandem schuldet – niemals. Sie muss von beiden aus freiem Willen angeboten werden.«
Aoleyn musterte ihn eindringlich.
»Sie ist entweder vorhanden oder nicht, habe ich gehört«, sagte Aydrian.
»Hast du gehört? Ist sie für diesen Mann namens Aydrian nicht vorhanden?«
Er lachte leise, was fast schon bemitleidenswert klang. »Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens steckte ein Daktylus-Dämon in mir, ein Krebsgeschwür, das in den Leib meiner Mutter gelangte, als sie tapfer gegen einen äußerst verdorbenen Feind kämpfte.«
»Wie die dämonische Fossa«, sagte Aoleyn leise und musste sofort eine Woge der Angst niederkämpfen – ihre Furcht davor, dass die Magie der Bestie auch in ihr steckte und sie dazu bringen wollte, ganz zum Tier zu werden, so wie die dämonische Fossa. Sie dachte an den buntgesichtigen Feind und ihre instinktive Verwandlung, mit der sie seinem Speer entkommen war. Wie leicht es gewesen wäre, ihm die Kehle herauszureißen … wie warm sich sein Blut angefühlt hätte …
»Und die letzten zehn Jahre habe ich im Exil bei den Touel’alfar verbracht«, fuhr Aydrian fort. Als er Aoleyns verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, erklärte er: »Den Elfen.« Er hob die Hand bis auf Hüfthöhe. »So groß. Nicht menschlich. Die einzig menschliche Gesellschaft, die ich ein Jahrzehnt lang hatte, abgesehen von der zufälligen Begegnung mit Talmadge und mit euch, war die meiner Mutter.«
»Dann warst du einsam?«
»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte er. »Die einzige Person, die ich nicht wirklich kannte, war ich selbst. Wie konnte ich mit jemand anderem intim werden, wenn ich nicht einmal so recht wusste, wer ich war?«
Aoleyn fühlte sich in diesem Moment, als würde er über sie sprechen, und sie entspannte sich, denn sie erkannte, dass dieser Fremde den Kampf, der in ihrem Inneren tobte, verstand.
»Ich war mit der Gesellschaft, in der ich mich wiederfand, sehr zufrieden«, erzählte Aydrian. »Mit der der Elfen, der meiner Mutter – man kann sich keine wunderbarere Mutter als Jilseponie vorstellen – und mit der von Bradwarden, dem Zentaur.«
»Ein Zentaur?«
»Halb Mensch, halb …«
»Halb Pferd. Ja, ich kenne sie aus unseren alten Geschichten – Geschichten, mit denen man Kinder erschrecken wollte.«
»Oh, es gibt sie tatsächlich«, versicherte ihr Aydrian. »Sie sind überlebensgroß und wenn man einen kennenlernt, vor allem Bradwarden, vergisst man ihn garantiert nie wieder.«
Aoleyn dachte darüber nach. »Ich glaube, ich würde ihn gern kennenlernen.«
»Vielleicht werde ich ihn dir eines Tages vorstellen«, sagte Aydrian mit einem warmherzigen Lächeln. »Dann wirst du aus gutem Grund wütend auf mich sein.«
Er konnte nicht ernst bleiben und schon bald lachte Aoleyn mit ihm, denn sie hatte den Witz verstanden.
»Eines Tages«, sagte sie und Aydrian nickte.
»Ruh dich aus«, sagte er einen Moment später. »Ich bin hergekommen, um dich abzulösen. Ich werde den See beobachten.«
Aoleyn nickte. »Kennst du die magischen Lieder?«, fragte sie.
»Ich weiß, wie man die Edelsteine benutzt, wenn du das meinst.«
Aoleyn zog einen Kristall aus ihrem Gürtel und hielt ihn hoch. »Ich habe den hier auf dem Berg gefunden«, erklärte sie, als sie ihn vor ihre Augen hob und hindurchspähte, um das Wasser zu betrachten. »Durch sein Lied kann ich die Fische spüren. Wenn ich ihn benutzt hätte, wärst du nicht in der Lage gewesen, mein Gespräch mit Bahdlahn zu belauschen, denn ich hätte dich bemerkt.«
»Es verrät dir, ob Lebewesen in der Nähe sind?«
»So ist es. Als wir bei Sonnenuntergang die Kojoten gehört haben, konnte ich sie dank der Magie, die in diesem Kristall steckt, zählen und wusste, dass sie uns nicht gefährlich werden würden. Und hier auf dem See in der dunklen Nacht …« Sie hielt den Kristall hoch und warf einen Blick nach Westen, in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Kannst du damit weit blicken?«, fragte Aydrian und Aoleyn nickte, während sie sich langsam drehte. Zuerst nach rechts, zum Landesinneren, und dann nach links, um vor dem Zubettgehen einen letzten Blick auf den See zu werfen.
Dann hielt sie abrupt inne, starrte angestrengt auf den See hinaus und sog dann vor Überraschung scharf die Luft ein.
»Was siehst du?«, fragte Aydrian.
»Da draußen ist etwas – jemand«, erwiderte Aoleyn. Ihr Blick blieb weiterhin auf den See gerichtet, aber den Kristall reichte sie Aydrian, damit er hindurchsehen konnte, in die Richtung, in die sie mit ausgestrecktem Arm deutete.
Aydrian nahm den Kristall, aber zu Aoleyns Überraschung hob er ihn nicht vor die Augen. Stattdessen hockte er sich hin, ging dann noch tiefer, bis er schließlich auf dem Boden lag, und schaute dann auf den See hinaus.
»Was machst du da?«
»Komm runter«, bat er. »Bring deine Augen so nahe wie möglich an den Boden heran und sieh dann nach oben, so hoch, dass die Schwärze des Gebirges knapp unterhalb deines Blickwinkels ist.«
Aoleyn tat ihm den Gefallen und starrte konzentriert auf den See hinaus. Sie wollte Aydrian gerade fragen, was das alles sollte, aber dann verschwanden einige Sterne, dann weitere, und als sie der Silhouette, die in der Schwärze entstand, mit dem Blick folgte, erkannte sie, um was es sich dabei handelte.
»Ein Segel, ein Boot«, keuchte sie und setzte sich auf.
»Und es kommt rasch näher«, sagte Aydrian.
»Eine Salve«, befahl Ataquixt seinen Kriegern leise. »Sie sollen davonlaufen, aber wir werden sie nicht in einen Kampf verwickeln.«
»Wir können sie besiegen«, widersprach ein älterer Mundunugu.
»Neue Sklaven für Scathmizzane«, sagte ein anderer.
Ataquixt beruhigte sie und rief ihnen ins Gedächtnis, dass man Geräusche auf dem offenen Wasser weithin hören konnte. »Eine«, wiederholte er und unterstrich die Anweisung, indem er einen Finger hob. »Sie sollen davonlaufen, damit ich an Land gehen kann.«
Einige verzogen mürrisch das Gesicht, andere seufzten, aber die meisten bekundeten mit zögerlichem Nicken ihre Zustimmung. Sie waren als Kundschafter hier, nicht als Krieger, das hatte man ihnen vor der Abfahrt erklärt. Und diese Erkundung würde nicht am Ufer des neuen Sees enden. Leise bestückten die zwanzig Krieger ihre Atlatl-Wurfstäbe mit Speeren, während der Steuermann das Boot näher ans Ufer brachte, um beidrehen zu können, damit mehr Speerwerfer nebeneinander Platz hatten.
Der Wind hatte nicht nachgelassen. Mit geblähten Segeln schoss das Boot dem Ufer entgegen. Der Steuermann rief eine Warnung und änderte mit einem Ruck den Kurs, sodass das Boot sich parallel zum Ufer seinem Ziel näherte.
Die Xoconai hoben den Arm und zielten auf das Licht der windgeschützten Lagerfeuer, die gerade einmal zwanzig Schritte vom Ufer entfernt waren.
Dann sahen sie sie – jedenfalls die meisten von ihnen: eine kleine Menschenfrau, die mit ausgestreckten Armen und im Wind flatternden Umhang am Rand des Wassers stand.
»Werft!«, befahl Ataquixt und die Arme schossen nach vorn, sodass die leichten Speere vom Boot aus durch die Luft zischten. Viele rasten dem offensichtlichen, gut erkennbaren Ziel entgegen.
»Geh. Sag ihnen, dass sie fliehen müssen«, sagte Aoleyn zu Aydrian.
»Komm mit!«, bat Aydrian.
»Ich werde euch Zeit verschaffen.«
»Du wirst sterben.« Er packte ihren Arm.
Sie warf ihm einen gefährlich finsteren Blick zu. »Vertrau mir«, verlangte sie. »Geh!«
Aydrian ließ sie los, nickte respektvoll und lief zurück zum Lager. Dort regten sich die Menschen bereits, was bedeutete, dass einige das Boot ebenfalls entdeckt haben mussten.
Aoleyn fuhr zum See herum und lauschte auf das Lied ihrer Edelsteine. Sie konnte das Boot nun deutlich erkennen. Es schoss auf das Ufer zu und drehte so rasch bei, dass eine Seite sich neigte. Sie wusste, was passieren würde. Auch ohne die erhobenen Wurfspeere zu sehen.
Ihre Instinkte flehten sie an, hinter den Felsen in Deckung zu gehen, weil es bereits zu spät war, zu spät, um diese Salve noch aufzuhalten.
Aber sie hörte das Lied Usgars, ein Lied, dem sie längst vertraute, und so erschuf sie mit dem Mondstein in ihrem Bauchring einen Wall aus Wind. Zwanzig Speere flogen vom Boot aus auf sie zu und zwanzig Speere wurden verlangsamt, abgelenkt und von Aoleyns magischer Sturmböe besiegt.
Das Boot drehte weiter ab, bis es sich wieder vom Ufer entfernte. Aoleyn stampfte mit dem Fuß auf und ein Blitz schoss hervor, der aber das Boot nicht erreichen konnte, sondern hell aufleuchtend im Wasser verschwand. In diesem Licht konnte sie deutlich die rot-blau gestreiften Gesichter erkennen.
Sie hörte sie schreien und verstand ihre Worte – vor allem die einer Stimme, die befahl, das Boot zu wenden und zu einem zweiten Angriff, einer zweiten Salve anzusetzen.
Die den anderen befahl, sie, die Magierin, umzubringen.
»Ja, kommt«, flüsterte Aoleyn. Sie drehte sich zum Flüchtlingslager um und rief Talmadge und Aydrian zu, die anderen in Sicherheit zu bringen.
Sie hatte nicht die Absicht, ihnen zu folgen. Noch nicht.
Sie konzentrierte sich wieder auf das Boot, das den Kreis, den es im Wasser beschrieb, vollendet hatte und dessen Segel sich so plötzlich im Rückenwind blähten, dass es vorwärts zu springen schien wie ein angreifendes Raubtier. Es wurde schneller, fuhr genau auf sie zu, und Aoleyn erkannte, dass es dieses Mal viel näher am Ufer beidrehen würde, so nahe, dass sie die Salve nicht komplett wegwehen können würde.
Aber sie lief nicht davon.
Sie hörte das Lied, vertraute auf das Lied und hätten die Feinde auf dem Boot das schiefe Lächeln der kleinen Frau sehen können, hätten sie vielleicht erkannt, dass sie Narren waren.
In Aoleyns Fußkettchen steckte ein großer blauer Edelstein, den sie schon einmal in einer verzweifelten Lage eingesetzt hatte, und dessen Macht sie schockiert und verängstigt hatte.
Doch nun hatte sie keine Angst.
Sie spürte, wie das Lied lauter und mächtiger wurde, wie seine Melodie ihren Körper mit Kraft und Kälte erfüllte.
Das Boot kam heran.
Sie wartete darauf, dass sich das Segel drehte.
Als es so weit war und das Boot auf einmal nach links abdrehte, beschwor Aoleyn die Magie. Doch sie zielte damit nicht auf das Boot, sondern auf das Wasser vor dem Boot, das sie in eine dicke Eisscholle verwandelte.
Das Boot hatte seine Drehung zur Hälfte vollendet, als es mit voller Geschwindigkeit auf den Eisberg traf. Holz splitterte und das Gefährt kam so ruckartig zum Stehen, dass die meisten an Bord über die Reling geschleudert wurden, wobei einige auf den Eisberg krachten, an ihm herabrutschten und ins Wasser fielen. Denjenigen, denen es irgendwie gelungen war, an Bord zu bleiben, erging es kaum besser, denn der Bug war beim Aufprall zur Hälfte eingedrückt worden, sodass Wasser durch das Leck strömte und sich das kleine Boot zur Seite neigte, bis es vom knirschenden Eis aufgehalten wurde.
Aoleyn hörte gleich mehrere Lieder, verwob sie miteinander und ließ sie hervorbrechen, so wie sie es bei Tay Aillig auf der Felszunge getan hatte. Über dem halb gekenterten Boot, über dem Eis, über den im Wasser strampelnden Feinden verbanden sich die Magien zu einem Sturm aus Blitzen und heftigem Eisregen.
Aoleyn trat erneut mit dem Fuß auf und ließ einen Blitz aus diesem Sturm herabfahren. Er schoss ins Wasser, wo er sich einem Feuerball gleich in alle Richtungen ausbreitete. Elektrizität fuhr in die im Wasser treibenden Xoconai und raubte ihnen die Orientierung, sodass sie panisch um sich schlugen und ertranken.
Die junge Hexe betrachtete die Szene mit kaltem Blick und akzeptierte die schreckliche Realität der Dinge, die zu tun sie gezwungen war. Sie brachte einen zweiten Blitz hervor, drehte sich auf dem Absatz um und lief los.
Ein dritter Blitz, dann rannte sie auch schon. Sie beschwor einen vierten Blitz aus größerer Entfernung, als sie die Seebewohner, die durch die Wüste ins Landesinnere flohen, bereits vor sich sehen konnte.
Sie beschloss, zwischen ihnen und den Feinden zu bleiben, und alle buntgesichtigen Eroberer, die ans Ufer gelangten und sie verfolgten, noch vor Morgengrauen zu töten. Aoleyn flüsterte die Litanei, die sie davor bewahren sollte, vor einem solchen Massaker zurückzuschrecken.
»Dann ist es eben so.«
Er entkam dem Sturm nur dank seines Cuetzpali-Reittiers, denn die Echse war ein guter Schwimmer und widerstand der Elektrizität der Blitze so weit, dass sie ihren Kurs halten konnte.
Ataquixt hörte das Schreien und Kreischen seiner Besatzung, sah sie bei jedem Blitz zucken, sah andere, die einfach nur mit dem Gesicht nach unten im aufgewühlten Wasser trieben. Das Boot lag nun komplett auf der Seite und war größtenteils gekentert und nur wenigen gelang es, sich in dem brodelnden Wasser daran festzuklammern.
Die Pause nach jedem Herzschlag fühlte sich für Ataquixt wie eine qualvolle Stunde an und er wusste, dass sie für jene, die in dem magischen Sturm gefangen waren, noch länger dauerte.
Schließlich brach die wirbelnde schwarze Wolke auseinander und Ataquixt lenkte sein Cuetzpali-Reittier zurück zum Boot. Dort fing er an, die Überlebenden ans nahe gelegene Ufer zu ziehen. Danach holte er die Leichen, ein halbes Dutzend Tote.
»Wir werden sie finden und töten«, versprach ein geretteter Mundunugu mit klappernden Zähnen. Ataquixt wusste nicht, ob das an der Kälte, seinen Wunden oder den Nachwirkungen der Blitze lag.
»Ihr werdet unsere gefallenen Brüder und Schwestern zurück nach Westen bringen«, befahl Ataquixt dem Rest seiner Leute. »Ihr werdet sie Pixquicauh als Helden präsentieren, damit er sie Scathmizzane opfern kann, und ihr werdet Tuolonatl von der Schlacht und der menschlichen Magierin berichten.«
»Die Cochcal wird nicht erfreut sein«, warnte eine Frau.
»Die Große Tuolonatl versteht den Krieg«, versicherte ihr Ataquixt. »Sie wird unsere Schlacht als großen Erfolg betrachten.«
Ihm fiel auf, dass viele von ihnen skeptische Blicke wechselten.
»Wir haben heute eine Menge über unseren Feind erfahren«, erklärte er. »Als wir über den Tzatzini kamen, haben wir sie so schnell abgeschlachtet, dass sie uns ihre wahren Fähigkeiten nicht offenbaren konnten.« Er warf einen Blick auf den See, zu dem Boot, das seitlich im Wasser trieb. Das Eis war verschwunden.
»Aber jetzt kennen wir sie.«
»Und ich, Ataquixt, werde noch viel, viel mehr in Erfahrung bringen.«
Der Kundschafter, der das Vertrauen der großen Tuolonatl genoss, zupfte kurz an den Zügeln seines Cuetzpali, um das Reittier zu wenden, und ließ sich von ihm in die Wüstennacht hinaustragen.