Читать книгу Hexenzirkel 3: Das Lied des auferstandenen Gottes - R.A. Salvatore - Страница 14

Rufbekämpfung

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»Wir müssen in der Nähe des Sees bleiben«, sagte Talmadge zu Aydrian. Sie bildeten die Vorhut der Flüchtlingsgruppe, die an diesem Morgen das Ayamharas-Plateau endlich hinter sich gelassen hatte. Aydrian und Talmadge waren vorangegangen, vorbei am Hügelland östlich ihres Abstiegs und hatten das Ufer des großen Sees erreicht, der durch den gewaltigen Spalt im Gebirge entstanden war. Er dehnte sich weit nach Süden aus und reichte im Osten bis zum Horizont.

»Da gibt es keine Deckung«, sagte Aydrian. Er strich sich mit den Fingern durch die schwarzen lockigen Haare, dann schirmte er seine Augen mit der Hand ab und spähte gen Osten.

»Aber es gibt dort Nahrung und Wasser und wir werden beides brauchen, wenn wir es schaffen wollen, so viele Leute lebend durch die Wüste zu bringen«, entgegnete Talmadge. Er war größer als Aydrian, aber viel schlaksiger und bei Weitem nicht so beeindruckend wie der im Exil lebende König von Honce-der-Bär. Aydrian hatte für den Ausflug zum Auskundschaften der Gegend auf seine leuchtende Brustplatte verzichtet, war aber immer noch wesentlich breiter als Talmadge, mit festen Muskeln, die er einem jahrelangen harten Training verdankte. »Aber ich verstehe deine Bedenken«, fügte der Grenzbewohner hinzu. »Ginge es nur um uns beide …«

Aydrian drehte sich um und sah ihn an. »Wenn sie uns am Seeufer entdecken und ausrücken, wo sollen wir uns dann verstecken?«

»Wir sind weit weg von ihnen.«

»Sind wir auch weit weg von ihrem fliegenden Drachen?«

Diese Frage konnte Talmadge nicht beantworten.

»Vielleicht hätten wir der Usgar-Hexe den Fernsichtkristall nicht überlassen sollen«, fügte Aydrian hinzu. »Es wäre gut, wenn wir einen Blick zurück auf unsere Feinde werfen und uns auch das andere Ufer dieses neuen Sees genauer anschauen könnten. Vielleicht ist dort ein Fluss entstanden, den wir mit Booten befahren können.«

»Aoleyn wird zurückkehren«, sagte Talmadge fest und starrte zu dem gewaltigen Plateau hinauf. »Sie muss.«

Aydrian musterte ihn und wartete, bis der Mann seinen Blick erwiderte, dann nickte er knapp. »Wenn du ihr vertraust, dann vertraue ich ihr auch«, sagte er. »Ich hoffe, dass sie bald zurückkehrt. Es wäre gut, mehr zu erfahren.« Er machte sich auf den Rückweg und fügte resignierend hinzu: »Wir können nicht länger warten.«


Aoleyn blieb meistens dicht am Boden, bewegte sich mit beinahe schwerelosen Hüpfern voran, für die sie den Malachit benutzte, anstatt sich vom Mondstein durch die Lüfte tragen zu lassen. Der Abstieg vom Nordrand des Abgrunds wirkte auf den ersten Blick simpel, aber die Pfade am Berghang verästelten sich immer weiter, je tiefer sie kam.

Sie befürchtete, dass sie vom Weg abkommen würde und Schlimmeres. Sie sagte sich, dass sie schon seit über einem Tag unterwegs war und ihre Freunde sicher längst weitergezogen waren, aber die Angst blieb. Wenn man sie gefangen genommen und umgebracht hatte, dann war Aoleyn allein, wirklich und wahrhaftig allein. Als die junge Frau daran dachte, wirkte diese Vorstellung auf einmal erschreckend real und legte sich kalt und schwer auf ihre Schultern.

Diese Gedanken begleiteten sie und wurden bei jedem Schritt dunkler. Wo waren sie?

»Keine Kampfspuren«, flüsterte sie mehrmals vor sich hin, aber diese Litanei klang hohl. Sie hatte die Feinde gesehen, so viele und so brutal. Sie hatte ihren Gott gesehen und den Drachen, auf dem er ritt.

Sie hielt an einem Aussichtspunkt inne, warf einen verzweifelten Blick nach Norden, nach Osten und sogar zurück nach Westen. »Wo seid ihr?«, flüsterte sie.

Das war eine gute Frage. Aoleyn zog einen kleinen Gegenstand aus ihrem Beutel. Sie hielt ihn hoch, beschwor seine Magie, spähte hindurch und schickte ihren Blick in die Ferne. Zuerst nach Westen, dann nach Norden und schließlich nach Osten zum Fuß des Bergplateaus.

Aoleyn atmete erleichtert auf, als sie die Flüchtlinge endlich entdeckte. Sie hielten sich zwischen den Felsbrocken am Fuß des Berges auf, waren den Hang schon hinabgestiegen, sodass sie die Wüstenebene erreicht hatten.

Sie steckte den Gegenstand wieder in den Beutel, beschwor ihren grünen Malachit und den Mondstein und lief mit langen Sprüngen, die sich teilweise in einen Flug verwandelten, geradewegs auf das Lager zu, anstatt den gewundenen Pfaden zu folgen, denen die Flüchtlinge gefolgt waren, vorbei an den zahlreichen Schluchten und Felsen. Trotzdem waren sie sehr gut vorangekommen und Aoleyn nahm an, dass ihr Freund Talmadge die Führung übernommen hatte.

Sie landete und legte den Rest der Strecke, der über ebenes Gelände führte, zu Fuß zurück. Ihre Usgar-Magie vor den Uamhas zur Schau zu stellen, war nicht gerade angebracht. Ihr unverformter Schädel sorgte ja schon für eine gefährliche Kluft zwischen ihr und ihnen.

Vorsichtig und mit gesenktem Kopf betrat sie das Lager und warf den anderen nur hin und wieder flüchtige Blicke zu, um sich zu vergewissern, dass deren mürrische Miene nicht in Gewalt umschlug. Es gab hier keine Usgar und nur drei andere, die nicht zu den Seestämmen gehörten. Und noch einen vierten, einen jungen Mann, dessen Kopf nicht im Säuglingsalter gestreckt worden war, und den sie nach einem Moment entdeckte.

»Bahdlahn«, hauchte sie, als sie auf ihn zulief, und wie seine Züge sich aufhellten, als er sie sah, wie er die Arme ausbreitete, um sie fest zu umarmen.

»Ich hatte gedacht, dass du vor Einbruch der Nacht zurückkommen würdest«, sagte er atemlos. »Ich dachte … ich hab schon befürchtet, dass …«

»Psst«, bat Aoleyn und legte ihm den Finger auf die Lippen. »Ich hatte viel zu tun.« Während sie mit ihm sprach, ging ihr Blick an Bahdlahn vorbei zu einer Frau, die ebenfalls keinem der Seestämme angehörte, allerdings schon seit einiger Zeit bei einem lebte. Die dunkelhäutige, schwarzhaarige Frau hockte auf einem Rollbrett und zog sich mit den Händen über den steinigen Untergrund.

»Talmadge wird sich freuen, dich zu sehen«, sagte Khotai. »Und wenn du nur halb so viel Macht besitzt, wie er sagt, dann sollten wir wohl alle froh über deine Rückkehr sein.«

Aoleyn grinste, als sie zu Khotai hinuntersah, einer Frau, die sie auch während ihrer Zeit in der Höhle nicht vergessen hatte. Auf den ersten Blick und wenn man sie nicht kannte, wirkte Khotai bemitleidenswert, denn das Seeungeheuer hatte ihr ein Bein abgebissen und das andere verkrüppelt. Ihre Hände wirkten nun ebenfalls kaputt, denn seit dem Jahre zurückliegenden Angriff nutzte sie ihre Finger, um sich über den Boden zu ziehen.

Die Frau erwiderte Aoleyns fröhliches Lächeln jedoch nicht, sondern runzelte die Stirn, und Aoleyn erkannte, dass die verkrüppelte Frau ihre Reaktion und den Blick, denn Aoleyn auf sie warf, für herablassend hielt.

Aoleyn griff rasch in ihre Tasche, um nach einigen bestimmten Kristallen zu suchen. Sie hielt die Öffnung ins Sonnenlicht, damit sie die Farben der Kristalle ausmachen konnte. Dann packte sie nach einer Handvoll, schloss die Finger darum und lauschte mit geschlossenen Augen dem Lied Usgars.

»Ah, Usgar-Hexe!«, schrie eine Frau und wich so schnell von ihr zurück, dass sie stürzte. Andere stimmten mit ein.

Aoleyn ignorierte den Chor verängstigter Rufe und konzentrierte sich auf das Lied. Sie öffnete die Augen und hielt Khotai, die sie ebenso wie Bahdlahn verwirrt ansah, die leere Hand hin.

Khotai musterte sie, ohne sich zu rühren.

»Nimm meine Hand«, sagte Aoleyn.

Khotais Augen wurden schmal.

»Bitte?«, fragte Aoleyn flehentlich und wackelte auffordernd mit den Fingern.

Ohne Aoleyn aus den Augen zu lassen, streckte sich Khotai vorsichtig hoch und ergriff Aoleyns Hand.

Dann schwebte sie auch schon nach oben und ihr verbliebenes Bein streckte sich unter ihr aus. Sie stand da oder schien dazustehen, obwohl ihr Bein den Boden nicht berührte. Die Menschen in der Nähe keuchten verblüfft bei diesem Anblick, aber nicht Bahdlahn, der nur breit lächelte, schließlich waren die Wunder, die Aoleyn vollbringen konnte, für ihn nicht überraschend.

»Bahdlahn«, sagte Aoleyn, sah aber weiterhin Khotai an. »Besorg mir eine Decke, aus der wir ein Kleid machen können, und zwei Lederriemen, zwei Gürtel.«

»Was hast du vor?«, fragte Khotai leise.

»Ich möchte die Kristalle, die ich in der Hand halte, in einen Gürtel einsetzen. Einer, der dich in die Lage versetzen wird, das hier selbst zu tun.«

»Mach dich nicht über mich lustig …«

»Folge mir«, sagte Aoleyn und trat einen Schritt zur Seite.

Khotais Bein zuckte und dann schwebte sie auch schon neben der anderen Frau her.

»Beeil dich, Bahdlahn!«, rief Aoleyn dem jungen Mann nach, der bereits in der Menge verschwand.

Aoleyn ging ein Stück voran, dann bat sie Khotai, die mühelos mitgehalten hatte, die Führung zu übernehmen, und folgte der schwebenden Frau.

»Wenn das nicht so funktioniert, wie du versprichst, hole ich mir deinen Kopf«, warnte die wilde To-gai-ru, aber Aoleyn lächelte nur selbstbewusst.


Aydrian und Talmadge entging die Aufregung nicht, als sie in Sichtweite des Flüchtlingslagers kamen. Sie wechselten einen besorgten Blick und liefen Seite an Seite den letzten Hügel vor dem Lager hinauf. Sie wurden nervös und ihre Gesichtsmuskeln spannten sich an, als sie das Wort Hexe gleich mehrfach hörten.

»Was hast du uns da gebracht, Talmadge, du Narr?«, rief ein Mann. Er ging sogar drohend auf ihn zu, aber eine starke Frau packte seinen Arm, zog ihn zurück und stellte sich vor ihn.

»Es ist gut, dass du wieder hier bist«, sagte Catriona aus Fasach Crann zur Begrüßung.

»Was ist hier los?«

»Deine Usgar-Freundin Aoleyn ist zurückgekehrt«, erklärte Catriona und warf einen Blick über ihre Schulter. »Sie führt ihre Magie vor.«

»Sie besitzt die gleiche Magie wie ich«, erwiderte Aydrian, der die Sprache der Einheimischen mittlerweile gut beherrschte. »Die Magie, die so viele von deinen Leuten geheilt hat. Die Magie, die es mir erlaubt hat, über das Wasser zu dem gekenterten Boot zu gehen, um …«

»Du bist kein Usgar«, unterbrach ihn Catriona barsch. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Talmadge zu. »Komm mit und sieh dir das an.«

Sie führte die beiden durch einige kleine Gruppen und an den Felsen vorbei, die überall auf dem kleinen Plateau lagen, bis zu einem Kreis aus Zuschauern, die Schulter an Schulter standen.

In der Mitte saßen Aoleyn und Khotai. Die To-gai-ru band gerade ein improvisiertes Kleid zusammen, während Aoleyn eine Art dünne Schnur mit zwei Lederriemen verwob und daraus einen breiten Riemen machte.

»Khotai?«, fragte Talmadge.

Die Frau sah zu ihm auf, schenkte ihm ein ungewöhnlich verlegenes Lächeln und hob die Hand, um ihn zurückzuhalten.

»Jetzt?«, fragte sie Aoleyn.

Aoleyn führte die Schnur, einen aus Wedstein bestehenden Draht, der jenem glich, mit dem sie ihren eigenen Schmuck herstellte, durch die Lederriemen, dann einmal herum und knotete sie fest zusammen. Nach einem kurzen Blick auf den fertigen Gürtel beugte sie sich vor und band ihn um Khotais Hüften.

»Ich bin keine Hexe«, flüsterte die Frau Aoleyn ins Ohr, als ihre Köpfe dicht beieinander waren.

»Musst du auch nicht sein«, erwiderte Aoleyn leise. »Du wirst die Magie spüren und das Lied hören. Du musst ihr nur sagen, was sie tun soll.«

Aoleyn lehnte sich zurück und rückte den Gürtel zurecht. »Das wird ein bisschen wehtun«, warnte sie und hob Khotais Hemd, sodass man ihren Bauchnabel sehen konnte.

Das war die beste Stelle, das wusste Aoleyn aus eigener Erfahrung. Sie hatte viele Schmuckstücke mit Wedsteindraht in ihrem Fleisch verankert, aber jenes in ihrem Bauchnabel war am präsentesten, weil es mit ihrer Lebensenergie verbunden war. Sie stach den Draht in Khotais Bauchnabel und beschwor die schwache Heilmagie im Wedsteindraht, um die Wunde zu schließen und Khotai dauerhaft mit ihrem Gürtel zu verbinden.

Khotais Gesichtsausdruck änderte sich abrupt. Aoleyn wusste sofort, dass sie das Lied der Magie tatsächlich hören konnte.

»Schließ die Augen«, sagte Aoleyn, dann rutschte sie zur Seite, stand auf und trat einen Schritt zurück. »Sag ihr einfach, was du von ihr willst.«

»Aoleyn, was …« Talmadge setzte zu einer Frage an, aber Aoleyn brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

Er sagte nichts mehr, keuchte nur mit geweiteten Augen und offenem Mund, als Khotai vom Boden emporschwebte und auf ihrem verkrüppelten Bein stehen blieb. Einen Moment lang schwankte sie und Talmadge wollte ihr zu Hilfe eilen, aber Aoleyn hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück.

Khotai fand ihr Gleichgewicht wieder und strahlte Aoleyn an.

»Wie lange?«, fragte sie.

»Bis du müde wirst«, erwiderte Aoleyn. »Falls du je müde wirst.« Sie trat vor, legte ihre Hände auf Khotais Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Deine Tage am Boden sind vorüber.«

Khotais Lächeln erstarb, als sie um Worte rang. Doch sie brachte keine hervor, nur Tränen. Dann fiel sie Aoleyn in die Arme.

»Das wird für immer so sein«, versprach Aoleyn.

Die versammelten Menschen wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Sie tauschten unsichere Blicke, zuckten mit den Schultern, starrten Khotai an, lachten, manche weinten, manche schüttelten den Kopf, vielleicht ungläubig, vielleicht wütend oder ablehnend – das wusste niemand so genau.

Bahdlahn jubelte Aoleyn zu, aber die Reaktionen darauf waren eher verhalten. Talmadge lief zu Khotai, der Frau, die er liebte.

»Du scheinst nicht überrascht zu sein«, sagte Catriona zu Aydrian, der äußerlich am wenigsten auf diese beeindruckenden Ereignisse reagierte.

»Du weißt nichts über die Magie der Ostländer«, erklärte er der Frau. »Über die Zauber und Gegenstände. Über die Magie meines Schwerts oder meiner Brustplatte, über die Edelsteine, die es mir ermöglichen, auf Wasser zu gehen. Es überrascht mich, dass diese Usgar, die nicht zur abellikanischen Kirche gehört und auch keine Elfe ist, die Edelsteine so gut beherrscht, aber was die magischen Steine hier bewirkt haben, wundert mich nicht. Die Magie ist mächtig, Catriona aus Fasach Crann.«

»Mächtig genug, um sie aufzuhalten?«, fragte die Frau mit einem Blick hinauf zum Gebirge und dem eroberten Ayamharas-Plateau.

»Das werden wir sehen«, erwiderte Aydrian. »Ich befürchte, dass uns keine andere Wahl bleibt, als es herauszufinden.«


Die Flüchtlinge brachen kurz danach auf und folgten dem Nordufer des neuen Sees. Aydrian setzte Talmadges Quarzkristall ein, um sich den Wasserfall hinter ihnen anzusehen, der immer noch den neuen und gewaltigen See speiste, auch wenn er mittlerweile viel schmaler geworden war. Dann betrachtete er das Ostufer und entdeckte einen kleinen Fluss, der aus dem See in Richtung Osten mäanderte.

»Die Reise wird einfacher, wenn wir am Seeufer bleiben«, erklärte er Catriona und den anderen. »Dort steht uns Wasser und Nahrung zur Verfügung, um durch die Wüste bis zu den Ländern zu kommen, in denen sich Talmadge und Khotai gut auskennen. Dort werden wir weit weg von den Eroberern sein.«

»Wenn sie uns nicht vorher erwischen«, erwiderte die Frau.

Darauf wusste Aydrian keine Antwort.

»Sie werden uns nicht erwischen«, sagte Aoleyn, die sich einige Reihen hinter ihnen befand. »Und wenn doch, dann werden sie das bereuen.«

Selbst die Seebewohner, die ihr nicht trauten und sie sogar hassten, weil sie eine Usgar war, nickten, als sie diese Worte hörten.

Aydrian war froh darüber. Er warf einen Blick auf Khotai, die sich inzwischen elegant fortbewegte, mühelos mithielt und dank des magischen Gürtels, den Aoleyn angefertigt hatte, auf diese seltsam gehende und gleitende Weise sogar schneller laufen konnte als alle anderen. Obwohl das verbliebene Bein der Frau verkrüppelt und missgestaltet war, kam sie, wenn sie den Fuß auf den Boden setzte, mit einem einzigen, beinahe schwerelosen Hüpfer zwanzig Schritte weit.

Dank dieses Erfolgs, der Arbeit mit dem Heilstein und Khotais Entschlossenheit, die Magie anzunehmen, gelang es Aoleyn, den Hass der anderen Stück für Stück zu überwinden.

Das gab Aydrian Hoffnung.

Nicht für Aoleyn, denn er war davon überzeugt, dass sie sich trotz der turbulenten Entwurzelung behaupten würde, sondern für sich selbst. Aydrian wusste, was er zu tun hatte, und er konnte sich recht gut vorstellen, welchen Widerstand er von König Midalis in Ursal zu erwarten hatte, vor allem von der abellikanischen Kirche selbst.

Ihm kam recht oft der Gedanke, dass er auf dem Weg in den Tod war. Die Bedingungen für sein Exil waren eindeutig gewesen: Auf seine Rückkehr nach Honce-der-Bär stand die Todesstrafe.

Er kehrte zwar zurück, um vor einer potenziellen Gefahr aus dem Westen zu warnen, befürchtete jedoch, dass dies nicht zu einer Aussetzung der Bedingungen führen würde.

Dann war es eben so.

Sie schlugen ihr Lager nicht weit vom Hügelland des Plateaus entfernt am Seeufer auf, da die Weiterreise bei Dunkelheit zu gefährlich war. Catriona erlaubte keine Fackeln, überhaupt kein Licht, aber Aoleyn konnte mit ihrem Rubinring wenigstens einige Steine für das Lager anwärmen, sodass die Menschen in der nächtlichen Wüstenkälte nicht frieren mussten.

Wie sie versprochen hatte, war sie mit Khotai noch nicht fertig. Sie hatte mit ihren Kräften die rechte Hand der Frau geheilt, aber die linke erwies sich als problematischer. Durch das jahrelange Kriechen hatten sich die Sehnen zusammengezogen und die Finger verkrümmt.

»Ich kann das beheben«, sagte Aoleyn zu Khotai. »Aber das wird vielleicht mit den stärksten Schmerzen verbunden sein, die du je erlebt hast.«

»Oh, mach dir keine Sorgen, meine Liebe«, erwiderte Khotai und zwinkerte Talmadge zu. »Ich weiß, was Schmerzen sind. Mir hat ein Seeungeheuer, das nun anscheinend zum Drachen geworden ist, ein Bein abgebissen und das andere zerschmettert.«

Aoleyn lachte und nickte.

»Wann?«, fragte Khotai.

»Wann immer du bereit bist«, entgegnete Aoleyn.

»Jetzt«, sagte die Frau, ohne zu zögern und ohne das geringste Zittern in der Stimme.

Aoleyn zeigte auf Talmadge und Aydrian. »Holt ihr etwas, auf das sie beißen kann, und haltet sie fest.«

»Bist du sicher?«, flüsterte Bahdlahn ihr zu, denn sie hatte ihm seine Rolle erklärt.

»Traust du mir etwa nicht mehr?«, erwiderte sie, worauf der junge Mann lächelte.

»Sobald er zuschlägt, heilst du sie, so gut es geht«, rief Aoleyn Aydrian ins Gedächtnis, der zu diesem Anlass seine edelsteinverzierte Brustplatte angelegt hatte. Er nickte ernst.

Die beiden Männer hielten Khotai fest und streckten ihren linken Arm zur Seite. Talmadge ergriff ihren Unterarm und drückte ihre verkrüppelte linke Hand fest auf einen flachen Stein, den Aoleyn ausgesucht hatte.

Bahdlahn legte einen zweiten flachen Stein vorsichtig auf die Hand.

Aoleyn legte ihre Hand an die Hüfte, wo der größte und stärkste Wedstein hing, und ließ sich in dessen Lied fallen. Als die Melodie harmonisch und laut erklang, sah sie auf und nickte Bahdlahn zu. Der junge Mann, der die letzten Monate damit verbracht hatte, eine Treppe in den Fels des Fireach Speuer zu schlagen, und dessen Muskeln vom schier endlosen Behauen und Tragen der Steine gestählt worden waren, hob einen Hammer hoch über den Kopf und ließ ihn mit beängstigender Kraft und Genauigkeit auf den Stein krachen, der auf Khotais Hand lag.

Die Frau biss die Zähne zusammen, knurrte und heulte, als ihre Knochen zerschmettert wurden.

Aydrian schickte sofort Heilmagie aus den Seelensteinen in seiner Brustplatte in ihre Hand.

Aoleyn griff den Schmerz mit einer mächtigen Welle aus Wärme und Heilung an und benutzte dabei denselben Stein, einen Hämatit, den sie Wedstein nannte.

Das ging viele Herzschläge so weiter, bis Khotai sich so weit beruhigt hatte, dass sie den Lederriemen, auf den sie gebissen hatte, ausspucken konnte.

Talmadge und Aydrian ließen sie los.

»Ja, das tat weh«, gestand sie Aoleyn. »Und wie weh das tat.«

»Und jetzt?«, fragte Aoleyn.

Khotai lächelte gelassen.

»Beweg dich nicht«, bat Aoleyn. Sie forderte die drei Männer mit einer Geste auf, sie und Khotai allein zu lassen, dann setzte sie die Heilung eine ganze Weile lang fort. Als sie fertig war, wickelte sie die Hand vorsichtig in dünne Stoffstreifen ein und benutzte Zweige, um die Finger zu schienen.

»Versuche nicht, sie zu bewegen«, wies Aoleyn sie an.

»Wie lange?«

»Nur ein Weilchen«, versprach Aoleyn.

Zu Khotais Überraschung griff Aoleyn nach dem magischen Gürtel und nahm ihn ihr ab.

»Du wirst schon sehen«, versprach sie, als sie wegging. »Ruh dich aus, versuch zu schlafen. Du bekommst ihn morgen früh zurück.«

»Gibt es ein Problem?« Die Besorgnis in Khotais Stimme war unüberhörbar. Sie hatte erst an diesem Tag ihre Mobilität zurückerlangt und es war klar, dass die Vorstellung, sie so schnell wieder zu verlieren, unerträglich für sie war.

»Nein, aber ich habe eine Idee. Du wirst schon sehen«, versprach Aoleyn mit Vorfreude in der Stimme.


Als Khotai am nächsten Morgen erwachte, gab Aoleyn ihr den Gürtel zurück. Er fühlte sich so an wie zuvor und sie konnte mit seiner Hilfe sicher und mühelos aufstehen.

»Ich werde deine Hand unterwegs weiter heilen«, sagte ihr Aoleyn.

»Was ist mit dem Gürtel?«

»Beim Gehen hat sich nichts verändert«, erklärte Aoleyn und grinste vergnügt. »Aber du kannst jetzt über Wasser gehen, wenn du möchtest.«

Khotai kicherte nervös. »Über Wasser? Auf dem Wasser?«

Aoleyn nickte erneut und ihr Grinsen wurde breiter.

»Ich schulde dir mein Leben, Aoleyn von den Usgar.«

»Und ich schulde Talmadge das meine und er schuldet seines Khotai«, erwiderte Aoleyn. »Solche Schulden helfen uns allen.«

Aydrian, der sich nicht weit entfernt aufhielt, hörte die Unterhaltung und stimmte Aoleyns Einschätzung zu. Der ganzen Welt ist mit solchen Schulden geholfen, dachte er.

Er erinnerte sich an seine Vergangenheit, an seine Zeit mit Marcalo De’Unnero und den Weg des Bösen, den er beschritten hatte. Der dämonische Daktylus hatte ihn beherrscht.

Er war nun frei von dieser abscheulichen Präsenz, einem Wesen, das man noch vor seiner Geburt in seinen Geist injiziert hatte, ein dämonischer Einfluss, den böse Männer mit schrecklichen Zielen ausgenutzt hatten.

Doch Aydrian konnte sich diese Vergangenheit nicht verzeihen.

Er musste darauf hoffen, dass König Midalis und Vater Abt Braumin Herde ihm vergeben würden, zumindest so weit, dass sie seine Warnungen beherzigten, denn er konnte nicht glauben, dass die buntgesichtigen Eroberer ihren Feldzug auf dem Bergplateau beenden würden. Sie waren von Westen gekommen und ihr Weg führte mit Sicherheit weiter nach Osten.

Wo Honce-der-Bär auf sie wartete und eine Million Unschuldige.

Hexenzirkel 3: Das Lied des auferstandenen Gottes

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