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Kapitel Eins
ОглавлениеJIMMY
Heart’s Bend, Tennessee
Juli 1948
Jimmys Reise begann mit einer Fotografie. Einer Fotografie, auf der eines von zwei Mädchen zu sehen war, das neben einer schlanken Braut stand und ein kleines Blumensträußchen in der Hand hielt. Der Schatten der Kirche lag auf ihrem Gesicht.
„Meine Kusinen.“ Clem seufzte tief und setzte sich auf das brandneue Sofa der Familie. „Aus Großbritannien.“
„Alle drei?“ Jimmy blieb wie angewurzelt in dem warmen Fleck aus Sonnenlicht stehen, der durch das Fenster fiel, als Clem ihm das Bild reichte.
„Neeein, um Himmels willen. Nur die beiden Blumenmädchen oder Brautjungfern oder wie man das nun nennt. Die kommen hierher, um bei uns zu leben.“ Clem pfiff leise und sackte in den Sofapolstern in sich zusammen. Sein dunkles Haar trug er in einem raspelkurzen Militärschnitt. „Wenn die alle drei hier wohnen sollten, müsste ich ausziehen. Und du weißt, dass Mama nicht mitspielen würde, wenn sie sich von ihrem kleinen Jungen trennen müsste.“
Jimmys Augen wurden feucht. Mist. Er war zu alt für Tränen. Er räusperte sich und sagte dann: „Sie würde dich aufspüren und holen kommen.“
„Was du nicht sagst.“ Clem machte ein ironisches Gesicht, aber Jimmy wusste, dass sich ihre Witzeleien haarscharf an der Wahrheit entlangtasteten. Clem war inzwischen Mamas einziger Sohn. Der große Bruder Ted war nur eine Woche nach seinem zwanzigsten Geburtstag auf Iwojima gestorben. Seitdem war die Familie nicht mehr dieselbe.
Obwohl seit der Ankunft des Telegramms über drei Jahre vergangen waren, spürte Jimmys Seele noch die Echos von Mrs. Clemsons Wehklagen, als ihr Mann ihr die Nachricht vorlas. Jeder in Heart’s Bend hatte Ted geliebt. Das war keine Übertreibung. Während seiner Trauerfeier kam die ganze Stadt zum Erliegen.
Jimmy fuhr herum und warf einen Blick auf die Treppe. Ganz kurz bildete er sich ein, die donnernden Schritte Teds gehört zu haben.
„Kommt schon, ihr Faulpelze, lasst uns ein Spiel spielen. Jim, bleibst du zum Essen? Mum, deck mal gleich für ihn mit …“
„… aber was soll man denn schon machen?“ Clems Frage holte Jimmy aus den Schatten zurück. „Sie haben ja alles verloren im Krieg. Ihre Leute, ihr Zuhause …“
Richtig. Die Kusinen. Jimmy betrachtete das Foto noch einmal. „Sie sind Waisen?“ Sein Herz zog sich verständnisvoll zusammen.
„Jaaaawollja, und sie kommen hierher, um hier zu leben.“ Clem beugte sich zum Radioapparat und drehte die Lautstärke höher. Doris Days samtweiche Stimme ließ das Sonnenlicht heller strahlen.
„Gonna make a sentimental journey to renew old memories“ … eine kleine Reise in die Vergangenheit, um alte Erinnerungen wieder aufzufrischen. Na, das passte ja.
„Warum zeigst du mir das eigentlich?“ Jimmy hielt das Bild hoch. Wollte Clem, dass er irgendetwas aus den schwarzweißen Schatten herauslas? „Könnte doch ganz nett sein, ein paar mehr Leute hier zu haben. Dann ist es im Haus nicht mehr so …“
Einsam. Das wollte er eigentlich sagen, aber es klang doch allzu traurig in seinen Ohren. Wenn Jimmy sich mit irgendetwas auskannte, dann war es Einsamkeit: die leeren Schatten eines dunklen Hauses, das Frösteln, wenn man in eine kalte Küche kam, der ohrenbetäubende Lärm der Stille.
„Einsam?“ Clem machte ein abwehrendes Geräusch und winkte ab. „Wovon redest du? Ich habe hier gerade alles so, wie ich es möchte. Das ganze Obergeschoss habe ich für mich.“ Er zeigte zur Treppe und mimte mehr Protest, als Jimmy ihm abkaufte. „Jetzt werde ich Mädchen dahaben, die ihre Strümpfe und sonst was im Bad aufhängen – in meinem Badezimmer – und ihren Puder und ihr Rougezeugs auf dem ganzen Waschbecken verteilen.“
„Mädchen verteilen Puder auf dem Waschbecken?“
Clem setzte sich aufrecht hin und wies mit dem Daumen über die Schulter grob in Richtung des Nachbarhauses. „Bradley hat mir alles darüber erzählt, wie es so ist, mit Schwestern.“ Clem schüttelte den Kopf. „Gerade, als wir dachten, der Krieg sei vorbei und alles würde langsam normal werden, müssen auch noch Mädchen bei mir einziehen.“
„Riesending, echt. Na und? Dann backen die vielleicht mal was. Ich wette, die machen den Abwasch und putzen und so.“ Jedenfalls hatte er gehört, dass Frauenzimmer so etwas in der Regel taten. Aber im Männerhaushalt der Westbrooks übernahm Jimmy die meisten der „Frauenarbeiten“.
„Ich würde von Herzen gern den Abwasch übernehmen, wenn ich dann weiter das Obergeschoss für mich haben dürfte.“ Clem schaute weg. Es glänzte verdächtig in seinen Augen.
„Ich würde auch nicht wollen, dass jemand Teds Platz einnimmt, wenn ich du wäre“, sagte Jimmy leise, sah sich ein letztes Mal die Kusinen an und gab das Foto zurück.
Clem nahm das Bild, fuhr sich mit dem Handballen über die Augen und warf den Abzug mit einem letzten Blick auf den Couchtisch.
„Ich kann einfach nicht damit aufhören, ihn zu vermissen.“
„Ja. Das geht mir auch so.“
Aber Jimmys Bauchgefühl sagte ihm, dass Albert „Clem“ Clemson, sein bester Freund seit der zweiten Klasse, falschlag, was diese beiden Mädchen anging. Sie waren etwas Besonderes. Er wusste nicht, wie oder warum, nur, dass sie mehr waren als Puder verstreuende Unannehmlichkeiten.
Außerdem waren sie hübsch. Vor allem die ganz rechts mit ihrem süßen herzförmigen Gesicht und der Lockenmähne.
Jimmy erkannte ihren Blick wieder, wie sie die Augen so zusammenkniff, um im Gegenlicht zur Kamera hinzuschauen. Es war der traurige Blick derer, die ein Elternteil verloren hatten. Und er wusste nur allzu gut, wie sich das anfühlte.
„Wenn die die Hausarbeit übernehmen, weißt du, was das dann heißt? Dad wird mich mehr Stunden im Laden schieben lassen.“ Clem hatte nicht vor, sich trösten zu lassen. Störrisch schob er das Kinn vor. „Habe ich dir erzählt, dass er kurz davor ist, in Ashland City eine dritte Filiale zu eröffnen?“
„Wie heißt sie?“ Die Worte sprudelten ohne Jimmys Einverständnis heraus, schlüpften ihm über die Lippen. Aber da waren sie, hingen in der Luft. Er ließ sich in Mr. Clemsons schwer benutzten Sessel fallen. Das Bild des Mädchens mit den Locken und dem sanften Blick brachte ihn dazu, dass er sich ganz heiß und flatterig fühlte.
„Die Filiale?“ Clem verzog den Mund.
„Nein …“ Jimmy schnitt eine Grimasse. „Die – die Kusine. Kusinen.“ Es war schwierig, sich beiläufig zu geben, wo doch sein Herz seine Stimme ganz zitterig werden ließ.
„Welche?“ Clem griff nach dem Foto auf dem Couchtisch und betrachtete Jimmy einen Moment lang.
Jimmy senkte den Kopf, hatte Angst, sich verraten zu haben. Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Wenn Clem den Jungs etwas erzählte …
„Ähm.“ Er räusperte sich und stand auf. „Na, beide, meine ich. Mann, ist das heiß hier drin.“ Jimmy sah zum Fenster, das vom Sommerlicht hell erleuchtet war.
„Spielt eh keine Rolle, weil ich die Namen gar nicht weiß.“ Clem sprang auf und griff nach dem Football, der zwischen Couch und Beistelltisch eingeklemmt war. „Lass uns mal ein Spiel zusammenkriegen. Wir brauchen Übung.“
„Du weißt nicht, wie deine Kusinen heißen?“
Jimmy hatte eine Kusine, April Raney. Die war zwar jetzt weg, auf dem College, aber wenn er sich so etwas wie ein Geschwisterkind vorstellte, kam sie der Sache am nächsten. Er mochte sie sehr und sparte jedes Jahr einen Teil seines Verdienstes, um ihr zum Geburtstag und zu Weihnachten ein Geschenk kaufen zu können.
„Warum sollte ich auch? Ich habe sie nie kennengelernt. Ihre Mutter ist … war … die Schwester meiner Mutter, aber die beiden haben sich in den letzten zwanzig Jahren nur ein einziges Mal gesehen. Als Mama nach Großbritannien gegangen ist.“ Clem warf den Football von einer Hand in die andere und tat dann so, als wollte er ihn Jimmy zuspielen. „Mama sagt, sie werden in unsere Klasse gehen.“
„Sind sie Zwillinge?“ Jimmy beugte sich vor, um das Bild mit zusammengekniffenen Augen zu studieren, wobei ihm mehr daran gelegen war, sich das Gesicht des lockigen Mädchens einzuprägen. Er nahm den Abzug und drehte ihn um. Vielleicht stand ihr Name ja auf der Rückseite. Aber der einzige Druck darauf war das Datum. „Mai 1948“.
„Nein, keine Zwillinge. So viel weiß ich. Nur in derselben Klasse. Das hat wohl mit dem Krieg und der Landverschickung zu tun. Danach sind sie verwaist.“ Clem warf den Ball zur Decke und sprang hoch, um ihn wieder zu fangen, während er langsam zur Tür ging. „Lass uns rausgehen, Westbrook. Ich hole Bradley. Spice können wir unterwegs mitnehmen.“
„Ich komme schon.“ Jimmy legte das Foto auf den Tisch, als eine Brise durch die Tür wehte und das Bild über die glatte Oberfläche pustete, bis es bei Mrs. Clemsons Zeitungsstapel liegen blieb.
Ich kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.
Draußen sprang Clem von der Veranda. Den Ball hatte er unter den einen Arm geklemmt, mit der anderen Hand klatschte er auf das Treppengeländer. „Braaaaadleeeey Green, wir starten ein Spiel. Wir müssen üben, wenn wir in die erste Mannschaft wollen. Lass uns anfangen. Heute Nachmittag muss ich arbeiten, also heißt es jetzt oder nie.“
Jimmy folgte ihm. Er sprang auf den Rasen hinunter und versuchte, die seltsamen Gefühle in seiner Brust loszuwerden. Nun komm schon klar. Es ist doch nur ein Foto. Aber verflixt nochmal, Clems dämliche Kusine brachte ihn dazu, dass er sie in den Arm nehmen, sie beschützen wollte. Er hatte sich immer versprochen, dass er sich nicht wegen eines Mädchens blamieren würde. Von Dad hatte er nur zu gut gelernt, dass Frauen die Mühe nicht wert waren.
Sein alter Pop drückte sich ziemlich deutlich darüber aus, dass es einem Mann eine Menge Sorgen bescheren konnte, eine Frau zu lieben. Und sein Vater war ein Pfundskerl, der die Wahrheit sagte.
Außerdem, was wusste Jimmy schon von Mädchen? Nichts. Von Nana und April abgesehen, hatte er mit Frauen absolut keine Erfahrung.
Bradley kam aus seinem Haus herausgerannt und band sich noch schnell die Turnschuhe. „Ich habe Spice angerufen“, sagte er.
Tatsächlich kam auf der anderen Straßenseite drei Häuser weiter Spice Keating herausgeeilt. Sein Alter war ein Säufer, ein ziemlich grober sogar. Aber Spice selbst bestand nur aus Charme und Lächeln.
Jimmy wusste nicht, wie er das machte.
„Coach sagte, wir dürfen bei der Schule trainieren, wenn wir versprechen, den Boden nicht zu ruinieren“, sagte Clem, der rückwärtsging und Jimmy den Ball zuwarf.
Aber Jimmy verfehlte den Ball. Er verfehlte ihn. Der Ball glitt ihm durch die Hände und fiel zu Boden.
„So willst du also im Herbst spielen, Westbrook?“
„Halt die Klappe, Clem.“ Jimmy hob irritiert den Ball auf, rannte mitten auf der Fahrbahn die Straße hinunter und spielte ihn seinem Quarterback zurück. „Sieh zu, dass du ihn vernünftig zu mir wirfst, dann kriege ich den auch.“
Da konnte man sehen, was Mädchen anrichteten. Er war jetzt schon abgelenkt, und dabei hatte er sie noch nicht einmal getroffen. Das war das Ärgerliche mit Mädchen. Die konnten einen Mann in allerlei Hinsicht ruinieren, ihn demütigen.
„Hey, Kumpels“, sagte Jimmy mit einem spöttischen Unterton. „Bei Clem ziehen Mädchen ein.“
„Mädchen? Welche Sorte Mädchen?“
„Westbrook, du alter Schwätzer.“ Clem schoss Jimmy den Ball zu.
„Ach, was hast du denn? Früher oder später finden sie es sowieso heraus.“ Jimmy fing den Ball und rempelte Spice an. „Was meinst du mit ,welche Sorte‘? Gibt’s mehr als eine?“
„Ja, na klar. Hübsche und hässliche.“ Spice lachte, rangelte mit Jimmy, griff nach dem Ball. Er grinste frech, und sein dunkles Haar hing ihm in die Augen. „Also welche jetzt? Hübsch oder hässlich?“
„Ja, Jimmy“, stimmte Clem ein. „Welche denn jetzt?“
„Es sind doch deine Kusinen.“ Jimmy warf den Ball zu Bradley, der ihn fallen ließ.
„Na und?“ Clem sammelte den Ball auf, wirbelte herum und verfehlte knapp Mrs. Grove, die in ihrem großen neuen Cadillac um die Ecke bog. „Juckt mich nicht.“
„Schönes Auto, Mrs. Grove.“ Ob jung, ob alt, Spice versuchte immer, alle zu bezaubern. „Egal, wir könnten hier jedenfalls ganz gut ein paar neue Mädchen gebrauchen. Hübsche.“ Er sah zu Mrs. Groves Auffahrt. „Und junge auch.“
„Na ja, wenn du mal damit aufhören würdest, andauernd mit allen anzubandeln und sie dann sitzenzulassen, hättest du mehr Auswahl.“ Jimmy rannte ein längeres Stück, um Clems Pass zu erwischen, fing den Ball während des Rennens und spürte seinen permanenten Groll gegen Spice in sich. Sie waren zwar Freunde, aber letztes Jahr hatte Spice ganz genau gewusst, dass Jimmy ein Auge auf Rebekah Gunter geworfen hatte. Er drängte sich trotzdem dazwischen, obwohl er nicht vorhatte, je wirklich mit ihr zu gehen. Für ihn war die Liebe nur ein Spiel.
„Ach, jetzt sei nicht so sauer. Du weißt selbst, dass du nie die Eier gehabt hättest, um dich mit Bekah zu verabreden.“
„Nimm das zurück, Keating.“ Jimmy rempelte ihn an, hart.
„Da sieht man’s wieder, Mädchen machen nur Ärger.“ Clem ging dazwischen und schwenkte den Ball. „Konzentriert euch. Wir müssen eine Saison gewinnen. Wisst ihr noch: der Tailback aus Memphis, der letztes Jahr unsere D-Line durchbrochen hat? Ich habe gehört, der hat im Frühling dreihundert Pfund gestemmt.“
Bradley stöhnte. Er war Abwehrspieler, ein Defensive Lineman.
„Ja, wir haben noch einiges vor uns.“ Clem sprintete vorwärts, fuhr herum und schickte den Ball dann in einem hohen Bogen zu Jimmy. Mann, der konnte werfen. Jimmy fing und überrannte Bradleys weiche Blockade.
Wenn alles lief wie geplant, würde Clem als Quarterback anfangen und Jimmy als Halfback. Sie waren Nachwuchsspieler, aber immerhin die besten für die Aufgabe. Das hofften sie jedenfalls.
Die Sonne stand hoch am klaren blauen Himmel, als Jimmy mit dem Ball unterm Arm die Straße verließ und eine Abkürzung durch Mrs. Whitakers Hinterhof nahm, wo Spice die Katze der alten Dame einen Baum hinaufjagte.
Jimmy rannte vorweg, den Footballplatz schon im Blick. Clem war knapp hinter ihm, Spice und Bradley liefen am Ende.
Als er die Zielmarke überschritt, warf er den Ball mit Wucht auf den Boden.
Ja, genau das war es, was er brauchte, um den Kopf freizubekommen. Auf dem Platz sein. Sich auf die Saison freuen. Sich auf seine Ziele konzentrieren.
Dad freute sich schon auf den Saisonbeginn seines Jungen, und Jimmy wollte ihn nicht enttäuschen. Er gab vor seinen Arbeitskollegen gerne mit seinem talentierten Sohn an.
Jimmy würde seinen Vater stolz machen. Er würde nicht zulassen, dass ihn ein Mädchen davon abhielt.
Doch als er sich für ihren ersten Spielzug hinter Clem stellte, hörte er in seinen Ohren sein Herz schlagen. Und das kam nicht daher, dass er mit seinen Freunden ein Wettrennen gemacht hatte, sondern lag einzig und allein an dem Bild des Mädchens auf der Fotografie, das ihm immer noch vor Augen stand.