Читать книгу Monsieur Vénus - Rachilde - Страница 8

Kapitel II

Оглавление

Als sie in ihrem Coupé saß, ließ Raoule die beiden Fensterscheiben herunter und atmete lange die kühle Luft tief ein.

Eben noch, auf der Treppe Silverts, hatte es sie äußerste Willensanstrengung gekostet, nicht ohnmächtig zu werden. Ihr gesamter feinnerviger Körper spannte sich zu einem unglaublichen Krampf, einem gewaltigen Beben, dann kam mit der Unvermitteltheit eines Hirnschlags die Gegenreaktion, sie fühlte sich besser. Sie empfand diese Unbestimmtheit, einen seltsamen Effekt, der gut mit den letzten Zuckungen einer in voller Aktion gebrochenen Sprungfeder zu vergleichen ist; ein Zustand, in dem die Aktivität des Gehirns mit der Erschlaffung der Muskeln anzuwachsen schien.

Raoule rief sich Jacques Silvert vor Augen. Die Tochter aus dem Hause Vénérande, die ein flinkes Gespann im Galopp forttrug, kehrte in Gedanken zu dem Arbeiter in der Rue de la Lune zurück. Von dem Gefühl der Scham, das sie beim erneuten Übertreten der Mansardenschwelle empfunden hatte, war nichts mehr übrig. Was bedeutete schon die Abkunft dieses Mannes angesichts dessen, was sie aus ihm zu machen gedachte, die Hülle, der Balg, das handfeste Wesen, der Kerl genügte ihrem Traum.

Auf die konkreten Fakten reduziert, bot ihre Erinnerung nichts, was ihr Bewusstsein hätte wachrütteln können. Die Frau, die in ihr bebte, sah in Silvert lediglich ein schönes Lustinstrument, nach dem sie gierte und das sie, heimlich schon, in ihrer Vorstellung umschlang. Die Augen leicht geschlossen, den Mund halb geöffnet, den Kopf hingesunken auf die Schulter, die sich ab und an mit einem langen Seufzer der Erleichterung hob, wirkte sie wie ein von glühenden Liebkosungen köstlich ermattetes Geschöpf.

Weder schön noch im wahrsten Sinn des Wortes hübsch zu nennen war Raoule, groß, gut gebaut, mit biegsamem Hals. Sie besaß die zarte Gestalt eines echten Mädchens von Geblüt, schmale Handgelenke, den etwas hochmütig wogenden Gang, der unter der weiblichen Hülle das Katzenhafte erkennen ließ. Auf den ersten Blick hatte ihr harter Gesichtsausdruck nichts Einnehmendes. Die wunderbar geschwungenen Augenbrauen besaßen die ausgeprägte Neigung, sich in einer gebieterischen Falte beharrlicher Willenskraft zusammenzuziehen. Die schmalen, in den Mundwinkeln verschwimmenden Lippen brachten in unangenehmer Weise die reinen Konturen des Mundes zum Verschwinden. Ihr braunes, im Nacken zusammengerafftes Haar rahmte das perfekte Oval eines Gesichtes, das wie von jenem im Licht verblassenden italienischen Bister gefärbt war. Ihre tiefschwarzen Augen, die unter langen, gebogenen Wimpern metallisch glänzten, glichen Glutkohlen, wenn die Leidenschaft sie entzündete, in manchen Momenten wirkten sie wie zwei feurige Nadelstiche.

Raoule fuhr zusammen, unvermittelt aus der Verderbtheit glühender Gedanken gerissen; der Wagen kam im Hof des Hôtel de Vénérande zum Stehen.

»Du kommst spät, mein Kind«, sagte eine alte, ganz in Schwarz gekleidete Dame, die ihr die Freitreppe hinunter entgegenging.

»Finden Sie, liebe Tante? Wieviel Uhr ist es denn?«

»Na, bald schon acht. Du bist nicht umgekleidet, du hast sicher nicht zu Abend gegessen. Dabei holt Monsieur de Raittolbe dich doch ab, um dich heute Abend in die Oper auszuführen.«

»Ich gehe nicht, ich habe es mir anders überlegt.«

»Bist du krank?«

»Mein Gott, nein. Nur aufgewühlt. Ich habe gesehen, wie in der Rue de Rivoli ein Kind von einem Omnibus überfahren wurde. Zu Abend zu essen wäre mir jetzt wirklich nicht möglich … Warum müssen denn auf den Straßen dauernd diese Busunfälle passieren?«

Madame Ermengarde bekreuzigte sich.

»Ach, Tante, das habe ich ganz vergessen …! Kommen Sie mit. Geben Sie Anweisung, niemanden hereinzulassen, ich muss etwas mit Ihnen besprechen, das Ihnen besser gefallen wird: ein gutes Werk. Ich habe ein gutes Werk bei der Hand.«

Sie durchquerten gemeinsam die ausgedehnten Gemächer des Gebäudes.

Es gab Salons, die so düster wirkten, dass man sie nicht ohne eine gewisse Beklemmung betrat. Das alte Bauwerk besaß zwei zurückgesetzte Flügel, die von runden, dem Schloss von Versailles ähnelnden Treppen flankiert wurden. Die vielfach unterteilten Sprossenfenster reichten sämtlich bis aufs Parkett herab und ließen hinter leichten Musselinvorhängen und Gipürespitzen riesengroße schmiedeeiserne, mit eigentümlichen Arabesken verzierte Balkone sehen. Vor diesen Balkonen erstreckte sich, unterbrochen vom Gitter der Auffahrt, ein Mosaik aus überwiegend Pariser Pflanzen, diesen winterharten Gewächsen in neutralen Grüntönen, die so gleichmäßige Bordüren bildeten, dass selbst das geschulteste Auge sich nicht an einem einzigen hervortretenden Grashälmchen hätte stoßen können. Die grauen Mauern standen, wie es schien, gelangweilt nebeneinander, und doch hätte ein Zauberer, wollte er eine Betschwester verstören, den verwirrten Anwohnern der vornehmen Avenue mehr als eine Überraschung bereitet, hätte er sie hinter diese wappengeschmückten Fassaden blicken lassen. So hätten etwa das Schlafzimmer der Nichte im rechten und das der Tante im linken Flügel, wären sie plötzlich frei einsehbar, jeden Liebhaber bildlicher Gegensätze in Entzücken versetzt.

Raoules Schlafzimmer war mit rotem Damast ausgekleidet und rundum getäfelt mit von Seidenkordeln umfasstem Antillenholz. Eine Sammlung von Waffen jeglicher Art und aller möglichen Länder, die ihrer ausgesuchten Abmessungen wegen auch für eine Frauenhand geeignet waren, nahm das Zentrum der Täfelung ein. Die Decke mit gerundeten Simsen war mit alten Rokokomotiven auf blaugrünem Hintergrund bemalt.

In der Mitte hing ein Karlsruher Kristalllüster, eine Liliengirandole aus lanzettenförmigen Blättern, die in den Farben der Natur schillerten. Unter dem Lüster standen auf dem großen Nerzteppich eine Athénienne1 sowie ein ausladendes Bett aus geschnitztem Ebenholz voller Kissen, deren Kern und Federn mit einem orientalischen Parfüm getränkt waren, das duftend den gesamten Raum erfüllte.

Ein paar Bilder mit recht freizügigen Motiven hingen zwischen Spiegeln über der Flockseide an den Wänden. Gegenüber dem vollständig mit Papieren und geöffneten Briefen bedeckten Schreibtisch stand die Aktstudie eines Mannes, auf dessen Hüften nicht der geringste Schatten zu bemerken war. Eine Staffelei in einer Ecke und ein Klavier in der Nähe des Tisches vervollständigten diese weltliche Einrichtung.

Das Zimmer von Madame Ermengarde, Stiftsdame mehrerer Orden, war ganz in einem trübselig anzuschauenden Stahlgrau gehalten.

Das gut gebohnerte Parkett ohne Teppich ließ einem die Füße erstarren, und der ausgezehrte Christus, der an einem Kopfende ohne Kissen hing, blickte zu einer Zimmerdecke, deren Bemalung an die Nebel des Nordhimmels erinnerte.

Seit etwa zwanzig Jahren wohnte die Stiftsdame Ermengarde mit ihrer Nichte, die schon mit fünf Jahren Waise geworden war, im Hôtel de Vénérande. Jean de Vénérande, letzter Nachfahre seines Geschlechts, hatte, als er aus dieser Welt schied, den Wunsch geäußert, seine Schwester, deren Qualitäten ihm stets tiefe Hochachtung eingeflößt hatten, möge dieses aus dem Tod geborene Kind, das er nun zurückließ, erziehen. Ermengarde war damals eine vierzigjährige, tugendhafte und frömmlerische Jungfer, die durchs Leben schritt wie durch einen klösterlichen Kreuzgang, in ständiger Andacht versunken, während sie mit der Spitze ihres Zeigefingers das Kreuzzeichen beschrieb, das es erlaubt, die Schatzkammer der Gnadenakte voll auszuschöpfen, sich dabei aber, was bei einer Betschwester selten ist, kaum je um das Seelenheil ihrer Nachbarn kümmerte. Ihre Geschichte war einfach. Sie erzählte sie bei feierlichen Anlässen in jenem salbungsvollen Stil, den ein tief verwurzelter Mystizismus duldsamen Naturen verleiht. Sie hatte eine keusche Leidenschaft gehabt, eine gottgefällige Leidenschaft; sie hatte in aller Treuherzigkeit einen armen Schwindsüchtigen geliebt, den Grafen von Moréas2, einen Mann, der jeden Morgen dem Tode nahe schien. Vielleicht hatte sie eine Vorahnung ehelichen Glücks und mütterlicher Freuden besessen, doch eine unauslöschliche Katastrophe hatte all das im letzten Moment zerstört: Der Graf von Moréas war, versehen mit den kirchlichen Sakramenten, heimgegangen zu seinen Vorfahren. In der Verzweiflung ihres Schmerzes zerpflückte die Verlobte nicht die Hochzeitsrosen, zerriss nicht den weißen Schleier; am Fuße des Erlöserkreuzes fand sie einen unsterblichen Gatten. Ihr sanfter Glaube verlangte nichts weiter! … Die Klostertüren wollten sich gerade für sie öffnen, als der Tod Jean de Vénérande ereilte. Stiftsdame Ermengarde brachte ihr Herz zum Schweigen und widmete sich fortan der Vormundschaft Raoules.

In dieser Phase hätte ein vorausschauender Erzieher in dem Kind bereits den lebendigen Keim sämtlicher Leidenschaften angelegt gesehen. Ebenso furchtlos wie eigensinnig, fügte sie sich niemals ohne kaltblütige Einwände, was die züchtende Rute wie von selbst auf sie niedergehen ließ. Mit erschreckendem Starrsinn verfolgte sie die Erfüllung einer Laune und bezauberte die Lehrerinnen mit hellsichtigen Erklärungen ihrer Tollheiten. Ihr Vater war einer jener ermatteten Wüstlinge gewesen, die von den Werken des Marquis de Sade rot werden, allerdings nicht aus Scham.

Ihre Mutter, eine temperamentvolle Provinzlerin mit überaus robuster Konstitution, hatte ganz natürliche und feurige Gelüste besessen. Sie war bald nach Raoules Geburt an einem Blutsturz gestorben. Vielleicht war ihr Mann ihr auch als Opfer eines selbst herbeigeführten Unfalls ins Grab gefolgt, denn einer seiner langjährigen Diener erzählte, sein Herr habe sich im Sterben des vorzeitigen Endes seiner Frau beschuldigt.

Der Stiftsdame Ermengarde war das weltliche Leben der Menschen fremd, und so bemühte sie sich, bei Raoule besonders die mystischen Neigungen zu fördern; sie ließ sie ihre Einwände vorbringen, erzählte ihr häufig in äußerst gewählten Begriffen von ihrer Verachtung für die verderbte Menschheit und sorgte dafür, dass sie in völliger Abgeschiedenheit fünfzehn Jahre alt wurde.

Die Stunde des sinnlichen Erwachens mochte direkt am Ohr ihrer Nichte schlagen, Tante Ermengarde, die Stiftsdame, wollte sich nicht vorstellen, dass zwischen ihrem Gutenacht- und ihrem Morgenkuss Platz blieb für das heimliche Brennen, das eine Jungfrau niemals eingesteht.

Eines Tages, als Raoule durch die Mansardenzimmer des Hauses streifte, entdeckte sie ein Buch; sie las aufs Geratewohl darin. Beim Anblick einer Radierung schlug sie die Augen nieder, doch sie nahm das Buch an sich … Ungefähr zu dieser Zeit vollzog sich in dem jungen Mädchen ein Wandel. Ihre Züge veränderten sich, sie war kurz angebunden, warf fiebrige Blicke um sich, weinte und lachte zugleich. Stiftsdame Ermengarde war beunruhigt, befürchtete eine ernste Krankheit und rief die Ärzte herbei. Ihre Nichte weigerte sich, sie zu empfangen. Einer jedoch, von sehr eleganter Erscheinung, geistreich und jung, war geschickt genug, sich bei der kapriziösen Kranken Zutritt zu verschaffen. Sie bat ihn wiederzukommen, allerdings trat keine Besserung ihres Zustandes ein.

Ermengarde wandte sich an die Weisheit ihrer Beichtväter. Man empfahl ihr das einzig wahre Mittel:

»Verheiratet Sie«, war die Antwort.

Raoule bekam einen Wutanfall, als ihre Tante das Thema Heirat zur Sprache brachte.

Am Abend jenes Tages, beim Tee, sagte der junge Arzt, der in einer Fensternische mit einem alten Freund des Hauses plauderte, auf Raoule deutend:

»Ein besonderer Fall, mein Herr. Noch ein paar Jahre, und dieses hübsche Geschöpf, das Sie meiner Meinung nach zu sehr mögen, wird, ohne sie je zu lieben, ebenso viele Männer kennengelernt haben, wie der Rosenkranz ihrer Tante Perlen für das Pater und das Ave enthält. Nonne oder Monster, nichts dazwischen! Der Schoß Gottes oder jener der Wollust! Es wäre vielleicht besser, sie in einem Kloster wegzuschließen, so wie wir es mit den Hysterikerinnen in der Salpêtrière3 tun! Sie kennt das Laster nicht, aber sie erfindet es!«

Das hatte sich zehn Jahre vor dem Beginn dieser Geschichte zugetragen … und Raoule war keine Nonne …

In der Woche nach ihrem Besuch bei Silvert ging Mademoiselle de Vénérande häufig aus, mit keinem anderen Ziel, als einen auf dem Rückweg von der Rue de la Lune ausgeheckten Plan zu verwirklichen. Sie hatte sich ihrer Tante anvertraut, und diese hatte, nach einigen schüchternen Einwänden, wie immer den Himmel um Rat gefragt. Raoule hatte ihr detailliert die Not des Künstlers beschrieben. Wer empfinde nicht Mitleid beim Anblick von Jacques’ Absteige! Wie könne er dort nur arbeiten, mit seiner fast siechen Schwester? Also hatte Ermengarde versprochen, die beiden der Gemeinschaft von St. Vinzenz von Paul anzuempfehlen und ebenso ausgewiesene wie hilfswillige Wohltätigkeitsdamen vorbeizuschicken.

»Öffnen wir unseren Geldbeutel, liebe Tante«, hatte Raoule ausgerufen, von ihrer eigenen Kühnheit erhitzt. »Geben wir ein königliches Almosen, doch geben wir es in Würde! Versetzen wir diesen Maler, der Talent hat (hier umflog Raoule ein Lächeln), in ein wahrhaftes Künstlermilieu. Möge er sein Brot verdienen können ohne die Scham, dafür auf uns angewiesen zu sein. Sichern wir ihm schon jetzt die Zukunft. Wer weiß, ob er es uns nicht später hundertfach vergelten wird!«

Raoule sprach voller Wärme.

»Meine Nichte«, sagte Tante Ermengarde bei sich, »muss wohl recht schöne Anlagen bei diesen Unglücklichen entdeckt haben, dass sie sich zu einer derartigen Lebhaftigkeit herbeilässt … sie, die sonst so kühl ist. Vielleicht liegt hierin das Mittel, sie auf den Weg der Frömmigkeit zu bringen! …«

Denn Tante Ermengarde wusste durchaus, dass es ihrem Neffen, wie sie Raoule häufig nannte, wenn diese ihre Fecht- oder Malstunden nahm, so völlig an dem Glauben fehlte, der zu heiligen Bestimmungen führt. Nur hatte die Stiftsdame ihrerseits eine zu weltläufige, zu aristokratische Gesinnung, sie besaß zu viel Adelsstolz, um auch nur eine Sekunde an der körperlichen und moralischen Lauterkeit ihrer Nachkommin zu zweifeln. Eine Vénérande konnte nur Jungfrau sein. Man berichtete von Abkömmlingen der Vénérandes, die diese Eigenschaft mehrere Honigmonde hindurch bewahrt hatten. Diese Art von Adel, wiewohl nicht erblich in der Familie, nahm daher die junge Frau vollständig in die Pflicht.

»Ab morgen«, hatte Raoule abschließend gesagt, »durchkämme ich Paris, um ein Atelier zu besorgen. Wir lassen die Möbel nachts aufstellen; es muss nicht sein, dass man über uns redet, die geringste Zurschaustellung wäre ein Verbrechen, und Dienstag, wenn er mir meine Balltoilette bringt, ist alles fertig … Ach! Für solche Gelegenheiten, meine Tante, ist unser Vermögen doch eine Hilfe …«

»Ich überlasse dir, mein Liebes, den himmlischen Ertrag deiner Barmherzigkeit!«, erklärte Tante Ermengarde. »Spare an nichts: So viel du auf Erden säst, so viel wirst du dort oben ernten.«

»Amen!«, gab Raoule zurück – und hochmütig warf sie der entzückten Stiftsdame den Blick eines bösen Engels zu.

Acht Tage später hatte Mademoiselle de Vénérande, die Schöne, die in ihrem Kostüm einer Wassernymphe von außerordentlich origineller Schönheit war, auf dem Ball der Herzogin von Armonville einen sensationellen Auftritt. Der Journalist Flavien X…, der gerade sehr in Mode war, ließ über das merkwürdige Kostüm diskret ein paar Worte fallen, und Raoule, die sonst keine engen Freundinnen hatte, wurde an besagtem Abend gleich mehrerer gewahr, die sie anflehten, ihnen die Anschrift ihrer geschickten Blumenmacherin zu verraten.

Raoule verweigerte es.

Monsieur Vénus

Подняться наверх