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Kapitel IV

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Marie hatte den Brief in der Tasche, sie war nun völlig überzeugt, dass diese Wahnsinnige keinen Widerstand leisten würde, dass sie sich ihnen gegenüber noch einsichtiger, noch beschützender, letztlich noch betuchter, wie sie es in ihrer Vorstadtsprache ausdrückte, verhalten würde, und dann würden neue Herrlichkeiten auf sie niederprasseln. Himmeldonnerwetter! Die Millionen würden sich um den Kleinen legen wie Aspik ums Schmorfleisch; er würde tagtäglich seinen Feststaat tragen; und sie, sie würde in Moirékleidern durch ihre widerlichen Küchen schlurfen. Er würde ein Herr sein, sie eine Dame!

Der Brief bestand aus wenigen Sätzen, erklärte aber eine Reihe von Dingen sehr deutlich:

»Komm«, hatte das Mädchen mit Rechtschreibfehlern und blauer Tinte geschrieben. »Komm, du liebe Frau deines kleinen Jacques … Ich vergehe ohne dich … die dreihundert Franc sind weg, und ich war gezwungen, Marie einen Topf mit einer Schlange drauf verkaufen zu lassen. Es ist traurig, wenn man so schnell verlassen wird, wenn man vom Himmel gekostet hat … Du verstehst mich doch, oder? Ich glaube, ich werde krank. Und meine Schwester, die hustet immer noch.

Dein Geliebter bis zum Gehtnichtmehr,

JACQUES.«

Und nachdem sie dieses Meisterwerk vollendet hatte, war Marie trotz der verstörten Miene ihres Bruders zur Avenue des Champs-Élysées aufgebrochen. Dieser Dummkopf würde es niemals fertigbringen, seine Rolle ernst zu nehmen. Da war es doch ein Glück, dass sie ihm ihre Erfahrung mit dem menschlichen Körper zur Verfügung stellte, und sie wusste, wie man, wenn es darauf ankam, einen Liebhaber oder eine Liebhaberin unter der linken Brust ankitzelt.

An jenem Tag fiel ein langsamer und durch alle Kleider gehender Märzregen; auf sämtlichen Wegen der Avenue sank man ein. Marie hatte sich einen Wagen sparen wollen, und so dauerte es nicht lange, bis sie von den Stiefelchen bis zum Hut vollgespritzt war.

Als sie vor dem Palais, diesem großen und düster wirkenden Gebäude, ankam, fragte sie sich, ob man sie nicht gleich hinauswerfen würde, sobald sie im Entrée stand. Oben auf der Freitreppe begegnete sie einem dicken Wächter und einem kleinen Hund. Ersterer nahm den Brief entgegen, Letzterer knurrte.

»Wünschen Sie Mademoiselle oder Madame zu sprechen?«

»Mademoiselle.«

»He! Pierrot, da ist eine Privatperson, die möchte die Treppe gern auf ihre Art wischen«, rief der Concierge einem winzigen Pagen zu, der durch das Entrée lief.

Das war in der Tat recht komisch; doch der im besonderen Dienst von Mademoiselle stehende Page verzog das Gesicht wie ein gestandener Mann, der alles für möglich hält, selbst bei Regenwetter.

»Schon gut: Ich schaue mal. Warten Sie hier.«

Er deutete auf eine kleine Bank. Marie setzte sich nicht, sondern sagte grob:

»Ich hänge doch nicht im Vorzimmer rum. Halten Sie mich für eine ehemalige Concierge, Sie Affe?«

Verblüfft machte der Page auf dem Absatz kehrt und murmelte, ganz wie ein gut geschulter Domestik:

»Jemand mit Einfluss! – Kleidung verliert in der Republik aber auch immer mehr an Bedeutung.«

Mademoiselle befand sich in einem an ihr Schlafzimmer angrenzenden Boudoir. Wenn Madame Ermengarde ausging, empfing Raoule alle, die kamen, ob männlich oder weiblich. Das Boudoir ging auf einen Wintergarten hinaus, den sie zu ihrem Arbeitszimmer gemacht hatte. Als der Page hereinkam, ging ein Mann gerade hastig auf und ab, während Mademoiselle de Vénérande auf einer kreolischen Causeuse lag und unter schallendem Gelächter hin und her wippte.

»Sie stoßen mich in die Hölle, Raoule«, wiederholte der Mann, der noch jung war, mit dunklen, slawisch anmutenden Zügen, die aber eine ganz pariserische Lebhaftigkeit aufhellte. »Ja! in die Hölle, wenn Sie zugeben, dass ich doch schon den Himmel verdient hätte … Lachen ist keine Antwort … Ich versichere Ihnen, dass eine Frau ohne Liebe nicht wirklich lebt, und Sie wissen, dass ich unter Liebe die Vereinigung zweier Seelen in der Vereinigung zweier Lebewesen verstehe. Ich bin ganz offen. Ich wickle sinnreiche Aussagen nie in hübsche Geistlosigkeiten ein, so wie man bittere Medizin in Konfitüre packt … Ich sage das alles ganz unverblümt, nach Husarenart, und wenn ich den Graben sehe, halte ich mich nicht damit auf, Margeriten zu zerzupfen. Hopp! Ich gebe die Sporen und stürme auf Sie los, Raoule de Vénérande, mein lieber Freund! Heiraten Sie nicht, aber nehmen Sie sich einen Liebhaber: Das tut Ihrer Gesundheit gut.«

»Bravo! Monsieur de Raittolbe! Ich gehe jede Wette ein, dass meine Gesundheit erst dann wirklich aufblühen wird, wenn dieser Liebhaber ein Husarenoffizier ist, einer mit braunem Teint, der offen spricht, unverfroren dreinschaut und herumkommandiert, stimmt’s?«

»Nun ja, zugegeben, ich gehe sogar noch weiter … ich schlage besagten Husaren als Ehemann vor … Wählen Sie selbst! Nach Dienstalter oder besonderen Verdiensten! Wir machen Ihnen zu fünft seit drei Jahren wie wild den Hof. Der musikverzückte Fürst Otto ist wahnsinnig geworden und hat, wie man sagt, Euer lebensgroßes Porträt in einer Leichenhalle aufgebahrt, wo um ein Ruhebett gelbe Wachskerzen brennen … und dort schmachtet er vom Morgenrot bis zur Abenddämmerung. Flavien, der Journalist, rauft sich mit zitternder Hand das Haar, sobald man Ihren Namen erwähnt. Hector de Servage ist, nachdem Eure Tante ihm in aller Form den Abschied gegeben hat, nach Norwegen gegangen, um sich Abkühlung zu verschaffen. Euer Fechtmeister hätte sich beinahe einen seiner besten Degen in die Rippen gestoßen. Und da Euer ergebener Diener somit allein übrig bleibt … mit der Ehre, Ihnen bei Ausritten in den Bois de Boulogne die Steigbügel zu halten, denke ich, dass Sie ihn mit einem milderen Auge betrachten, und er reicht seine Kandidatur ein. Möchten Sie, Raoule, dass wir unserer Freundschaft im ehelichen Bett eine Heimstatt geben? Sie hätte es dort wärmer …«

Raoule hatte sich gerade erhoben und wollte auf de Raittolbe zugehen, als der Page eintrat.

»Mademoiselle, hier ist ein eiliger Brief.«

Sie wandte sich um.

»Gib her.«

»Gestatten Sie?«, fügte sie an den Husaren gerichtet hinzu, der eine japanische Pflanze in kleine Stücke zerpflückte, um seinen Zorn zu mäßigen. Wütend kehrte er ihr ohne zu antworten den Rücken. Zum tausendsten Mal brach diese Unterhaltung just an der interessantesten Stelle ab.

Monsieur de Raittolbe, der nicht gerade zu den Geduldigsten gehörte, zündete hinterlistig eine Zigarre an und räucherte eine ganze Azaleenrabatte ein, wobei er sich schwor, nie wieder diese Hysterikerin aufzusuchen, denn seiner Meinung nach musste man hysterisch sein, sobald man nicht dem allgemein gültigen Gesetz folgte.

Beim Lesen war Raoule blass geworden.

»Mein Gott!«, murmelte sie, »er will Geld; ich stecke bis zum Hals im Schlamm!«

»Lassen Sie dieses arme Geschöpf eintreten«, fuhr sie locker fort, »ich möchte ihm gleich geben, was es verlangt.«

»Aber mir die geforderte Erklärung verweigern!«, grummelte der Offizier außer sich.

In aller Ruhe schloss Raoule ihn im Wintergarten ein und setzte sich wieder, totenbleich. Ihre Stirn sank herab, sie grub ihre langen Fingernägel in das mit blauer Tinte bedeckte Papier.

»Geld! Oh! Nein, ich darf der Versuchung nicht nachgeben! Ich werde ihm schicken, was er will, umbringen werde ich ihn nicht! … Kann er überhaupt etwas dafür? Wird ein Mann aus dem Volk, weil er schön ist, nicht auch niederträchtig sein können? Lassen wir das! Es ist nur gut, dass mir dieser Kelch dargeboten wird: Ich weise ihn nicht zurück … im Gegenteil, ich werde neues Leben aus ihm schöpfen.«

Der kehlige Husten von Marie Silvert ließ sie den Kopf wieder heben. Raoule stand ganz plötzlich auf, drohend und hochmütiger als eine Göttin, die aus dem Empyreum5 spricht.

»Wie viel?«, fragte sie, während sie die riesige Schleppe ihrer Samtrobe ausbreitete.

Marie brachte ihren Hustenanfall zu Ende … auf diese unvermittelte Ansprache war sie nicht gefasst … Teufel auch! das lief schief … man hätte etwas milder einsteigen können, mit Gefühl, sanften Fragen … So ein Manöver lässt man doch auf kleiner Flamme köcheln, wie ein Ragout, und fügt erst ganz am Ende den Pfeffer hinzu.

»Wissen Sie was? der Kleine langweilt sich«, erklärte sie mit anzüglichem Lächeln.

»Wie viel?«, wiederholte Raoule voll blinder Wut und blickte sich nach einem Messer um.

»Seien Sie nicht wütend, Mademoiselle, das Geld spielt nur in seinem Brief eine Rolle; vor allem möchte er Sie sehen, das gute Kind … Er ist doch nur ein Baby ohne jede Vernunft, ein viel zu empfindlicher Heulpeter! Er hat sich eingebildet, dass Sie schon nicht mehr in ihn verknallt sind, da kann man nichts mehr machen! Ich kann zu Ihren Gunsten sagen, was ich will. Sieht er Sie nicht wieder, gibt er sich den Tod, das macht mir schreckliche Angst. Heute Morgen, da hat er sein Glas angeguckt und zu mir gesagt, dass er sich bald Gift reintun wird. Armes Kätzchen! Wenn das nicht den Seelenfrieden zunichte macht! In seinem Alter! Und so blond, so unschuldig! Na, Sie kennen ihn ja? Also hab ich mir meinen Sonntagsrock angezogen … Lass deinen Bruder nicht hinsiechen, hab ich mir gesagt. Und da bin ich! Was das Geld anlangt, wir sind arm, aber stolz. Darüber sprechen wir später! …«

Sie rieb ihren Fuß auf dem Teppich des Boudoirs hin und her und empfand eine stille Freude, dass sie die von da oben ein bisschen mit Dreck bewerfen konnte, und schüttelte ihren ausgeblichenen Regenschirm, den sie nicht aus der Hand hatte geben wollen.

Raoule ging geradewegs zu ihrem Bonheur-du-jour6 auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers; mit dem Handrücken schob sie das Mädchen beiseite wie einen Lappen, der einem ins Gesicht schlägt.

»Da sind 1000 Franc … heute Abend schicke ich Ihnen weitere 1000 … aber bleiben Sie keine Sekunde länger … ich kenne Ihren Bruder nicht … ich habe keine Ahnung, wo er wohnt … Sie … ich weiß nicht, wie Sie heißen. Nehmen Sie das und verschwinden Sie!«

Sie legte die Geldscheine auf einen Sessel und gab ihr ein Zeichen, sie an sich zu nehmen. Dann klingelte sie …

»Jeanne«, sagte sie zu ihrer Kammerzofe, »begleiten Sie Madame hinaus.«

»Ah! Aber …«, grollte die verblüffte Blumenmacherin.

Sie wurde von Jeanne mit fast durchgestreckten Armen abgeführt. Die Faust des Concierge schubste sie auf die Avenue, der kleine Hund lief die Freitreppe hinunter und unterstützte das Geschehen mit schrillem Geheul.

»Langweilt Ihr Euch, Baron?«, fragte Raoule, als sie lächelnd wieder in den Wintergarten trat.

»Mademoiselle«, erwiderte Raittolbe in höchster Ungeduld, »Sie sind eine liebliche Bestie, allerdings entfaltet das Studium der Raubtiere seinen wahren Reiz nur in Algerien …, deshalb verabschiede ich mich für heute Abend; morgen früh hisse ich die Segel in Richtung Constantine. Soll Euch doch wer auch immer den Steigbügel halten. Was mich anbelangt, ich lege darauf keinen Wert mehr.«

»Ach, ach! Dabei war mir doch gerade, als hättet Ihr mir angeboten, Euren Namen zu tragen! …«

De Raittolbe ballte die Fäuste.

»Wenn man bedenkt, dass ich meinen Abschied genommen habe, um Tiger zu jagen!«, fuhr er fort, ohne ihr überhaupt zuzuhören.

»… als hättet Ihr klipp und klar um meine Hand angehalten! …«

»… um im Park der Familie de Vénérande einen als Amazone ausstaffierten Tiger zu jagen.«

»… unter Umgehung meiner Tante und aller Regeln der Etikette, Monsieur!«

»… Ich finde mich grotesk, Mademoiselle!«

»Ganz meine Meinung«, fügte Raoule philosophisch hinzu.

Baron de Raittolbe hielt inne. Einen Augenblick lang sahen sie sich an, dann lachten sie aus vollem Halse.

Mit neuem Mut ergriff der junge Mann die Hände der jungen Frau: Sie setzten sich auf einen Diwan im Gewächshaus, hinter sich eine Magnolie.

»Hören Sie, aufrichtige Liebe kann niemals grotesk sein. Raoule, ich liebe Sie aufrichtig.«

Er beugte sich vor. Seine Augen mit dem leicht spöttischen Blick wurden feucht, was von einer schlichten Anspannung der Gesichtsnerven herrührte, nicht von der Zärtlichkeit, die er ihr vorführen wollte, dann küsste er ihr alle Finger einzeln, wobei er zwischen jeder Liebkosung kurz innehielt.

»Raoule … ich habe Euch mein Herz dargebracht … ich werde nicht gehen, ohne es Ihnen wieder zu nehmen, und da es direkt neben dem Ihren liegt, hoffe ich, dass Ihr Euch irrt … zwei Jungmännerherzen, zwei Husarenherzen müssen doch vom gleichen Rot sein … gebt mir das Eure … behaltet das meine … In einem Monat jagen wir gemeinsam echte Löwen in einem wirklichen Afrika.«

»Ich schlage ein!« antwortete Raoule, und in ihrem düsteren Blick, der des Weinens nicht fähig war, lag schwermütige Trauer.

»Worin schlagen Sie ein? …«, fragte de Raittolbe beklommen.

Die junge Frau schob höchst würdevoll seine ausgestreckten Hände beiseite.

»Sie zum Geliebten zu nehmen, mein Lieber, Sie werden nicht der erste sein, und ich bin ein Ehrenmann! …«

»Wusste ich’s doch«, erwiderte de Raittolbe leise; »gerade denke ich, ich bete Sie an!«

Am Abend dinierte der junge Offizier im Hôtel de Vénérande. Tante Ermengarde gegenüber benahm er sich überaus ritterlich. Er erging sich in einer Tirade über die Frömmigkeit, die die Frau menschlichem Elend gegenüber blind macht und sie über die unreine Erde erhebt. Tante Ermengarde musste zugeben, dass die Husaren doch gute Kerle waren. Als er sich verabschiedete, flüsterte de Raittolbe etwas in Raoules Ohr.

»Ich warte …«

»Morgen«, murmelte sie, »Hotel Continental. Mein braunes Coupé wird gegen zehn Uhr morgens durch das linke Tor hereinrollen.«

»Das genügt mir.«

Und der Lebemann zog sich beruhigt zurück.

Das braune Coupé wurde am nächsten Tag auf zehn Uhr bestellt, und Raoule ließ sich mit fiebriger Freude in den Wagen fallen. So sollte es jetzt sein, das hatte sie sich geschworen, und da er letztlich besser war als die anderen, würde sie sich mit ihm vielleicht besser vergnügen. Sinnesverwirrung bedeutet nicht die höchste Entfaltung der Seele, und die Schönheit eines menschlichen Körpers ist nicht geeignet, den Wunsch zu erwecken, sich in ewigem Wahn an ihn zu binden.

Während sie ihre Handschuhe zuknöpfte, summte sie ein Liedchen. Das Coupéfenster spiegelte ihr Gesicht, ihre spitzenbesetzte Corsage stand ihr gut, sie genoss es, sich mit Wonne als Frau zu fühlen.

»Möchte Mademoiselle hineingehen?« fragte der Kutscher, der sich nach schneller Fahrt zum Fenster hinunterbeugte.

»Nein! Halten Sie nur an, und sobald ich ausgestiegen bin, fahren Sie durch das linke Tor und warten dort bis zum Abend auf mich! …«

Raoules Stimme klang jetzt keuchend. Sie stieg aus, gab einer parkenden Droschke ein Zeichen und stürzte hinein.

»Notre-Dame-des-Champs, Boulevard Montparnasse!« sagte sie, während der andere Wagen gemäß ihren Anweisungen leer auf das linke Tor zufuhr.

Den ganzen Weg über hatte sie nicht daran gedacht, doch als sie erst einmal in der Nähe des Opfers war, begehrte ihr Körper, der nicht mehr sich selbst gehörte, auf. Raoule hatte ihm ohne Widerrede nachgegeben.

Das Atelier am Boulevard Montparnasse erschien ihr finster, als sie dort ankam, doch ganz hinten öffnete sich blau wie ein Stück Himmel das Schlafzimmer. Marie Silvert zog sich zurück, sobald Raoule über die Schwelle getreten war.

»Da schau her, wir regeln unsere kleinen Geschäfte nach dem Mittagessen. Das wird brenzlig für dich, das garantiere ich dir, liederliches Frauenzimmer!«

Mademoiselle de Vénérande band die schweren Vorhänge los, um für sich zu sein.

»Jacques! …«, rief sie barsch.

Er wollte dieses Übermaß an Schande nicht wahrhaben und vergrub das Gesicht in seine Kissenrolle.

»Ich habe den Brief nicht geschrieben!«, schrie er, »ich versichere es Ihnen, das hätte ich nicht gewagt. Im Übrigen möchte ich fort, ich bin krank. Man macht mich krank, um mich in diesem Bett festzuhalten … Marie ist zu allem fähig, ich kenne sie! Und Sie! … Sie kann ich nicht ertragen! …«

Seine Energie war verpufft, er glitt tief in seine Decken zurück, rollte sich ein wie ein geprügeltes Tier.

»Tatsächlich?«, fragte Raoule, die ein köstlicher Schauer durchlief.

»Ja, tatsächlich!« Er brachte seinen Strubbelkopf wieder zum Vorschein, und sein bewundernswürdiger Blondschopf-Teint färbte sich leicht rosa.

»Und weshalb hast du dann erlaubt, dass dieser Brief abgeschickt wurde?«

»Ich wusste von nichts! Marie versicherte mir, ich hätte Fieber, ihr Fieber. Sie hat mir etwas eingeflößt, und ich war jede Nacht im Fieberwahn; sie sagte, es sei Chinin; ich hätte sie gern abgehalten, aber mir fehlte die Kraft! Ach! Behalten Sie Ihr unglückseliges Atelier doch für sich! Herrgott noch mal!«

Atemlos versuchte er sich aufzurichten, was bewirkte, dass Raoule etwas Seltsames entdeckte: er hatte ein Frauenhemd an, eine mit einer Blumengirlande bestickte Bluse.

»Ist das auch ihr Werk, dich so herzurichten?«, fragte Raoule und berührte die Girlande an seinem Hals.

»Glauben Sie denn, ich besäße Wäsche? Meine Lumpen sind längst weggeworfen. Mir war kalt, sie hat mir das übergezogen … Was weiß ich denn, ob das ein Frauenhemd ist! …«

»Ja, Jacques, es ist eines!«

Sie blickten sich einen Moment lang in die Augen, überlegten, ob sie darüber lachen sollten.

Marie rief von hinten aus dem Atelier:

»Ich lege zwei Gedecke auf, ja?«

Raoule de Vénérande pflichtete allem bei, um ihre Ruhe in der Schändlichkeit zu haben, die sie allmählich berauschte, und verriegelte die Tür, während Jacques herzlich zu lachen begann. Dann ging sie zögerlich zum Bett zurück. Er hatte ein so zartes und dummes Kinderlachen, einfach entzückend, ein so anmutiges, aufreizendes Lachen, das wüste Schauder in einem auslöste. Sie versuchte gar nicht erst, sich die Kraft zu erklären, die aus dieser Dummheit erwuchs, sie ließ sich davon umfangen wie ein Ertrinkender von der Welle nach seinem letzten Kampf, bevor er sich für immer der Strömung hingibt. Sie schob die blaue Bettwäsche ein wenig beiseite, um das Haupt des jungen Mannes ins Licht zu setzen.

»Bist du krank?«, fragte sie mechanisch.

»Jetzt nicht mehr, da ich Sie sehe! …«, antwortete er siegesgewiss.

»Möchtest du mir einen Gefallen tun, Jacques?«

»Alles, was Ihnen gefällt, Mademoiselle!«

»Nun denn! Sei still. Ich komme nicht her, um dich zu hören.«

Er schwieg ziemlich beleidigt und sagte sich, dass seine Schmeichelei wohl nicht neu für diese Anmaßende gewesen war. Frauen von Welt sind im Privatleben anstrengend, und er, der noch am Anfang stand, tastete viel zu sehr herum, das war ihm bewusst.

»Dann schlafe ich!«, erklärte er plötzlich und zog die Bettdecke bis zur Nase hoch.

»So ist es recht! schlaf«, murmelte Mademoiselle de Vénérande. Auf Zehenspitzen ging sie die Stores zuziehen, dann entzündete sie ein Nachtlicht, dessen mattes Kristall ein wolkiges Licht verbreitete.

Von Zeit zu Zeit hob Jacques die Wimpern, und wie die schlanke, ganz in Schwarz gekleidete Frau all diese Dinge leise vollführte, stürzte ihn in schreckliche Verwirrung.

Schließlich kam sie näher, mit einer kleinen Perlmuttdose in der Hand.

»Ich habe dir ein Mittel mitgebracht«, sagte sie mit mütterlichem Lächeln, »das dem Chinin deiner Schwester rein gar nicht gleicht. Du wirst es nehmen, um schneller einzuschlafen! …«

Sie legte den Arm um seinen Kopf und führte einen Löffel aus vergoldetem Silber zu seinem Mund.

»Sei brav!« sagte sie, während sie ihren dunklen Blick in den seinen senkte.

»Ich will nicht!«, erklärte er wütend. Jetzt erinnerte er sich, dass er eines Tages im Freudentaumel für 25 Centimes auf den Quais ein übles Buch mit dem Titel Die Taten der Brinvilliers7 gekauft hatte, und seither brachte er die Liebschaften großer Damen stets mit dem Vergiften in Zusammenhang. Sein etwas geschwächter Verstand stellte sich sogleich den verbrecherischen Anschlag einer Samthaube auf einen entkleideten Herrn vor. Er sah vor sich, wie der Herr mit verkrampfter Gebärde eine Tasse zurückstieß. Raoule wollte sich seiner bestimmt entledigen. Es gibt Geschöpfe, die vor nichts zurückschrecken, wenn sie sich kompromittiert fühlen! Deshalb hob Jacques die Faust, bereit, Raoule bei der ersten feindlichen Bewegung zu überwältigen. Statt einer Antwort tauchte Raoule ihre Zähne leicht in den Inhalt des Löffels.

»Ich bin doch kein Säugling«, meinte er verunsichert. »Man muss mir nichts vorkauen!« Und er schluckte ohne mit der Wimper zu zucken die grünliche8, nach Honig schmeckende Arznei. Raoule setzte sich auf den Bettrand, hielt ihm beide Hände und lächelte ihn beglückt und betrübt zugleich an.

»Mein Liebster«, murmelte sie so leise, dass Jacques sie wie vom Boden eines Abgrundes hörte, »wir werden uns in einem fremden Land gehören, das du überhaupt nicht kennst.

Es ist das Land der Wahnsinnigen, aber nicht der Grobiane … Ich habe dich soeben deiner gewöhnlichen Sinne beraubt, um dir andere, weit subtilere und raffiniertere zu verleihen. Du wirst mit meinen Augen sehen, mit meinen Lippen schmecken. In diesem Land träumt man, und das genügt, um zu existieren. Du wirst träumen und dann, wenn du mich dort, in dieser Welt der Mysterien, wiedersiehst, wirst du alles verstehen, was du nicht verstehst, wenn ich hier mit dir spreche.

Auf! Ich halte dich nicht mehr zurück und vereine mein Herz mit deiner Lust.«

Jacques versuchte mit zurückgebeugtem Kopf, seine Hände wieder in die Gewalt zu bekommen. Er meinte immer mehr, auf wogenden Federn zu driften. Die Vorhänge bekamen fließende Umrisse, und die Spiegel im Zimmer vervielfältigten sich, warfen ihm tausendfach die Silhouette einer schwarzen Frau zurück, die riesig, wie ein kohlschwarzer Geist, der aus dem höchsten Himmel hinabgestürzt wird, in der Luft schwebte. Er spannte alle Muskeln, straffte alle Glieder, wollte wider Willen zurück in seine gewöhnliche Hülle, die man ihm wegnahm, doch er versank immer tiefer. Das Bett war verschwunden, sein Körper ebenso. Er kreiste im Blau des Himmels, er verwandelte sich in ein Wesen, das dem schwebenden Geist ähnelte. Er hatte zunächst zu fallen gemeint und befand sich nun ganz im Gegenteil hoch über der Welt. Er hatte, ohne es sich erklären zu können, das hochmütige Gefühl Satans, der, aus dem Paradies herabgestürzt, dennoch über die Erde herrscht, und auf dessen Stirn der Fuß Gottes steht, während er zugleich seine Füße auf die Stirn der Menschen setzt.

Ihm schien, als würde er seit vielen Jahrhunderten so leben, mit der schwarzen Frau, er, der ganz in leuchtender Nacktheit erstrahlte.

In seinem Ohr brausten Gesänge einer seltsamen Liebe, die kein Geschlecht hatte und jegliche Art von Wollust verschaffte. Er liebte mit schrecklicher Wucht und dem Feuer einer glühenden Sonne. Man liebte ihn mit erschreckender Trunkenheit und so erlesenem Geschick, dass die Lust in dem Augenblick, in dem sie verlosch, neu erstand.

Vor ihnen öffnete sich ein unendlicher Raum, immerfort blau, immerfort schimmernd … dort hinten, in weiter Ferne, betrachtete eine Art ausgestrecktes Tier sie beide ernst.

Jacques Silvert erfuhr nie, wie es ihm in diesem Moment fast göttlichen Glückes aufzustehen gelang. Als er wieder zu sich kam, stand er da und hatte nervös die Ferse auf den Schädel des großen Bären gestellt, der ihm als Bettvorleger diente. Er sah seinen verwirrten Blick in einem venezianischen Spiegel, und das Zimmer war sehr still. Hinter dem Vorhang fragte eine Stimme:

»Möchten Sie zu Abend essen, Mademoiselle?«

Jacques hätte geschworen, dass man erst eine Minute zuvor gefragt hatte: »Möchten Sie zu Mittag essen? …«

Er zog sich eilig an, befeuchtete seine Schläfen mit einem in Kosmetikessig getränkten Schwamm und stammelte:

»Wo ist sie? Ich will nicht, dass sie weggeht!«

»Ich bin hier, Jacques!«, kam die Antwort. »Ich habe dich nicht allein gelassen, denn du warst noch im Fieberwahn.«

Raoule erschien und lüftete die Vorhänge vor dem Badezimmer. Sie war immer noch sehr schlank, sehr schwarz. Ihre Finger schlossen in ihrem Nacken den Haken eines Colliers.

»Das ist nicht wahr!«, schrie Jacques bebend. »Ich war nicht im Fieberwahn. Ich habe nicht geträumt! Warum lügst du mich an?«

Raoule packte ihn an den Schultern und zwang ihn mit gebieterischem Druck nieder.

»Warum duzt Jacques Silvert mich? Habe ich ihm das gestattet?«

»Oh! Ich bin erledigt!«, wiederholte Jacques und versuchte sich wieder aufzurichten. »Man macht sich doch nicht so über einen Mann lustig, wenn er krank ist. Raoule! Ich werde Euch nicht mehr duzen … Raoule! Ich liebe dich! … Ach! Ich glaube, ich sterbe! …«

Wirr daherredend, außer sich, barg er sich in Raoules Armen.

»Ist es vorbei?«, fügte er weinend hinzu, »ist es ganz und gar vorbei?«

»Ich sage dir noch einmal, dass du … geträumt hast. Das ist alles.«

Und sie stieß ihn von sich, ging in Richtung Atelier, ohne noch etwas davon hören zu wollen.

»Mademoiselle, es ist angerichtet!«, erklärte Marie Silvert und verneigte sich, als könne dieses Mädchen nichts erstaunen. Raoule ging zum Tisch, auf dem ein dampfendes Gericht stand, und legte einen Stapel Goldstücke neben eine zusammengerollte Serviette.

»Das ist sein Gedeck, oder?«, fragte sie in sehr ruhigem Ton und sah Marie an, die keine Miene verzog.

»Ja, ich habe Sie einander gegenüber gesetzt.«

»Das ist gut«, erwiderte Raoule in ebenso gleichgültigem Ton, »ich wünsche Ihnen beiden den allerbesten Appetit!«

Und sie ging, während sie ihre Handschuhe wieder anzog, hinaus.

Monsieur Vénus

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