Читать книгу Die Hochzeitskapelle - Rachel Hauck, Rachel Hauck - Страница 13
Kapitel Fünf
ОглавлениеJIMMY
Heart’s Bend, Tennessee
17. September 2015
Also wirklich, war das nicht komisch? Zweimal in einer Woche? Welche Wendung wollte Gott seinem Leben denn nun wieder geben?
Jimmy legte den Hörer auf die Gabel und starrte aus dem Fenster über der Spüle. Seine Kapelle. Die er über sechzig Jahre lang dunkel und alleingelassen hatte. Und plötzlich kamen von überall her Leute und wollten einen Blick darauf werfen.
Nachdem die Kapelle weitab vom Schuss die River Road runter lag, hätte er nicht gedacht, dass jemand außer ihm, seinem lieben verstorbenen Dad und dem Landvermesser überhaupt davon wusste.
Aber dann hatte da so ein Bursche vom Architecture Quarterly angerufen, der einen Fotografen hinschicken wollte. Der sagte, sie wollten eine Ausgabe über klassische amerikanische Hochzeitskapellen machen. Jimmy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie überhaupt auf den Ort gekommen waren.
Als Jimmy nachfragte, sagte der Mann, er wisse das auch nicht. Aber wenn Jimmy tatsächlich eine Hochzeitskapelle im Wald versteckt hätte, würden sie gerne in ihrem Magazin darüber berichten.
„Wir haben gehört, sie soll eine echte Schönheit sein.“
Von wem? Der Immobiliengutachter Arnold Rowland hatte keine Verbindungen zum Architecture Quarterly, da war sich Jimmy ganz sicher.
Das war auf jeden Fall eine sehr mysteriöse Sache.
Und gerade jetzt hatte auch noch ein Immobilienmakler angerufen. Keith Niven sagte, er wolle sich das Gebäude anschauen und hätte sogar einen Käufer an der Hand, falls Jimmy interessiert wäre.
„Ich bin hier draußen auf Ihrem Grundstück, und, also, Junge, Junge, Coach, was machen Sie denn mit diesem Ding?“ Keith hatte laut und durchdringend gepfiffen und Jimmy gegenüber den Eindruck hervorgerufen, er sei von dem Gebäude beeindruckt. Oder war das nur Verkäufergehabe? „Wollen Sie verkaufen?“
„Nein“, war Jimmys spontane Antwort. Aber er hielt sich damit zurück, sagte nichts. Vielleicht war es an der Zeit. Wenn nächste Woche erst einmal der Fotograf von Architecture Quarterly da war, würde er sowieso allerhand Anfragen bekommen. Da konnte er Keith ebenso gut einen Vorsprung lassen.
„Ich fahre raus. Gib mir zehn Minuten.“
„Fantastisch.“
Mit diesem Morast in seinem Kopf fischte Jimmy seine Autoschlüssel aus der Obstschüssel neben der Küchentür und trat hinaus in die Mittagssonne. Der Sommer hatte die Septembertage immer noch fest im Griff, heiß war es.
Aber so war es eben in Tennessee. Er hatte mehr als genug Herbstnachmittage von den sengenden Sonnenstrahlen rösten lassen, während er Footballtrainings leitete und Jungen zu Männern aufgebaut hatte.
Dann legte Gott irgendwann den Schalter um, senkte die Temperaturen, färbte die Bäume mit der Herrlichkeit des Himmels und machte das Leben mit dem perfekten Footballwetter umso schöner.
Er vermisste diese Tage. Ihm fehlte etwas, das seinem Leben Bedeutung verlieh. Aber als er vor neun Jahren vierundsiebzig geworden war, hatte er den Glockenschlag der Zeit gespürt und gewusst, dass es an der Zeit war, die Verantwortung des Footballprogramms an der Rock Mill Highschool einem jüngeren Mann zu überlassen.
Außerdem machte Tom Meyers seine Sache sehr gut. Er hatte zwar noch keinen nationalen Titel gewonnen, aber das war heute auch schwerer als zu Jimmys Zeiten.
Während er zu seinem Auto ging, sprangen seine Gedanken vom Football zur Kapelle, genauer gesagt zu Keiths Vorschlag. Er war ein junger Kerl, dieser Immobilienmakler, und, soweit Jimmy wusste, ein guter Mann. Sein Vater hatte in einer von Jimmys Championship-Mannschaften gespielt.
Jimmy ließ sich hinter dem Steuer nieder, warf den Motor an und zögerte dann mit der Hand auf dem Schaltknauf. Seine alte Kapelle … Die Erinnerungen kamen an die Oberfläche …
Mist, jetzt hatte er doch den Schlüssel zur Kapelle vergessen.
Er ließ den Wagen im Leerlauf stehen, ging zurück ins Haus, durch die Küche ins Wohnzimmer, dann nach oben. In seinem Zimmer, unter der Dachgaube, öffnete er die schmale Halbtür zum Dachboden und kletterte hoch.
Gebückt tastete er sich durchs Dunkel und holte ein kleines Kästchen aus Zedernholz hervor. Als er den Deckel hob, verstärkte der Duft des Holzes seine Erinnerungen.
„Was wirst du mit dem Gebäude machen?“ Dad war Jimmy in sein Zimmer gefolgt, er war nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
„Es abschließen.“
„Nach all deiner harten Arbeit? Jimmy, lass es nützlich sein …“
„Ich schließe es ab, wo du schon nicht zugelassen hast, dass ich es abbrenne.“ Jimmy wühlte in seiner Kommode nach irgendetwas, in dem er den Schlüssel verstauen konnte. Schließlich entdeckte er ein staubiges Holzkästchen, das er vor Urzeiten in der Sonntagsschule gebastelt hatte. Er öffnete es und ließ den Schlüssel hineinfallen.
„Du wirst dich nicht immer so fühlen wie jetzt“, sagte Dad. „Sie könnte zurückkommen.“
„Ja? Hat Mama das denn gemacht?“ Das ging unter die Gürtellinie, aber seine Wut ließ ihn heftig austeilen.
„Was habe ich dir denn immer gesagt? Sei nicht wie ich. Leb weiter. Finde ein anderes Mädchen.“ Dad ging zur Tür. Seine breiten großen Schultern beugten sich unter der Schwere der Unterhaltung. „Versprich mir nur, dass du den Schlüssel nicht wegwirfst.“
Er sprach nicht von dem Metallstück in dem Holzkästchen. Jimmy wusste das. Er warf sich aufs Bett, streckte sich lang aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und nickte. „Werde ich nicht … Ich werde den Schlüssel nicht wegwerfen.“
Er verstaute das Kästchen wieder in seinem Versteck und schüttelte den Geruch der Vergangenheit ab. Aber den Schlüssel hatte er doch weggeworfen. Den zu seinem Herzen. Während der echte, greifbare Schlüssel zur Kapelle unversehrt geblieben war, hatte sich Jimmy an die Buchstaben des Gesetzes gehalten, nicht aber an die Gnade dahinter.
Er drückte sich den Schlüssel in die Handfläche. „Es tut mir leid, Daddy.“ Noch mit dreiundachtzig Jahren vermisste er seinen Vater.
Aber der heutige Tag stellte eine neue Chance dar. Eine Möglichkeit, den Schlüssel weiterzugeben und der alten Kapelle das Leben einzuhauchen, das sie nie gehabt hatte. Für sein Herz war es zu spät, nicht aber für das der Kapelle. Nicht für die Träume, die er für die Kapelle hatte.
Doch hatte er den Mut? Das würde Jimmy nicht wissen, bis er das erste Mal nach langer Zeit die Tür öffnen und in seine Vergangenheit eintreten würde.
Mit diesem Gedanken verließ er das Haus und hegte ein Gefühl, das Ganze könnte einen gewissen Sinn haben. Vielleicht schritt das Göttliche ein und erhörte ein unausgesprochenes Gebet seines Herzens.
Er fuhr langsam die Straße hinunter. Eine Vorahnung des Herbstes hatte die Ränder der grünen Hügel berührt.
Er legte seinen Ellbogen ins offene Fenster und roch einen Hauch Holzfeuer. Veränderung lag in der Luft und weckte in ihm das Verlangen nach etwas, das er weder sehen noch fassen konnte.
Jimmy bog von der Dunbar Street in die River Road ein und fuhr drei kurze Meilen nach Norden.
Ein Neubaugebiet schien über Nacht in den sanften Hügeln emporgeschossen zu sein. Heart’s Bend wirkte in den letzten Jahren kaum noch wie früher, wo sich Nashville heutzutage immer mehr ausbreitete und sich nach Nordwesten ausdehnte, wo es über Jimmys sanftgeschwungenen Hügeln und am Cumberland River immer neue Baustellen entstehen ließ.
Er hatte so lange hier draußen gelebt, dass er das Land als etwas Persönliches empfand. Damals wollte er, dass Daddy das Land kaufte, das ihr Haus umgab. Er hatte es geschafft, eine Anzahlung für den ersten Feldweg zu leisten, als der alte Rise Forester Sr. daherkam und den ganzen Rest aufkaufte.
Jetzt verkaufte sein Sohn, der Taugenichts Rise jr. ,an jeden, der es sich leisten konnte. Den Gerüchten nach blieb ihm auch nichts anderes übrig. In nur zwei Jahrzehnten hatte er das gesamte Vermögen seiner Familie durchgebracht. Ganz zu schweigen davon, dass er ein gemeiner Fiesling war. Was er seinem Sohn Jack angetan hatte …
Jimmy rutschte in seinem Sitz herum und spielte mit der Hand am Lenkrad. In seinen fünfundvierzig Jahren als Coach hatte er Hunderte Kinder trainiert, aber Jack Forester blieb ihm klar vor Augen. Jimmy hatte die Gelegenheit bekommen, ihn zu trainieren, kurz bevor er in den Ruhestand ging. Der Junge arbeitete hart, spielte hart, lernte hart. Er tat alles, was von ihm verlangt wurde, während er die ganze Zeit von einer Pflegestelle zur nächsten durchgereicht wurde. Und sein verflixter Vater sah dabei zu und tat nichts.
Unter den überwucherten Sommerstauden kam die Straße zu der Kapelle zum Vorschein, und Jimmy lenkte den Wagen auf sein Grundstück, ein echtes Juwel inmitten des Waldes.
Es ging einen kurzen, schmalen Weg hinunter, dann brach der Wagen auf eine helle, magische Lichtung durch, und die Kapelle erhob sich und befahl die Andacht aller, die sich ihr näherten.
Jimmy atmete ein. Sie war eine Schönheit. Wie die, die ihn dazu inspiriert hatte.
Ihre Steinmauern und das verwitterte Fachwerk wirkten majestätisch. Die Kapelle schien durch die Kuppel das Licht förmlich zu trinken, das sie dann durch die Fenster wieder ausströmen ließ. Die Buchen und Schwarzpappeln streckten reichbelaubte Äste über das Schindeldach der Kapelle und schufen ein Dickicht, das Sicherheit und Frieden ausstrahlte.
Jimmy brachte das Auto auf dem dicken Teppich der Spätsommerwiese zum Stehen, stieg aus und schloss vorsichtig die Tür. „Hallo, alte Freundin“, sagte er, und in seiner Stimme lag viel Gefühl.
Eine Brise strich durch die Bäume und wand sich im Gras, als wollte sie antworten: Und ich grüße dich, alter Freund.
Seine Stiefelabsätze knirschten auf dem Schotter, als er zu dem betonierten Weg hinüberging – der letzte Schliff, den er der Kapelle vor dreißig Jahren verpasst hatte. Er war immer etwa einmal im Jahr hergekommen, um sich zu versichern, dass sie ganz und unversehrt war.
Aber dann war aus einem Jahr zwei geworden und aus zweien drei … Jetzt schätzte Jimmy, dass er etwa sechs oder sieben Jahre nicht mehr hier gewesen war. Und wenn er kam, dann nur, um mal kurz nach dem Rechten sehen. Er hatte Andrew Votava eingestellt, um das Gelände in Ordnung zu halten. Aber sonst …
Jetzt bereute er seine Abwesenheit, wo sie doch mit der Zeit noch schöner geworden war.
Er trat in den winzigen Säulengang und legte die Hand auf den sonnengewärmten grauen Stein.
Sie war ein Teil von ihm, diese Kapelle. Hier hatte er seinen Schweiß, seine Tränen und sein Herz gelassen. Und sie mit der Zeit begraben.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der er die Kapelle als ein Mahnmal seiner Trauer betrachtet hatte. Er hatte vorgehabt, sie bis auf den Grund abzubrennen, bevor Daddy eingeschritten war.
„Beende, was du begonnen hast. Schließe deinen Frieden damit, Sohn.“
Er hatte den Bau beendet, aber Frieden damit hatte er nie geschlossen. Nein, jahrelang hatte er sich an der Wut festgeklammert und die Bitterkeit gefüttert wie einen hungrigen Bären. Bis er eines Tages aufwachte, in den Spiegel schaute und entdeckte, dass er der Mann geworden war, der er niemals hatte sein wollen; dass er noch nicht einmal versucht hatte, der Mann zu werden, von dem er geträumt hatte.
Er war auf seine mürrische Art zufrieden, er war eben der zähe, aber gewinnende Coach, der alte Junggeselle.
Dann war Peg Branson vor vier Monaten gestorben, was in Jimmy ein neues Interesse für Religion geweckt hatte. Ihm wurde klar, dass er ein alter Mann war, der hoffte, in den Himmel zu kommen, aber reichlich wenig dafür tat, sich tatsächlich Zugang zu verschaffen. Seitdem ging er regelmäßig zur Grace Church und hatte es sogar geschafft, einmal das ganze Neue Testament zu lesen. Jesus hatte eine ganze Menge über die Gefahren der Bitterkeit zu sagen.
Pegs Beerdigung hatte noch etwas anderes in Jimmy geweckt – eine Sehnsucht danach, mit ihrer Schwester Colette Frieden zu schließen. Er hatte die bis auf den letzten Platz besetzte Kirche nach einem Zeichen danach abgesucht, dass sie gekommen war, um sich von ihrer Schwester zu verabschieden, aber zu seiner Enttäuschung ließ sie sich durch ein Blumengesteck vertreten.
Zwischen den Schwestern hatte sich ein großer Graben voller Verletzungen aufgetan. Obwohl Jimmy nie ganz verstanden hatte, warum. Er hatte seinen eigenen Graben, um den er sich kümmern musste.
„Mr. Westbrook, Coach …“ Keith Niven kam winkend auf ihn zu. Eine junge afroamerikanische Frau begleitete ihn. Jimmy war so in seine Tagträume vertieft gewesen, dass er Keiths Auto gar nicht gehört hatte.
„Dieser Ort hier … wow!“ Keith schüttelte Jimmys Hand mit einer Kraft, die zeigte, dass mit ihm zu rechnen war. „Das hier ist Lisa Marie, meine Kollegin. Mann, Jimmy, wann haben Sie das hier denn gekauft? Ich wusste nicht einmal, dass es das hier gibt.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Jimmy ignorierte Keith und schüttelte Lisa Maries Hand. Sie war hübsch, mit einem scharfen Eifer und einem klugen Glitzern in den Augen.
„Mr. Westbrook“, sagte sie. „Diese Kapelle ist unglaublich.“
„Danke schön.“
„Haben Sie sie gebaut?“ Keith schob sein Jackett zurück und hakte die Daumen in seinem Gürtel ein. „Ich bin, ich meine, ich bin völlig von den Socken.“
„Das Fundament habe ich im Sommer 1949 ausgehoben, gleich nachdem ich mit der Highschool fertig war.“
Keith pfiff. Falls er Jimmy für sich gewinnen wollte, machte er das ganz gut. Er liebte jeden, der seine Kapelle liebte. „Was in aller Welt … Im Sommer ’49, ja? Was hat Sie dazu inspiriert?“
„Im Grunde ein Foto.“ Und ein Mädchen. Aber Jimmy würde sich mit der kurzen, einfachen Antwort begnügen. „Ich hatte eine Zeichenklasse in der Schule und machte das Zeichnen von Hochzeitskapellen zu meinem Projekt.“
„Also ist das eine Hochzeitskapelle?“, fragte Lisa Marie und gab Keith einen Klaps. „Hab ich dir doch gleich gesagt.“
Keith sah Jimmy direkt an. „Warum eine Hochzeitskapelle?“
„Weil …“
„Wie heißt sie denn?“, fragte Lisa Marie.
Jimmy räusperte sich. „Wie sie heißt?“
„Das Mädchen, das einen Highschooljungen dazu inspiriert hat, eine Hochzeitskapelle zu entwerfen.“ Er war ja gar nicht leicht zu durchschauen, nein.
„Was bedeutet das?“ Keith schob sich mit den Ellbogen zwischen Jimmy und Lisa Marie. „Es gab ein Mädchen?“
„Ich habe euch doch gesagt, dass mich ein Foto inspiriert hat.“ Jetzt war Jimmy damit an der Reihe, seine Hände in seinem Gürtel aufzustützen. Im selben Gürtel, den er seit sechsunddreißig Jahren durch die Gürtelschlaufen seiner Jeans fädelte. Der Gürtel war womöglich älter als dieser Jungspund Keith hier.
„Was macht sie denn zu einer Hochzeitskapelle?“, stellte Lisa Marie eine berechtigte und gute Frage. „Warum ist sie nicht einfach nur ‚eine Kapelle‘?“
„Weil ich gesagt habe, dass sie eine Hochzeitskapelle ist.“ Jimmy schob das Kinn vor. Ende der Diskussion. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hier mit Keith zu treffen.
Als er diesen Ort entworfen hatte, hatte er mehr als nur einen Plan für das Gebäude gehabt. Er hatte einen Plan für sein Leben gehabt, einen, zu dem sie gehörte. Weil er Colette Greer mehr geliebt hatte als sich selbst.
Und sie ihn.
„Können wir uns drinnen einmal umsehen?“ Keith zeigte auf den Haupteingang.
Jimmy zog den einzelnen Schlüssel aus seiner Tasche und schloss auf. „Bitte schön.“ Er trat beiseite, um Keith und Lisa Marie den Vortritt zu lassen. Im Chor verliehen sie ihrem Staunen Ausdruck.
Jimmy blieb in der Tür stehen. Die Gefühle saßen ihm dick und rau in der Kehle. Es fühlte sich an, als sei es gestern gewesen, dass er sie hierhergebracht hatte. Es hatte geschneit, die ganze Welt war weiß und leise gewesen. Die Welt hatte sich nur für sie gedreht.
Lisa Marie sah zu Jimmy hin und hielt ihr Telefon hoch. „Stört es Sie, wenn ich ein paar Fotos mache?“
Er schüttelte den Kopf. Wenn er das hier verkaufen wollte, sollte er besser loslassen und sie ihren Job machen lassen.
„Die Handwerkskunst …“ Lisa Marie zielte auf die gewölbte, offene Balkendecke, die Steinwände und den Schieferboden und schoss ein Foto nach dem anderen. „Haben Sie die Steine selbst gehauen?“
Jimmy nickte in Richtung des Teils der Steinmauer, den er aus dem kleinen Vorraum sehen konnte. „Jeden einzelnen.“ Und jeden einzelnen hatte er auch an seinen Platz gesetzt. Mit Freuden.
„Das ist der Wahnsinn.“ Keith stand unter dem Buntglasfenster, das eine Szene mit Christus bei einer Hochzeit zeigte. „Wo haben Sie das her?“
„Aus einer alten Kirche im Zentrum von Nashville. Die wurde während der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen.“
Keith pfiff leise und versuchte beinahe zu sehr, Jimmy zu beeindrucken. Jimmy setzte sich in die letzte Bank auf der rechten Seite, rubbelte den Schmerz aus seinem bösen Knie und atmete tief ein.
Das Licht des späten Morgens fiel durch die Kuppel auf den Boden der Kapelle, wo winzige Sonnenstrahlen sich zu breiten Lichtstreifen zusammentaten.
„Coach, was hatten Sie denn mit diesem Gebäude vor?“
Mein Mädchen heiraten. Der Gedanke hatte kaum seinen Verstand gestreift, als er es hörte. Das widerhallende Pochen eines Herzens. Bumbum-bum. So stark, so gründlich, dass Jimmy sich an der Bank festhalten musste und um Atem rang.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Coach?“
Jimmy nickte, rutschte aus der Bank, stand auf und ging zur Tür. Das Pochen … dieses widerhallende Pochen …
Er musste hier raus. Fliehen. Wie war das möglich? Dieser Klang? Nach so vielen Jahren.
„Jimmy … Mr. Westbrook?“ Lisa Maries Ruf folgte ihm durch die Kapelle.
Das erste Mal, dass er das Pochen gehört hatte, war sechzig Jahre her gewesen. Es geschah an dem Tag, als Peg mit ihrem Jungen vorbeikam. Er hatte sich gefühlt, als wäre er in einer Episode von Geisterstunde gefangen. Oder als würde er einen verspäteten Anfall von Schützengrabenschock erleiden. Da war er erst zwei Jahre wieder aus Korea zurück.
Aber der Klang war … echt. Viel zu echt. Zu nah. Er hallte in seiner Brust wider. In seinen Ohren. Und auf eine Weise, die Jimmy nicht erklären konnte, fühlte er sich lebensspendend an.
Der Klang, woher er auch kommen mochte, gab ihm Hoffnung. Aber diese Hoffnung brachte nichts zustande, außer eben, dass er sich fragte, ob er den Verstand verloren hatte.
Und er war ja in Korea gewesen. Hatte sich den Waffen des Feindes gegenübergesehen. Aber nichts machte ihm solche Angst wie der Klang eines pochenden menschlichen Herzen.
Soweit er sich erinnern konnte, hatte er den Klang seit jenem Tag mit Peg nie wieder gehört. Jetzt, nach sechzig Jahren, war er wieder da?
Draußen schluckte er Luft. Er war einfach zu alt für solche Mätzchen.
Auf dem Hof schlossen Keith und Lisa Marie zu ihm auf. „Coach?“
„Ihr könnt sie haben, wenn ihr sie kaufen wollt.“ Es war Zeit. Mit dreiundachtzig musste er sich von hartnäckigen, dummen Jungsträumen lösen, musste diesen Klang loswerden. Er wäre das beste Beispiel für einen verrückten alten Mann, wenn er nicht losließe.
„Ja, wir wollen sie kaufen.“
Ein bleischweres Gefühl durchströmte seine Brust. „Wie – wie sehen denn eure Pläne aus?“
Lisa Marie sah zurück. „Ich habe keine Elektrizität gesehen …“
„Gibt keine. Man muss Kerzen und Laternen nehmen.“
„Ach du meine Güte“, seufzte sie und lächelte erst Keith und dann Jimmy an. „Das ist der romantischste Ort, den ich je gesehen habe. Keith, wir können das hier verkaufen.“
„Coach, wir können das Objekt bis nächste Woche im Portfolio aufgelistet haben.“ Keith beugte sich zu ihm, rückte eine Spur zu nahe an ihn heran. Jimmy brachte ihn vorsichtig auf Abstand.
„Jetzt mal ganz langsam, lasst mich darüber nachdenken.“ Vielleicht war ein Verkauf doch nicht so vielversprechend, wie er sich das vorgestellt hatte.
„Reden Sie mit mir. Was wäre denn nötig, damit Sie verkaufen würden?“ Keith verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und wartete.
Jimmy schob die Hände in die Hosentaschen, ging um die beiden dynamischen Makler herum und sah sein altes Mädchen, seine Kapelle, an. Sie war mal ein heiliger Ort gewesen, ein Ort der Versprechen und des Glaubens.
Und doch stand sie nun hier. Still. Abgewiesen. Eine Hochzeitskapelle, in der nie eine Hochzeit stattgefunden hatte. Keine echte jedenfalls. Da war diese eine Nacht mit Colette, bevor er einschiffte …
Jimmy grunzte und bezwang die Erinnerung. War das bei genauerer Betrachtung nicht alles ziemlich erbärmlich?
Die Stunden, die er damit verbracht hatte, auf die Steine einzuschlagen. Die rotgoldenen Morgendämmerungen der Sommertage, an denen er mit einer Thermosflasche Kaffee und einer Tüte Donuts diesen Boden betreten hatte, das Herz voller Träume.
Zwischen den Bäumen, in den Schatten versteckt, lauerten die Erinnerungen an die Stimmen, an den tiefen Bass und das Lachen seines Vaters, an das quirlige Geplapper von Clem – einem der besten Freunde, die ein Mann jemals hätte haben können.
Erbarmen, jetzt traten ihm auch noch Tränen in die Augen, weil er den alten Knaben vermisste. Clem Clemson …
Aber es war alles umsonst gewesen. Alles eitel und ein Haschen nach dem Wind …
Er drehte sich um und sah sich Keith gegenüber. „Ja, okay, lasst sie uns an den Markt bringen.“ Da. Er hatte es gesagt. Laut gesagt. Was ihn anging, war das ein mündlicher Vertrag.
Lisa Marie reckte die Faust in die Luft, und Keiths breites Grinsen sprach Bände.
„Aber keine voreiligen Versprechen“, sagte Jimmy, der mit großen Schritten zur Tür ging, um sie abzuschließen, und nur den tröstlichen Schlag seines eigenen Herzens hörte. Nicht den, der hier herumspukte. Was war das nur? „Ich behalte mir das Recht vor, jeden Käufer abzulehnen. Und der Preis muss stimmen.“
„Natürlich, natürlich. Das können wir machen, Jimmy. Wir werden diesen Ort hier behandeln, als hätten wir die Kapelle selbst gebaut.“
Das war also erledigt. Keith redete über Papiere und Auflistungen, während Jimmy zum Auto ging und sich hinters Steuer setzte.
„Ich melde mich“, sagte Keith.
„Schön, schön, ihr wisst ja offenbar, wo ihr mich findet.“ Jimmy fuhr rückwärts den Weg hinunter, auf die Hauptstraße hinaus, und sein alter Rückenschmerz flammte wieder auf.
Er versuchte mit aller Kraft, an nichts zu denken, als er zu Hause ankam, aber das Lachen und Spielen der Nachbarskinder fielen ihm ins Auge und weckten sein Herz.
Er sah ihnen zu, wiegte den Schlüssel in der Hand, während er langsam zur Küchentür ging.
Zu spät … Die Wahrheit prägte sich in sein Gehirn ein. Das Ziehen in seinem Rücken wurde stärker.
Natürlich war es zu spät. Er war ein alter Mann. Zu spät, um etwas wegen unerfüllter Träume zu unternehmen. Zu spät, um eine Liebe wiederzugewinnen, die längst verloren war. Zu spät für alles, das die Kapelle repräsentierte.
Er, der Footballcoach, der es in die Hall of Fame gebracht hatte, hatte das Spiel des Lebens auf der Ersatzbank verbracht und darauf gewartet, in eine Partie eingewechselt zu werden, die nie begonnen hatte.