Читать книгу Die Hochzeitskapelle - Rachel Hauck, Rachel Hauck - Страница 8
Kapitel Zwei
ОглавлениеTAYLOR
Brooklyn Heights, New York
16. September 2015
Freudig blickte Taylor auf, als sie seinen Schlüssel in der Tür hörte. Jack war zu Hause.
Ihre bildschirmmüden Augen stellten sich auf die dunklen Schatten ein, die ihre Wohnung im dritten Stock füllten. Das gedämpfte Licht der Straßenlaternen Brooklyns fiel durch die Fenster.
„Schau, Hops, das ist eine Spitzenkampagne. Lass uns einfach die Präsentation machen und hören, was sie sagen.“ Jack bewegte sich mit dem Telefon am Ohr durch die Wohnung.
„Hallo“, sagte Taylor beim Aufstehen und strich sich das Haar glatt. Sie war ganz steif vom vielen Sitzen. Jetzt, wo ihr Mann zu Hause war, sehnte sie sich nach seiner Aufmerksamkeit.
Ihr Mann. Ehemann. Jetzt schon seit einem halben Jahr, und immer noch klang das Wort so fremd.
Aber Jack ging zum Schlafzimmer, ohne innezuhalten oder auch nur in ihre Richtung zu nicken. Seine Laptoptasche hing ihm über die Schulter, und mit seiner breitschultrigen, muskulösen Gegenwart und dem ausgeprägten Selbstbewusstsein strahlte er ein eigenes Licht aus, mit dem er die trübe Wohnung durchflutete.
Taylor sank zurück auf ihren Stuhl. Der Schmerz in ihren Muskeln kroch in ihr Herz. Wenn er sie gar nicht hierhaben wollte, warum hatte er ihr dann überhaupt einen Antrag gemacht?
Noch viel verwirrender war allerdings die Frage, warum um alles in der Welt sie Ja gesagt hatte?
Sie saß da, mit den Fingern auf der Tastatur im Anschlag. Das Licht ihrer Schreibtischlampe glitzerte auf ihrem Ehering, dem in Platin gefassten Symbol der Verpflichtung, die sie im Wohnwagenpark eingegangen waren.
Am Anfang war es ihr lieber gewesen, die Sache frei und unverbindlich zu halten. Der Wirbelsturm ihrer Romanze hatte sie in den siebten Himmel versetzt, einen Ort, von dem sie nie wieder wegwollte.
Aber nachdem sie erst miteinander nach Martha’s Vineyard gefahren, spontan geheiratet hatten und dann wieder nach Hause gekommen waren, sank sie langsam wieder zur Erde hinab, ließ Sterne und Mond hinter sich. Die Jahreszeiten wechselten – aus Frühling wurde Sommer, der Sommer wich inzwischen langsam dem Herbst –, und Taylor spürte, wie ihre Liebe verblasste und welkte.
In letzter Zeit stritten sie häufig, oft wegen des Geldes. Sie behauptete, er gebe zu viel aus. Er bezeichnete sie als kleinlich. Aber er hatte mehr Schuhe als sie, und seine Kleider beanspruchten zwei Drittel des Kleiderschranks und eine ganze Kommode.
Mit einem Seufzer wandte sich Taylor wieder dem Foto zu, das sie auf dem Bildschirm bearbeitete. Ausgerechnet ein Hochzeitskleid, das sie für eine junge Designerin fotografiert hatte. Die Abzüge waren morgen fällig.
Das Retuschieren ging ihr in die Knochen. Sämtliche Kleider hatten Schmutz am Saum, weil sie draußen fotografiert hatten. Die letzten zehn Stunden hatte sie damit zugebracht, auf jedem Foto Licht und Schatten zu optimieren, die Szenerie, die Models, die Kleider – und zu guter Letzt damit, braune Flecken weiß zu machen.
Nach ein paar Sekunden verlor Taylor die Konzentration. Sie lehnte sich zurück und sah nach der Zeit. Zehn Uhr.
„Hast du Hunger, Jack?“, rief sie zum Schlafzimmer, wartete, lauschte.
Sie hatte ihren knurrenden Magen ignoriert und die Essenspausen übersprungen, war fest entschlossen, diesen Job zu erledigen.
Wenn sie ihren Ruf als Werbefotografin festigen wollte, musste sie ausgezeichnete Arbeit abliefern, und zwar pünktlich.
„Jack?“
Die Tür des begehbaren Kleiderschranks fiel ins Schloss, sonst kam keine Antwort. Na gut, dann wieder an die Arbeit. Noch drei Kleider und fertig.
Taylor atmete tief ein, kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen und zwang sich, weiterzumachen.
Gleich nach ihrer Spontanheirat mit Jack hatte sie ihren ersten Werbekunden an Land gezogen: Melinda House Weddings war eine europäische Designerin und berühmt dafür, die Großherzogin von Hessenberg, Prinzessin Regina, auszustatten.
Jack Forester und Melinda House in ein und demselben Monat für sich gewinnen zu können? Ein Glückstreffer. Traumhaft.
„Was machst du?“ Jack betrat das Zimmer und warf sich aufs Sofa, wo er nach der Fernbedienung griff. Er sah aus, als wollte er zum Sport, trug Basketballshorts und ein übergroßes T-Shirt von der Ohio State National Championship.
„Arbeiten …“ Kein Kuss. Kein zärtliches Hallo. Kein schmachtender Blick wie in den guten alten Zeiten – die Zeit von vor einem halben Jahr fühlte sich an wie „gute alte Zeiten“. „Hast du Hunger?“
„Nein, ich habe bei der Arbeit gegessen. Ist das der Auftrag für Melinda House?“
„Ja, die Säume sind dreckig. Ich habe ihr gleich gesagt, dass das passieren würde, aber sie hat darauf bestanden, draußen zu arbeiten.“ Was dazu geführt hatte, dass Taylor und ihre Assistentin Addison eine anstrengende, aber auch irgendwie berauschende Fahrt durch die ganze Stadt gemacht hatten.
„Übrigens hat mich Keri heute angeschrieben. Sie fragt sich, ob du bald mit ihrer Hochzeit fertig bist.“
„Warum schreibt sie denn dir? Sie hat meine Nummer …“ Taylor beugte sich über das Bild auf dem Monitor. Warum bestand Keri darauf, Jack unnötigerweise als Mittelsmann zu benutzen?
„Reg dich nicht auf, ich frage ja nur.“
„Ich habe ihr doch gesagt, Ende des Monats.“ Ende des Monats sind die Fotos so weit … hundert Mal hatte sie es gesagt.
„Schön, dann schreib ihr doch eine SMS oder eine E-Mail. Sie kann es kaum erwarten, ihre Fotos zu bekommen. Das kann man ihr nicht verübeln.“
„Nein, das nicht. Jede Frau hat das Recht, in Erinnerungen an ihre Hochzeit zu schwelgen.“
Die einzigen Fotos, die sie von ihrer eigenen Hochzeit besaß, hatte der Standesbeamte mit ihrem iPhone gemacht. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, ihre Canon zu der Zeremonie mitzunehmen.
So verliebt war sie in Jack gewesen. Verrückt. Vergesslich. Spontan.
Keris Hochzeit hatte sie eigentlich gar nicht fotografieren wollen, weil der Auftrag nicht zu dem Portfolio beitragen würde, das Taylor aufbauen wollte. Aber Keri war eine Freundin von Jack, seine ehemalige Kundin und möglicherweise auch Ex-Freundin, obwohl Taylor sich nicht so sicher war, was den letzten Punkt anging. Egal, sie würde jedenfalls fast alles für Jack tun.
Sie hatte ihn sogar geheiratet, obwohl sie nichts vom Heiraten hielt.
Er war ihr Schwachpunkt. Er war ihr Schlussverkauf im Schuhgeschäft, ihre Schokoladentafel, ihr großes Eis (mit Sahne) an einem heißen Sommertag, ihr fleischgewordener Highschoolschwarm.
Sie hatte gar nicht gewusst, dass er in Manhattan war, bis sie an jenem kalten Januartag im wahrsten Sinn des Wortes in ihn hineingerannt war, als sie um die Ecke Madison/67. bog. Sie hatte gerade einen Auftrag abgeschlossen und fand, ein Besuch in Tory Burchs exklusiver Boutique wäre eine nette Belohnung.
Nicht, dass sie das Geld gehabt hätte, um bei Tory Burch einzukaufen, aber Bummeln und Träumen schadeten nie. Auf dem Nachhauseweg würde sie sich einen Caffé Latte gönnen, als echte Belohnung.
Stattdessen entdeckte sie Jack. So viel besser, als Kleider anzuschmachten, die sie sich sowieso nicht leisten konnte. Ja, das war’s. Einen Mann anzuschmachten, den sie sich genauso wenig leisten konnte, aber aus irgendeinem Grund war ihre Gefühlsbank bereit, eine Investition in Jack Forester zu riskieren.
Zuerst war da einfach nur ein großes Hallo gewesen. Zwei Freunde aus Heart’s Bend, Tennessee, im großen Big Apple.
Dann Abendessen, gefolgt von einem Mittagessen, dann wieder Abendessen. Acht Wochen später hatte er ihr am Strand von Martha’s Vineyard die zwei betörenden Worte ins Ort geflüstert: „Heirate mich.“ Kein Zögern. „Ja.“
Mit müden, brennenden Augen schloss Taylor den Laptop. Sie würde am Morgen fertigwerden und die Fotos immer noch pünktlich an Melinda schicken. „Ge-gehst du aus?“
Jack warf ihr einen Blick zu und schaute dann wieder zum Fernseher, wo er beim Sportkanal gelandet war. „Ja. Aaron hat angerufen, er wollte Basketball spielen.“
„Jetzt?“
„Es war ein langer Tag. Ich muss ein bisschen Energie abbauen. Hops ist ganz aufgeregt wegen der FRESH-Water-Geschichte.“
Jack war Aufsteiger in der Werbewelt New Yorks. Ad Age nannte ihn den „Betörer“. Seine Arbeit an einem Super Bowl-Werbespot hatte seiner Agentur den ersten CLIO Award eingebracht.
„Was ist denn da los mit FRESH Water?“
Sie hatte gewollt, dass Jack sie für eine FRESH-Kampagne empfahl. Aber sein Chef, Hops Williams, missbilligte Vetternwirtschaft. Da spielte es keine Rolle, wie gut Taylor war oder wie billig – zählte kostenlos überhaupt? Er ließ den Gedanken daran, dass die Frau seines besten Mannes für einen der Kunden arbeitete, nicht zu.
„Nichts, wir versuchen nur, alle Aspekte zu berücksichtigen.“
Nichts? Es fühlte sich nicht an wie nichts. „Hops regt sich auf wegen nichts?“
„Taylor –“ Jack stand auf und ging in die Küche. „Es ist nur die Arbeit.“ Er öffnete die Kühlschranktür.
Sie spürte all das sehr deutlich, empfand es als Zeichen dafür, dass ihre Beziehung im Sterben lag. Am Anfang hatten sie zusammen mit verschlungenen Armen und Beinen im Bett gelegen, während sie über ihre Arbeit sprachen, über ihre Träume, über die witzigen Stellen bei Jimmy Fallon. Dann waren sie Arm in Arm eingeschlafen. Aber jetzt gingen sie zu unterschiedlichen Zeiten zu Bett. Jack mauerte, was seine Arbeit anging, und wenn Taylor sich nicht verrechnet hatte, war es schon eine ganze Weile her, dass sie … nun ja … sich ineinander verschlungen hatten.
„Wie geht es Aarons Neugeborenem?“
Jack drehte den Deckel von einer Flasche Wasser, während er ins Wohnzimmer zurückkam, und lachte leise. „Was glaubst du, warum er mitten in der Nacht Basketball spielen will? Der muss Stress abbauen. Ich nehme an, das Ding hat Koliken oder zahnt oder was weiß ich.“
Das Ding? Eine der Grundsatzdiskussionen, die sie im Wirbel ihrer Gefühle ausgelassen hatten, war die Frage, wie viele Kinder sie haben wollten oder ob sie überhaupt welche wollten. Von seiner Standardantwort „Jetzt nicht“ einmal abgesehen, wusste Taylor nicht, was Jack von Familie hielt.
Und davon abgesehen, dass er seine eigene Familie verabscheute.
Taylor musterte ihn. Sie spürte ihr Herz in der Brust rasen. Sosehr sie es auch versuchte, sie schaffte es einfach nicht, ihre Ehe mit einem realistischen Blick zu betrachten. Jack zog sie immer noch in seinen Bann. Der bekümmerte, nachdenkliche, umwerfend gutaussehende Junge von der Highschool, der mit den verletzten, vernachlässigten Jugendlichen unterwegs war und trotzdem in allen Punkten herausragende Leistungen zeigte. Aus irgendeinem unbekannten, verstörenden Grund hatte sie den Wunsch, nein, das tiefe Bedürfnis, seine Aufmerksamkeit zu erhaschen und zu halten. Sie wollte ihn dazu bringen, sie anzulächeln, wegen ihr zu lächeln, für sie zu lächeln. Sie wünschte sich, in seinen Augen zu sehen, dass sie ihm etwas bedeutete, sein Leben vollständig machte.
„Warum musst du?“, fragte sie ohne Vorwarnung.
Jack schaute kurz zu ihr. „Was muss ich?“
„So … perfekt sein.“
„Perfekt?“ Er zog eine Grimasse und nahm einen Schluck Wasser. „Abgesehen davon, dass ich zu viel Geld ausgebe, meinst du?“
„Jack …“
„Ich bin entschlossen, zielstrebig, genau, vielleicht ein Perfektionist, aber wohl kaum perfekt.“ Noch ein Schluck Wasser. „Perfektion habe ich erst im Kalender stehen, wenn ich fünfundvierzig bin oder so.“ Er grinste und zwinkerte, und eine Hitzewelle überflutete Taylor. „Also entspann dich.“
Hinter seiner Stärke und seinem Selbstbewusstsein erhaschte Taylor einen Blick auf den Jungen aus Heart’s Bend, der mit Dämonen kämpfte, die nur er allein sehen konnte. Er hatte all seine Gaben und einzigartigen Talente darauf verwendet, sich selbst zu heilen; Taylor musste erst noch entscheiden, ob ihm seine Versuche tatsächlich dabei halfen, wieder heil zu werden, oder ob sie ihn nicht sogar noch mehr verwundeten.
War sein spontaner Heiratsantrag nur ein weiteres Heftpflaster für seine Wunden gewesen? Ein weiterer Versuch, seinen Schmerz zu vergessen? Waren sie zu ungestüm gewesen? Zu wollüstig? Von Sinnen?
Ganz zu schweigen davon, dass Jack jede Frau haben konnte, die er wollte. Betonung auf jede. Models. Schauspielerinnen. Schönheitsköniginnen. Sie hatte sich mal seine Freundesliste bei Facebook angeschaut.
Warum hatte er sich also gerade sie ausgesucht? Eine zu spät geborene Hippie-Fotografin. Aus der kleinen Stadt, die ihre gemeinsame Heimat war?
Drüben am Kühlschrank überprüfte Jack eine Schachtel übriggebliebenes chinesisches Essen.
„Haben wir noch etwas anderes als drei Tage alten gebratenen Reis?“ Er warf die kleine weiße Schachtel wie ein Basketballspieler in hohem Bogen in den Müll.
„Ich dachte, du hättest keinen Hunger.“ Taylor hielt ihre Stimme leise und nüchtern, versuchte, nicht defensiv zu klingen.
„Ich habe es mir anders überlegt. Wow, da haben wir nun also einen fünfzehnhundert Dollar teuren Kühlschrank mit nichts drin außer Essensresten.“
„Wir haben Milch“, sagte sie, ging zum Sofa und setzte sich neben die Stelle, wo er gesessen hatte. „Und Müsli.“
„Müsli?“ Sein schwerer Seufzer irritierte sie.
„Was?“
„Es ist nur einfach … Du bist doch tagsüber hier. Zu Hause. Ich dachte, du würdest dich um das Essen kümmern, um die Küche … ums Abendessen.“
„Mich ums Abendessen kümmern?“
„Du weißt, was ich meine.“
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Es ist nur einfach … Du bist doch zu Hause.“
„Ich bin nicht nur einfach zu Hause. Ich arbeite.“ Sie wies auf ihren kleinen Bürobereich, den sie in einer Nische ihrer Wohnung eingerichtet hatte. Der Bereich war klein, aber sie hatte einen wahnsinnig tollen Ausblick auf den East River und das untere Ende Manhattans.
„Schön, aber können wir wenigstens hin und wieder hier aussortieren?“ Er warf mit großer Geste eine weitere Schachtel chinesisches Essen in den Mülleimer und knallte dann die Kühlschranktür zu.
„Können wir gerne, tu dir keinen Zwang an.“ Taylor griff nach der Fernbedienung und schaltete um. Unter ihrer Haut brodelte der Groll. Den ganzen Tag über war er weg, kam dann ohne ein einziges zärtliches Wort nach Hause, zog sich um, um Basketball spielen zu gehen, und kritisierte sie nebenbei für zu viele Essensreste.
Was lief denn um halb elf abends im Fernsehen? Irgendetwas Lustiges …
„Was hat es eigentlich mit dir und den Essenresten auf sich, so allgemein gesprochen, meine ich?“, fragte sie. „Ich wollte das doch schon vor zwei Tagen wegwerfen, und du hast gesagt, ich sollte es noch behalten.“ Sie landete bei der Wiederholung einer Sendung aus den Achtzigern. „Dann iss es doch jetzt, Jack.“
Er verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Tresen. „Ich sage doch nur, dass die Küche irgendwie dein Bereich ist.“
„Mein Bereich? Was ist denn dein Bereich? Mir zu sagen, was ich zu tun habe? Ich kümmere mich doch schon um das Putzen, die Wäsche, das Einkaufen und um andere Erledigungen.“
„Dein Zeitplan ist eben flexibler als meiner.“
„Das stimmt überhaupt nicht. Ich bin genauso beschäftigt wie du, und ich habe keine Riesenfirma, die mir dabei den Rücken stärkt. Wenn ich gerade keinen Auftrag habe, muss ich mir einen suchen. Wenn ich diesen Auftrag dann habe, muss ich das Studio buchen, Ausrüstung mieten, die Zeitplanung machen und die Auftragsliste anfertigen. Dann gehe ich an die Recherche, und zwar ohne fleißige Helfer, die mich dabei unterstützen.“
„Was ist denn mit Addison? Sie ist deine Assistentin. Ich habe eingewilligt, dass du sie aus unserer gemeinsamen Haushaltskasse bezahlen kannst.“
„Sagt der Mann mit den fünfundzwanzig Paar Schuhen.“
„Was haben denn jetzt meine Schuhe damit zu tun?“
„Deine Schuhe, deine Ausgaben … Und jetzt gehst du mich an, weil ich ein bisschen Geld in Anspruch nehme, um eine Assistentin zu bezahlen.“
„Und assistiert sie dir denn? Warum machst du die Retuschen bei den Fotos für Melinda House und nicht Addison?“
„Sie ist nicht so gut bei so was. Noch nicht.“
„Dann finde jemand, der das besser kann.“
„Was? Nein. Sie ist organisiert und hat einen Blick für Details, sie hält mich auf Spur.“
Sie war zu müde für all das. Und sie hatte dieses Karussell-Spiel so dermaßen satt. Du machst dies, ich mache das.
Jack zog eine Schublade auf, dann eine zweite und schob den Inhalt geräuschvoll hin und her. Alle paar Sekunden schoss er ihr einen Blick aus seinen knallblauen Augen zu. „Haben wir denn nicht einmal Stift und Zettel hier?“
Taylor zeigte auf den Stifteköcher neben dem Telefon. „Was hast du vor?“
„Ich mache eine Aufgabenliste.“
„Oh Jack, jetzt komm aber.“
„Komm aber, was? Ich habe dich schon verstanden. Wir müssen das ausgeglichener aufteilen. Lass uns auf die eine Seite Taylor schreiben und auf die andere Seite Jack.“
Warum machte er das? Taylor wollte durchs Zimmer stürmen, ihn am Arm packen und schütteln, wollte sagen: „Lass uns dort neu beginnen, wo wir angefangen haben, oder Schluss machen.“
Mit einer sarkastischen Geste fing Jack an, ihre zukünftigen Aufgaben aufzulisten. „Du machst … die Einkäufe, Putzen, Wäsche … Stimmt das? Habe ich jetzt alles?“
„Die Finanzen.“
„Ja, stimmt, natürlich. Die Budget-Gestapo.“
Taylors Augen wurden feucht. Er hatte sie gebeten, sich um die Finanzen zu kümmern, weil sie gut mit Zahlen umgehen konnte. Sie war gut darin, überflüssige Ausgaben zu begrenzen. Aber in letzter Zeit sprach er nicht einmal mehr über seine Ausgaben. Er reichte ihr nur noch die Quittungen.
„Ich kümmere mich um die chemische Reinigung …“, fing er an.
„Aber nur, weil du auf dieser blöden Reinigung bei deiner Arbeit bestehst. Die ist zu teuer, ehrlich.“
„… bringe den Müll raus, verdiene das Geld, das unseren Haushalt und deine Firma am Laufen hält …“
Taylor schoss vom Sofa hoch, schnappte ihm das Papier unter dem Stift weg und zerknüllte es. „Hör auf, hör einfach auf. Ich habe doch gesagt, dass ich dir Addisons Gehalt zurückzahle.“
„Habe ich dich darum gebeten, es zurückzuzahlen?“ Er bückte sich nach der zusammengeknüllten Liste. „Ich versuche nur, der großen Kluft zwischen unseren Verantwortlichkeiten auf die Spur zu kommen.“
„Warum sagst du dann ‚Ich verdiene das ganze Geld hier und halte deine Firma am Laufen‘?“
„Weil ich das nun eben mache. Ich weiß nicht, warum dich das so aufregt.“ Er pfefferte den Stift wieder in den Becher. „Ich habe nur einfach beschrieben …“
„Du hast mich auf meinen Platz verwiesen.“
„Und du hast mich nicht auf meinen Platz verwiesen? Ich verstehe schon, du hast keine Lust, dich ums Abendessen zu kümmern. Gut zu wissen. Ich sollte noch eine Liste machen. ,Dinge, über die man sprechen sollte, bevor man spontan jemanden heiratet.‘“
Da. Zweifel, offen geäußert. Sie hatte doch gewusst, dass er zweifelte. Hatte es gewusst. Was blieb ihr also anderes übrig, als ihr Herz wieder an die kurze Leine zu legen?
„Ich muss los und mich mit Aaron treffen.“ Jack verschwand in ihrem Zimmer und kehrte kurz darauf mit den Autoschlüsseln zurück. „Warte nicht auf mich.“ Er sah sich zu ihr um, als er nach der Türklinke griff, und etwas Weiches huschte über sein Gesicht. „Taylor, ich …“
„Ja?“ Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren.
„Ich wollte nur sagen …“
Es klingelte an der Tür. Das übertölpelte Jack und beraubte den Augenblick seiner Intimität. Jack runzelte die Stirn und öffnete die Tür. „Wer klingelt denn noch um diese Zeit?“
Doug Voss stand auf der anderen Seite. Taylor atmete zitternd aus. Oh nein. Ihr großer Fehler. Der, dem sie entflohen war.
„Was machst du hier?“ Taylor bewegte sich auf die Tür zu, stand zwischen ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit. Die Schatten im Zimmer kamen ihr auf einmal länger und dunkler vor.
Er lächelte sein perfektes, durchtriebenes Lächeln. „Ich war in der Nähe. Da dachte ich mir, besuche ich doch mal das junge Glück.“ Ohne weitere Einladung trat er über die Schwelle und sah sich im Zimmer um, als gehörte ihm die Wohnung.
„J-Jack, das … das ist Doug Voss.“
„Ich weiß, wer er ist“, sagte Jack und reichte dem Medienmogul die Hand zu einem steifen Handschlag. „Der Herausgeber von Gossip.“
„Dem Promi-Magazin Nummer eins, ganz genau. Was teilweise dieser jungen Dame hier zu verdanken ist.“ Doug zeigte auf Taylor, während er durch das Wohnzimmer schlenderte. „Nette Wohnung. Ganz erstaunlich, was aus diesen alten, sanierten Wohnungen herauszuholen ist.“
Alt. Saniert. Eine Herabsetzung.
„Noch mal, warum bist du hier?“
Dougs Blick streifte sie, während er sich vorbeugte und aus dem Fenster sah. „Hübscher Balkon. Tolle Aussicht über den Fluss.“
„Uns gefällt es“, erwiderte Jack, angespannt, misstrauisch. Mit seinem Tonfall markierte er sein Territorium.
„Kann ich dir was anbieten … Tee, Kaffee? Wasser?“ Taylor wechselte einen Blick mit Jack. Was? Ich weiß nicht, warum er hier ist. Sie fühlte sich zwischen Dougs Invasion und Jacks steinernem Blick gefangen.
„Nein, danke, nicht für mich.“ Doug musterte Jack. „Du spielst Basketball?“
„Ja, ein bisschen. Baut den …“
„… Stress ab. Das stimmt. Ich werfe hin und wieder selbst mal ein paar Körbe.“
„Doug, ich weiß doch, dass du nicht hierhergekommen bist, um mit Jack über Basketball zu sprechen.“ Seine Anwesenheit schien ihr anmaßend, schnüfflerisch, als wollte er mal nachschauen, wo Taylor gelandet war. Nun, das ging ihn nichts an.
„Ich brauche dich für einen Auftrag.“
„Ein Auftrag? Was für ein Auftrag?“ Für Doug und Gossip zu arbeiten hatte sie in Lohn und Brot gehalten, als sie vor anderthalb Jahren in die große Stadt gekommen war, hatte ihren Namen in Umlauf gebracht und die Rechnungen bezahlt. Aber das waren Jobs für Ruhm, nicht für Reichtum. So richtig Geld brachten die Werbeaufträge, wie sie von einer Agentur wie Jacks vergeben wurden.
„Keine Sorge, nicht noch ein Brandon-Coulter-Shoot.“
„Dem Himmel sei Dank. Das war mal ein echtes Vergnügen“, sagte sie. Der jugendliche Rocker war viel zu spät gekommen, mit glasigen Augen, verwaschener Stimme und fünf schönen, ausgesprochen dünnen Mädchen im Gefolge. Es hatte zwei Tage gedauert, bis Taylor das geschafft hatte, wofür sie sonst einen Tag benötigte.
„Oh, übrigens, sag mal, hat das mit der Sache von CBS geklappt?“, fragte Doug, der sie unverwandt ansah. „Ich habe ihnen gesagt, dass du die Beste bist.“
„Ja, hat geklappt. Morgen früh fotografiere ich das Ensemble von Morgen ist ein neuer Tag.“ Er markierte sein Territorium. Er zeigte Jack, dass er, der allmächtige Doug Voss, sich um sein Mädchen kümmerte. Aber sie war nicht mehr sein Mädchen.
„Ausgezeichnet. Siehst du, Süße, meine Unterstützung hast du.“
„Was hat es mit diesem CBS-Auftrag auf sich?“ Jack veränderte seine Haltung. „Bringt er Geld ein? Mir scheint, du vermittelst ihr vor allem Arbeit, die sie letzten Endes mehr Geld kostet als einbringt, Voss.“
„Ach ja, Ehemann und Agent, ich verstehe.“
„‚Ehemann‘ deckt es eigentlich im Wesentlichen ab, würde ich meinen.“
Doug zog eine Grimasse, wandte sich Taylor zu und verdrehte die Augen. Den Typen soll man mal verstehen. „Also, dann fotografierst du das Ensemble von Morgen ist ein neuer Tag.“
„Morgen früh, ja.“
„Und die Bezahlung stimmt? Ich habe denen gesagt, dass sie ordentlich was springen lassen sollen.“
„Besser als sonst oft.“ CBS wollte eine Fotostrecke mit den Schauspielerinnen und Schauspielern ihrer erfolgreichsten Seifenoper haben, die im 62. Ausstrahlungsjahr war und nun auf ihr Ende zuging. Das sollte gefeiert werden.
„Die letzte Folge wird Ende des Monats ausgestrahlt“, erklärte Taylor Jack. „Doug hat eine Exklusiv-Story für Gossip bekommen.“
„Sie haben Fans auf der ganzen Welt“, sagte Doug. „Gossip wird diese Sonderausgabe in vierzig Sprachen herausbringen. Taylors Foto kommt aufs Cover.“
„Bist du deswegen hier? Um dich nach dem Job zu erkundigen?“, fragte Taylor.
„Nein, um ehrlich zu sein, habe ich noch einen Auftrag für dich.“
„Anscheinend schwimmst du ja nur so in Aufträgen für meine Frau.“ Das kam mit einem Unterton heraus, der mehr nach Besitzerstolz klang denn nach Zuneigung. Taylor warf Jack einen scharfen Blick zu.
Aber Doug gluckste, setzte sich gemächlich in einen Sessel, nahm Tempo aus der Angelegenheit, spielte zu seinen Bedingungen. „Was ist mit deiner Tante? Hast du Kontakt mit ihr aufgenommen?“
Colette Greer, Omas Schwester, war die Grande Dame und der Star von Morgen ist ein neuer Tag. Sie hatte die ganzen zweiundsechzig Jahre lang Vivica Spenser gespielt – vom Backfisch bis zur Großmutter, von der Cheerleaderin zur Wirtschaftsmagnatin und Matriarchin. Obwohl sie im Fernsehen ein vertrautes Gesicht war, war sie für Taylor und ihre Familie eine Fremde. Seitdem sie nach New York gezogen war, hatte sie Tante Colette ein einziges Mal gesehen.
„Ich habe sie angerufen. Doug, ehrlich jetzt, um was für einen Auftrag geht es denn?“ Die Anspannung, die Jack ausstrahlte, stemmte sich gegen sie und raubte ihr die Kraft.
„Freust du dich darauf, sie zu sehen?“
„Voss, sie hat jetzt schon mehrfach gefragt. Was ist das für ein Auftrag?“ Jacks Telefon gab in seiner Tasche einen Laut von sich. Wahrscheinlich Aaron. Wo bist du? Aber er ging nicht ran.
„Verzeihung.“ Doug behielt die Oberhand, er ließ sich von Jacks Gegenwart nicht aus der Ruhe bringen. „Taylor ist meine Freundin, trotz unserer … Vergangenheit.“
„Und genau das bist du nämlich. Ihre Vergangenheit. Jetzt sag endlich, warum du hier bist, und dann geh!“ Jacks erhobene Stimme donnerte in den Raum.
„Sagen, warum ich hier bin?“ Er sah sich in dem kleinen, aber luftigen, modernen Apartment um. „Ich wollte sehen, wie es dir geht.“ Sein Tonfall, sein Blick durchbohrten sie. „Sehen, ob du glücklich bist. Immerhin hast du mich verlassen, und das Nächste, was ich mitbekomme, ist, dass du diesen Mann hier geheiratet hast.“
„Stopp. Genug.“ Taylor hob die Hand und ging zur Tür. Irgendwie brachte sie ihre schlackernden Beine dazu, sie zu tragen. Doug zog Strippen und drückte Knöpfe, er manipulierte. Das spürte sie, und wenn sie noch einen Moment länger wartete, würde er ihre Seele mit seinem ganz persönlichen Charme beschmutzen.
„Hör mal, Tay“, sagte Doug, der immer noch saß. Sich zurücklehnte. „Los Angeles, nächste Woche. Du, ich und unsere ganze Mannschaft bei den Emmys.“
„Was? Du veräppelst mich.“
Doug Voss war mehr als nur ihr großer Fehler. Ihre Zeit mit ihm war die reinste Wüste gewesen. Eine Zeit, in der sie Gottes Herzschlag nicht mehr hören konnte. Nie wieder wollte sie dorthin zurück. Warum sollte sie also eine Woche mit ihm in Los Angeles verbringen? Selbst wenn es um einen Auftrag ging.
„Würde ich Scherze machen, wenn es ums Geschäft geht? Niemals. Ich brauche dich für die Emmys. Du bist die beste Fotografin für den roten Teppich, die es zurzeit am Markt gibt.“
„Ich bin nicht die beste …“
„Jack, sag du’s ihr. Sie ist die Beste.“ Doug hielt Jack den Köder hin, aber der war in der Werbebranche unterwegs und mit den Tricks von Scharlatanen vertraut.
„Sie ist die Beste.“
„Bieten du und deine supertolle Firma ihr denn Aufträge an? Du weißt, dass sie in die Werbung will.“
„Doug …“
„Also, was sagst du? Du und ich für eine Woche in L.A.? Eine Runde durch die alten Läden drehen? Die Leute von damals treffen?“
Die Leute von damals waren seine Freunde. Und Taylor sah mehr als nur Arbeit in seinem kaum verhohlenen Angebot. Er verlor nicht gerne Sachen. Schon gar nicht die Frauen in seinem Leben.
„Nein, Doug, ich bin beschäftigt.“
„Wenn du es dir anders überlegst …“ Mit einem neckischen Grinsen ging Doug, unbeeindruckt von ihrer Ablehnung, als ob er einen Plan hätte, wie er sie umstimmen könnte. Als die Tür ins Schloss fiel, zitterte Taylor und sah ihren Ehemann von der Seite an.
„Was hast du nur je in diesem Typen gesehen?“
Am Anfang alles. „Ich bin nur froh, dass ich den Absprung geschafft habe.“ Sie lächelte Jack an und atmete tief durch. „Geh los, Ball spielen. Hab Spaß. Bestell Aaron schöne Grüße.“ Sie zeigte zur Tür und zwang jedes bisschen Fröhlichkeit an die Oberfläche. Alles ist gut.
„Bist du okay?“ Jack legte sanft den Arm um ihre Taille und küsste sie auf die Schläfe.
„Mir geht es gut.“ Jetzt. Wirklich gut. Sie legte die Wange an seine Brust, wo sein leiser Herzschlag sie daran erinnerte, warum sie Ja gesagt hatte.