Читать книгу Stunden aus Blei - Radka Denemarkova - Страница 6

Prolog Pilger und Reisende überall unter dem Himmel

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Der Reisebericht erscheint gestutzt, kastriert. Die Schriftstellerin beschleicht das unheilvolle Gefühl, sie hätte ihn mit zusammengebundenen Händen geschrieben. Mit Bleigewicht ums Handgelenk. Sie hat über Landschaften und Berge geschrieben, über die tausendjährige Kultur, die Sommerpaläste und Lyrik des alten China, über eierschalendünnes Porzellan, schwungvolle Weitläufigkeit und beschwerliche Schönheit, atemberaubend bis zum Ersticken. Sie hat über buddhistische Tempel geschrieben; das Ziel sei Nirwana, Verwehen von jedem Wunsch und jeder Neuschöpfungslust, selige Nichtswerdung; jede Gewalt wühle den Weltenspiegel auf und verunreinige das Karma. Sie hat über ausufernde Städte und chinesische Gärten geschrieben, über chinesische Küche, chinesische Kalligraphie und über das Feine und das Flirrende, es war witzig und kurzweilig, mit Fotos und praktischen Miniratschlägen gespickt, eine Belanglosigkeit nach der anderen. Haben Sie zu Ende gegessen, geben Sie bitte der Bedienung Bescheid, indem Sie beide Stäbchen nebeneinanderlegen, quer über den Schalenrand. Trinken Sie in Gesellschaft, ist es höflich, den anderen nachzuschenken, sobald ihre Schalen leer sind. Wird Ihnen Tee eingeschenkt, klopfen Sie zum Zeichen des Dankes leicht mit Mittel- und Zeigefinger auf den Tisch. Bedenken Sie beim Besuch der Stadt Lhasa die Höhenkrankheit; manche Hotels stellen Sauerstoffgeräte zur Verfügung.

Ein Zeitalter der Abenteurer und Reisenden bricht an. Sie werden die Welt wiederentdecken, mit eigenen Ohren und Augen, mit eigener Seele, ohne Fremdes nachzuplappern und Halbwahrheiten zu verbreiten. Ohne sich auf den trügerischen ersten Eindruck zu verlassen. In China ist alles anders, als es der erste Blick suggeriert. Da ist ein pingeliger zweiter Blick vonnöten und ein dritter und vierter, ein Blick tief unter die Oberfläche. Steht dort das Zeichen hun für eine Seele, die außerhalb des Körpers existiert? Steht dort das Zeichen po für eine Seele, die zeitgleich mit dem Körper stirbt? Bitte beim vierten Blick nicht abwenden. China besteht nicht nur aus modernen Großstädten wie Peking, Shanghai, nicht nur aus Provinzen wie Kanton. China sind mehrere Länder in einem. Jede Provinz verfügt über ein eigenes Zentrum und eine eigene Peripherie mit miserablen Verkehrswegen, rückständigen und ärmlichen Landregionen und korrumpierten Potentaten; Armut und Reichtum lassen sich nicht verbergen.

Im neunzehnten Jahrhundert schwand Pekings Einfluss in Tibet dahin. Nur ein symbolischer Abglanz der einstigen Macht blieb übrig. Nach dem Sturz des Kaiserreichs 1912 agierte Tibet bis zur kommunistischen Invasion von 1950–1951 als ein unabhängiger Staat. Keine kommunistische Regierung will Tibet Unabhängigkeit schenken. Die kommunistischen Machthaber sind nicht einmal gewillt, sich mit dem Dalai Lama, dem geistigen Führer Tibets, auf Autonomie zu einigen. Das Gebiet ist groß, und die Chinesen haben sich eingeredet, es gehöre zum historischen China. Menschen aus Wohlstandsländern reisen gerne nach Tibet. Und berichten in den sozialen Netzwerken, was sie dort aßen und was sie dazu tranken, was sie besuchten und wo sie badeten, welche Berge sie bezwangen und in welchen Betten sie schliefen. Seltsamerweise essen und besuchen sie alle dasselbe; die Welt gleicht einer fröhlichen Wanderung durch einen Wust selbstbezüglicher Informationen. Das bestätigt die Reisenden darin, dass die Welt so aussieht, wie es im Reiseführer steht.

Alles andere würde sie beunruhigen.

1989 bekam der Dalai Lama den Friedensnobelpreis. Seitdem ist Tibet so populär wie nie. Die Stadt Dharamsala, besser gesagt McLeod Ganj, der indische Bergort, wo Seine Heiligkeit lebt, wurde zum Pilgerort für glücksuchende Idealisten; ein Pilgerort des Happy-Mind-Tourismus. Europäer und Amerikaner lassen an diesem Ort ihren Hass und Ärger los, ihre Furcht und Wut. Mögen alle glücklich sein, sagt ein tibetischer Spruch. Alles Tibetische – Buddhismus, Medizin, Kunst – wird im Westen als heilig empfunden; es verkauft sich gut. Mit der chinesischen Okkupation setzt sich niemand auseinander, niemand glaubt an die Rückkehr des Dalai Lama.

Anfangs ein Opfer der chinesischen Aggression. Heute ein Opfer des Neoliberalismus und der Touristen. Die erwarten nichts als tibetische Friedensliebe und Religiosität, Wandern mit Yaks, Meditationen auf Berggipfeln und Buttertee. Der Westen fördert großzügig alles, dem das Adjektiv tibetisch voransteht, insbesondere was Mönche, Künstler, Mystik und Heilpraktiken anbelangt. Aber es gibt keine Bereitschaft, die Tibeter in ihrem Befreiungskampf zu unterstützen. Der Westen möchte keine Mönche unterstützen, von denen sich jedes Jahr welche aus Protest gegen die chinesische Okkupation bei lebendigem Leib verbrennen.

Für den Westen ist Selbstverbrennung keine Option.

China ist Lächeln und Geduld.

Diese Teile des Manuskripts wurden von der unsichtbaren Hand des Lektorats und Marktes rot markiert. Und später gelöscht. Interessanterweise mussten auch Zitate von Konfuzius dran glauben. Erschien uns besser so, hieß es süßlich säuselnd.

Die Schriftstellerin weiß nicht, was sie mit dem zweiten, dritten und vierten Text anfangen soll. Mit der brutalen Unruhe der Satzgefüge und der Figuren; alle verdienen eine eigene Stimme. Belangloses, kleinste Begebenheiten, aneinandergehängte Gedanken; Gespräche, Gespräche; Briefe und noch mehr Briefe.

Das chinesische Tagebuch.

Übereinanderliegende Erdschichten schieben sich durch Jahrhunderte. Wer nicht weiß, an welche Stelle er den Fuß setzen soll, schlittert in einen tückischen Spalt hinein. Verschwindet für immer in dem unauffälligen Riss. Hat nie existiert.

China legt Charaktere frei. China legt Beziehungen frei, den Kern. Eintauchen in den menschlichen Ozean gleicht einer Reinigung; der Grundton bleibt. Die Schriftstellerin nimmt Abschied vom alten Europa. Von ihren Idealen. Europa ist ein Ameisenhaufen. Die Ameisen stinken nach klebriger Angst, schichten ständig ihren Besitz um und ziehen Mauern hoch. Das hilft nicht. China kauft sich die Welt. Totale Marktwirtschaft gegen freie Marktwirtschaft, und Meister Chronos spricht:

Alle Menschen sagen: »Ich weiß!« Dann schlittern sie in eine Falle oder ins Netz, und auf einmal wissen sie nicht, wie sie sich befreien sollen.

Alle Menschen sagen: »Ich weiß!« Dann wählen sie Maß und Mitte und können nicht einmal einen Monat lang daran festhalten.

Die Hölle, die du nicht ändern kannst. Die Hölle, in der du allen wiederbegegnest. Der Mensch dem Menschen ein Wolf. Der Bruder dem Bruder ein Basilisk. Alle Länder auf unserem Planeten werden in regelmäßigen Zyklen zur Farm der Tiere.

Die Schriftstellerin schmeißt die Belegexemplare des Reiseberichteunuchen in den Altpapiercontainer. Die Uhr zeigt die Zeit an. Sie greift nach Tusche, Kalligraphiepinsel und Papier. Sie wird das Buch über ihr China malen; nicht der Mensch reibt die Tusche an, es ist die Tusche, die den Menschen anreibt.

Sie wird im Unterbewusstsein von China keschern.

Also auch im Unterbewusstsein ihres Landes.

Vielleicht sieht sie alles falsch.

Und das wäre noch das Beste.


Die Blauelster (Cyanopica cyana) flattert kreischend in den Parkanlagen von Peking und in den umliegenden Wäldern von Baum zu Baum. Ein Schwarmvogel. Mit schwarzem Kopf und langen blauen Schwanzfedern, mit denen sie beim Fliegen steuert. Beim Landen werden sie gespreizt wie ein Fächer aus verkümmerten pastellfarbenen Pfauenfedern.

Knatternde Rasselstimme.

Als hätte sie rostige Stangen in der Kehle, wundscheuernden Stacheldraht. Sobald der Draht die zarte Haut berührt, schrillt die Blauelster im Falsett wie ein zukünftiger Eunuch bei der Kastration.

Sie behält ihr Revier im Blick. Ihr Geschrei ist schneidend. Für alles, was ihr zu sehen bestimmt war, bestimmt ist und sein wird, zahlt sie mit dem Augenlicht. Es gibt das Leben, und es gibt den Tod.

Und es gibt das Nichtleben.

Dabei ist sie keineswegs sentimental, weder egoistisch noch elitär. Sie versteht die Welt nicht als das Nonplusultra, deutet auch die menschlichen Charaktere am liebsten nur positiv. Als Ideale, die der Bequemlichkeit entspringen und den Gottheiten von Wasser, Erde und Himmel den Blick auf echte Menschennatur versperren.

In Peking hat sich die schwarze Krähe eingenistet und verbreitet. Sie ist blind; sie wurde einer Gehirnwäsche mit vollkommen richtigen und vollkommen widersprüchlichen Antworten unterzogen.

Der Krieg zwischen der schwarzen Krähe und der Blauelster ist bereits im Gange. China ist ein Konzentrationslager mit undurchlässigen Grenzen. China ist ein blühender Garten. Das ist kein Widerspruch. Es sind zwei gegensätzliche Meinungen, die beide freudige Zustimmung auslösen.


Das Zentrum von Peking ist verstopft, staubbedeckt. Die stickige Mitternacht legt sich faul über die Straßen. Die Autos schwitzen, hupen um Hilfe; sie verkünden eine Hetzjagd, und Meister Chronos sagt: Der Weg flieht den Menschen nicht. Entscheidet sich einer für einen Weg, der ihn flieht, ist es nicht der richtige Weg.

Die Zündschnur brennt, und die Uhr zeigt die Zeit an.

Sie rotten sich entlang der langen chinesischen Mauern zusammen. Im scharfen Schein der Neonlichter hocken Gestalten zu Füßen der Häuser. Mit gekrümmten Rücken über Tische auf der Straße gebeugt sitzen sie auf wackeligen Plastik- und Bambusstühlchen. Wirbeln die Stäbchen durch die Luft. Gierig füttern sie den Körper, als wäre es nicht die letzte Mahlzeit am Tag, sondern die letzte im Leben.

Oben am Himmel wird die Stadt von Lichtstrahlen umliegender Wolkenkratzer eingekreist. Die Wolkenkratzer beäugen sich voller Hass. Die Gestalten fischen Happen aus benachbarten Schalen, von Tellern, Tabletts. Die Schriftstellerin sieht in schweißglänzende Gesichter. Die Blicke weichen nicht aus, die Münder kauen weiter. Eine Frau greift in einen dampfenden grünen Haufen. Sie schiebt sich eine gekochte, mit Salz bestreute Bambusschote in den Mund. Zieht sie zwischen den Zähnen langsam heraus, saugt. Salziger Saft tropft ihr übers Kinn. Die leere Hülle landet auf dem Boden vor staubigen Zehen in schwarzen Sandalen. Die Schriftstellerin hat keine Ahnung, was diese Leute denken; hier weiß man genau, was gesagt werden darf. Worüber man nicht spricht. Es gibt Wörter, die es nicht in Sätze schaffen. Es gibt Gedanken, die nie in den Genuss der menschlichen Stimme kommen. Die Symbolwerte und Formeln aus dem Großen Lernen und dem Buch von Maß und Mitte haben in China nie an Wirkung verloren. Der Lesekundige kostet sie aus wie den Saft einer Bambusschote. Er hat sie so verinnerlicht, dass er sein Leben lang von ihnen zehrt. Ohne sie je ganz ausgesaugt zu haben.

Nachts verweigert sich der Schlaf. Der nackte verschwitzte Körper wälzt sich auf zerknittertem Bettlaken. Im Kopf wälzen sich Steine. Die Schriftstellerin wählt für ihren mehrstündigen nächtlichen Fußmarsch immer dieselbe Strecke. In schnellem Tempo läuft sie viermal vier Kilometer.

Jeder hat seine Rituale. In der Nähe des U-Bahn-Eingangs, an einem verwaisten Baum lebt ein Mann unter freiem Himmel. Ein Mann vom Land. Läuft die Schriftstellerin nachts an ihm vorbei, winkt Meister Chronos ihr zu. Sein Körper schlängelt sich um den aufrechten Baumstamm. Der Arm schüttelt die vor Kälte starren Finger. Der Baum ist in einem Quadrat Erde einbetoniert. Der Mann trägt ein abgewetztes Jackett, aus der Tasche ragen schmutzige, mit bröckeligem Schlamm bedeckte Stäbchen. Nachts lockert er mit ihnen den Boden auf. Nimmt eine Handvoll der kostbaren Erde, in die der Baum gepflanzt wurde. Reibt sie zwischen den Fingern, rührt sie feierlich in der hohlen Hand um und isst. Zwischendurch zieht er den Schnodder hoch; Schleimhautbefeuchtung. Gelingt es ihm, einen lebenden Spatzen zu fangen, beißt er ihm den Kopf ab und spuckt ihn aus.

Das ist seine Lieblingsnummer. Die nächtlichen Passanten lachen. Sie werfen dem blutigen Flaum spuckenden Mann klirrende Münzen vor die Füße.

Die Schriftstellerin und ihr Pekinger Freund laufen an einem Gebäude vorbei, das einer riesigen Zigarre oder einem erigierten Glied ähnelt. Das benachbarte Haus hinter der Ecke erinnert an Prag; verglichen mit dem robusten Bau sind die Plattenbauten Prags kleine Pappschachteln für kaputte Püppchen. Kreischt eine schwarze Krähe vor dem Haus, stellt sich bald Besuch ein. Am Eingang stehen sich drei Männer in grauem Anzug und weißem Hemd die Beine in den Bauch. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem dem Freund.

Der Freund tut, als sähe er die grauen Anzüge nicht.

Sie treten durch die große Glastür. Die grauen Anzüge pressen ihre neugierigen Schnüffelnasen ans schmuddelige Glas.

Die Schriftstellerin und der Freund fahren in den neunundachtzigsten Stock. Essensgerüche wabern in den engen Fluren des dunstigen Labyrinths; sie steigen von der Straße, aus den offenen Grills und Garöfen, im Fahrstuhl mit hinauf. Der Freund klopft leise an eine Tür ohne Nummer. Die Knöchel der geknickten Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand stürmen eine dunkle Festung. Der Waldspecht klopft das Losungswort in die Baumrinde. Tippt Morsezeichen auf der Schreibmaschine. Morsen die Chinesen auch, verehrter Herr?

Zwei Körper schieben sich vorsichtig durch den Türspalt, als wären sie gerade im Entstehen. Ziehen leise die Tür hinter sich zu. Die Wände haben Ohren. Die Wände triefen vor Vorsicht, die der Freund geflissentlich ignoriert. Der Freund kennt keine Vorsicht, sachlich und energisch wie er ist. Er lässt sich von der Welt verzaubern, nicht schwächen. Analysiert das Geschehen besonnen und verblüffend einfühlsam. Anders handeln kann er nicht. Er ist sich sicher, dass ihm nichts passiert. Dass ihm ein von den antiken Göttern vorbestimmtes Leben nichts anhaben kann, weil er schon immer ein selbstbestimmtes Leben geführt hat, und das wird er weiterhin tun, weil er an sich glaubt und das Schlimmste bereits erfahren hat. Er hält einen seltsamen Abstand zwischen sich und der Welt; das macht ihn stark. Durch den selbstrettenden, schützenden Abstand bleibt er »bei sich«. Der Weg des Edlen liegt fast verschwenderisch offen und dabei im Verborgenen.

Der Schriftstellerin fehlt eine Schutzhaut. Sie fühlt sich in die Menschen hinein, nimmt ihr Leiden beidhändig auf, rührt es ohne Stäbchen um und schluckt es hinunter, bemüht sich um Linderung. Und merkt nicht, dass sie die Last auf dem eigenen Rücken trägt; fremde, ihr hingeworfene Emotionen schwächen sie. Die eigene Seele für die anderen aushauchen.

Vor ihnen steht das schrumpelig gewordene Abbild eines einstigen Selbst. Die Schriftstellerin unterdrückt den Wunsch, die Hand nach dem Körper auszustrecken; als wollte sie ein dahinsiechendes Kind streicheln, das heroisch eine fiebrige Krankheit überstanden hat. Der Anwalt. Dickköpfiger Vertreter von Mücken, die dieses köstliche Land mit ihrem Sirren plagen.

Die Autokolonnen unter den Fenstern hupen warnend; sie verkünden eine Hetzjagd.

Der Anwalt hat es gewagt, seine Meinung zu äußern. Hier äußert man keine eigene Meinung. Es gelten die Kollektivmeinung und die Regeln des kaiserlichen Hofs; ein Polizeistaat ist der Feind des Rechtsstaates und ein Herrscher stützt sich auf seine Armee und seine Beamten und Denunzianten. Der Anwalt spricht mit seinen Gästen über Wirtschaft und über Zahlen, Prozente, Erträge, Abschreibungen, Umsätze und ökonomisches Wachstum. Rettungsnetz Plauderei. Eine Konversation so heftig wie ein Smalltalk über Essen oder das Wetter.

Neun Monate lang wurde er verhört. Und jetzt überraschend frei gelassen. Die nächsten vier Jahre darf er sich keinen einzigen Fehltritt leisten. Null Fehler machen. An seinem linken Handgelenk prangt ein hübsches Schmuckstück. Es sind zwei Welten, in denen er lebt.

Die Schriftstellerin beugt sich vor und kneift die gelben Katzenaugen zusammen. Untersucht das Schmuckstück von nahem. Massives Metallarmband. Mit einer diamantenharten Erhöhung. Ohne Ziffernblatt. Es ist keine Armbanduhr. Sondern der Armreif eines Elitehäftlings. Wächter und Denunziant der modernen Zeit. Das rote Auge blinkt in regelmäßigen Abständen verwegen auf, der Blutfaden pulsiert. Es kennt keinen Schlaf, keine Müdigkeit. Sieht alles. Hört alles. Leistet seinem Gefangenen Gesellschaft unter der Dusche, im Bett, auf der Toilette; wird gemeinsam mit ihm jeden Bissen zwischen den Zähnen zermalmen und hinunterschlucken, mit ihm masturbieren und den Darm entleeren, wird in seine Gedanken kriechen, sie beherrschen, lesen und interpretieren. Ganze vier Jahre lang.

»Da dreht man doch durch«, sagt die Schriftstellerin zum Freund.

»Gut möglich«, sagt der Freund. »Davon gehen die aus.«

Im hiesigen unbegreiflichen, staatsbildend pragmatischen Denken und Handeln hört jeder den anderen ab. Im Land der Schriftstellerin hörte die kommunistische Staatssicherheit nur die Unumerziehbaren ab. Installierte Wanzen in ihren Wohnungen, zapfte ihre Telefone an. Die Unumerziehbaren drehten in ihren verwanzten Privatwohnungen das Radio auf, das Grammophon, den Fernseher, im Bad den Wasserhahn. Um auf dem Wannenrand sitzen und ungestört reden zu können.

Größte Angst macht ihr die beschädigte Privatsphäre.

Das Buch von Maß und Mitte ist eine Gedankensammlung, die in Konfuzius’ Schule von einem Schüler an den anderen weitergereicht wurde. Der Anwalt war ein Musterschüler. Jetzt ist er abgemagert, die Wangen eingefallen. Der Anwalt und der Freund sehen aus wie zwei Menschen, die ihr Leben selbst gewählt haben.

Solche Menschen sind der Schriftstellerin immer etwas unheimlich.

Sie sitzen aufrecht auf dem roten Sofa wie frühreife Kinder und Brüder. Ihre Wahrhaftigkeit, an der sie täglich arbeiten müssen, besteht aus Selbstkontrolle, Selbstfürsorge und Selbstvervollkommnung. Daraus folgt: Hat ein edler Mensch einen großen Weg angetreten, braucht er Anstand und Zuverlässigkeit, um auf ihm zu bleiben; durch Stolz und Überheblichkeit verliert er ihn. Im Moment jonglieren die beiden Banalitäten in der Luft; Wörter, die sich an den Armreif am Gelenk des Anwalts richten. Dass sie diskriminiert werden, stört sie nicht, und ihr Handeln erwächst nicht aus theoretischer Überzeugung; das wäre für sie keine Motivation. Es ist die pure Selbstverständlichkeit. Ein Stück Schicksal und ein Stück Erfahrung, Folge ihrer eigenen Wahl.

Die Schriftstellerin blickt die beiden unverwandt an. Vielleicht bekommt sie eine Antwort auf ihre Frage, warum der Mensch eigentlich nach verantwortungsvollem Leben strebt.

Der Armreif wiegt schwer. Der Anwalt steht auf und überbrüht Teeblätter. Dabei unterstützt er das linke Handgelenk; das bleierne Gewicht droht seine Schulter zu verrenken. Er schaukelt das Bleibaby auf dem Arm.

Mit seiner Rechten stützt er das linke Handgelenk, oder er lehnt es an den Rand der Tischplatte, als wäre es gebrochen und gegipst. Nie berührt es sein Knie. Der Armreif widert ihn an, er hält Abstand zwischen ihm und seinem Körper. Der Anwalt zeigt guten Willen, aber es zehrt an ihm, es zehrt an ihm und zehrt ihn aus. Er will den Wächter möglichst weit entfernt wissen.

Der Wächter ist sein Körper.

Die rechte Hand des Anwalts ist gepflegt; die Finger eingecremt, die Nägel geschnitten und poliert.

Die Hand im Armreif gehört ihm nicht; die Kneifschere wird ignoriert. Der entfremdete Körperteil lebt ein Leben im Abseits, Eigentum des Eindringlings; die ganze Hand ein Störenfried. Die Fingernägel werden nicht geschnitten; sie krümmen sich schon. Darunter festsitzender, tintenschwarzer Dreck, Ablagerungen wie aus Teer. Die dreckige Hand darf die saubere nicht berühren. Die Haut ist trocken, sie schuppt.

Schuppenflechte namens Angst.

Die Schriftstellerin beäugt die Manschette aus Blei. Das Schicksal aller Philosophen, Schriftsteller und Ketzer, die Verstörung bringen. Vielleicht auch das der Anwälte. Ob sich im Land der Schriftstellerin jemand fürs Jurastudium entscheiden würde, wenn ihm ein solches Schicksal winkte? In ihrem Land ist jeder Hinz und Kunz ein Rechtsexperte. Die Rechtsprechung ist einfacher geworden. Ein Jurist studiert das Gesetz, damit er es besser umgehen kann. Die Herrschaft der Juristen hängt nicht mit der Herrschaft des Gesetzes zusammen, und das Recht wird von demjenigen verteidigt, dem Gewinn winkt.

Worte, die für die gespitzten Ohren des Armreifs gesendet werden; über das Wirtschaftswachstum, das Wetter und die Schönheiten von Peking. Die Schriftstellerin verlässt die Wortautobahn. Biegt in eine dunkle Sackgasse ab.

»Sie sind im gleichen Jahr geboren wie ich.«

»1968. Ein seltsames Jahr.«

»Mein Vater war immer gerührt, wenn er von der Zeit sprach. Sind Sie in Peking geboren?«

»Nein.«

»Wo denn?«

»Ich mag Peking.«

»Aber wo sind Sie geboren?«

»Peking ist ein Juwel.«

»Ist Ihr Vater auch Anwalt?«

»Nein.«

»Und wo sind Sie geboren?«

Der Freund verpasst der Schriftstellerin einen kräftigen Tritt unter dem Tisch, sie solle nicht fragen, nicht provozieren, er sei in Wuxuan geboren. Der Anwalt erzählt von seiner Mutter; sie konnte weder lesen noch schreiben. Er spricht von den Fischer-Onkeln, die ihn großgezogen haben. Von zahmen, fischenden Kormoranen; als Kind habe er ihnen in der Dämmerung zugeschaut. Ein Kormoran taucht nach Fischen und bringt den Fang gehorsam zu seinem menschlichen Besitzer an Deck. Der Anwalt spricht davon, dass er damals studieren wollte, und von seiner Einsamkeit. Aber man habe ja immer sich selbst, auf sich selbst könne man sich stützen.

Bloß dürfe man kein zu weiches Herz haben.

»Also war Ihr Vater auch Anwalt.«

Die Schriftstellerin erntet einen frischen Tritt in die nackte Wade. Die Wohnung ist peinlich sauber. Nichts Überflüssiges, nichts Persönliches. Keine Familienfotos, Einrichtungsgegenstände, Bilder, Bücher, Andenken. Er lebt in einer Zelle. An der Wand hängt das Plakat der chinesischen Schauspielerin Tang Wei. Der Freund verlässt das Englische, spricht nun Chinesisch. Das rote Armreifauge blinkt alarmierend, das Herz trommelt, die Blutfäden fließen zusammen. Die Schriftstellerin unterdrückt den Wunsch, dem blutunterlaufenen Auge einen Wollschal umzuwickeln, es mit einem schneeweißen Verband oder Geschirrtuch zu verdecken, ihm ein wasserdichtes Pflaster aufzukleben. Das Auge mit einem Taschenmesser herauszupulen. Mit Zahnstochern auszukratzen. Mit einem Holzspieß zu durchbohren.

Der Anwalt reißt einen rosa Zettel von einem akkurat zurechtgeschnittenen Stapel ab. Seine unabhängige Hand greift nach einem Bleistiftstummel mit IKEA-Aufschrift. Das gesprochene Wort hat keine Bedeutung; es spült die Zeit hinunter, lenkt die Aufmerksamkeit vom Bleistift ab. Eine Theatervorstellung für das Publikum im Armreif; vorhersehbare, allgemein verständliche Rollenverteilung wie in der Peking-Oper. Der Anwalt begießt das rosige Küchlein mit neuer Glasur; schwarzes Gekritzel. Der Zettel rutscht, und die Schriftstellerin hält ihn mit Daumen und Zeigefinger am oberen Ende fest.

Die gepflegte Hand schreibt Wörter. Geschriebenes Wort heißt Leben.

Die Schriftstellerin sieht der freien Anwaltshand fasziniert zu. Die Hand malt chinesische Zeichen. Die einzige Möglichkeit, dem Freund mitzuteilen, was der Kopf denkt. Die einzige Möglichkeit mitzuteilen, bis wohin die Angst reicht. Die freie, gepflegte Hand stolpert. Der Holzstummel purzelt unter den Tisch. Die Schriftstellerin bückt sich danach. Hebt ihn auf und stößt mit dem Nacken gegen die geschliffene Tischkante.

Über der Kloschüssel liest der Freund die Zeichen. Prägt sie sich ein. Zerreibt den rosa Zettel zwischen seinen schwitzenden Fingern; die Schriftzeichen lösen sich im Schweiß auf. Die Schrift ist mehlig, und die rosig ergrauten Hände reißen das Papier in dünne Streifen. Die Streifen in briefmarkengroße Stücke. Der Freund schluckt die eine Hälfte der Zeichen hinunter, die andere wirft er ins Klo. Man hört die Spülung.

Der Anwalt schenkt der Schriftstellerin weißen Tee nach.

»Etwas zu essen?«

»Nein, danke.«

Der Anwalt gießt sich selbst Tee ein. Die linke Hand mit dem Metallreif, dem fettleibigen Wächter, beachtet er nicht.

Vergeblich. Sie sind zu viert. Die Ordnung bleibt dabei.

Das offizielle Lächeln der chinesischen Schauspielerin an der Wand auch.

Der Schriftstellerin dreht sich der Magen um. Es ist nicht auszuhalten. Die Zeit der Wanzen ist vorbei. Gekommen ist die Zeit der scharfsinnigen Abhöranlangen. Offen und unverhüllt, höhnisch, demütigend. Der Anwalt selbst hat entschieden, so zu leben. Seine Herausforderung, sein Schicksal. Gefasst nimmt er die Folgen seiner Entscheidung auf sich. Vier Jahre wird er mit dem Armreif schlafen, seinem ewigen Lover. Eine Ehe mit einem Armreif. Auf Schritt und Tritt Vorsicht und Isolation. Vier Jahre lang. Keiner weiß, was eine solche Vorsicht mit seinem Denken, seiner Wahrnehmung, seinem Benehmen und Handeln macht. Im alten China folterte man gefesselte Gefangene, indem man ihnen in regelmäßigen Intervallen Wasser auf den Kopf tropfen ließ. Bis sie wahnsinnig wurden.

Der Wasserhahn, aus dem es auf die Stirn des Anwalts tropft, ist noch zersetzender. Sekunden tröpfeln hinunter. Über jede Sekunde wacht ein Hund und leckt sie weg. Die Uhr zeigt die Zeit des Anwalts an.

Sie nippen am weißen Five o’Clock Tea. Die Konversation ordnet sich dem Armreif unter: Wie war, wie ist, wie wird das Wetter sein. Wie lange müssen welche Teesorten bei welcher Wassertemperatur ziehen.

Die Schriftstellerin denkt an chinesische Literatur. Der Anwalt und der Freund haben jeweils einen unsichtbaren Kalligraphiepinsel und schreiben in die Luft. In der klassischen chinesischen Literatur waren uneindeutige Titel gebräuchlich. Für den Leser gehörte eine abweichende Lesart ganz natürlich zum gemeinsamen semiotischen Spiel. Die vieldeutige Schreibart war notwendige Grundlage für den Autor. Und ohne Mehrdeutigkeit hätte sich der Leser betrogen gefühlt. Zu dem semiotischen Spiel gehören auch die Titel zweier kanonisierter Texte: Das Große Lernen und Das Buch von Maß und Mitte.

Die Schriftstellerin hört dem gesprochenen Wort zu, das »abweichend« verstanden werden kann. Für die beiden Männer ist das Gesprochene klar und verständlich. Es trägt eine Bedeutung, die sich der Schriftstellerin nicht erschließt.

Sie verlassen die Wohnung. Steigen in den Fahrstuhl. Der Körper eines weißbehemdeten Mannes schlüpft in die Fahrstuhlkabine, ein graues Jackett über der Schulter. Als sie das Gebäude verlassen, schießt das weiße Hemd ein Foto von ihnen. Frech und wortlos. Als handelte es sich bloß um eine Aufnahme von zwei Europäern, zwei zufälligen, weißen Touristen. Die Schriftstellerin ist so überrumpelt, dass sie der Fotolinse des Weißbehemdeten ein nettes Lächeln schenkt; die Stimme der Sirenen im Ohr, cheese und »Achtung, ein Vögelchen!«. Die schwarze Krähe raschelt mit den Flügeln.

Vor der verglasten Außentür kommen drei grau gekleidete Männerkörper auf sie zu, die vor dem zigarrenartigen Gebäude herumgestanden haben. Die Schriftstellerin muss ihren schwarzen Rucksack öffnen. Eine Männerhand taucht hinein und wühlt darin herum wie in einer Lostrommel. Der Freund wird abgetastet. Beide müssen sich ausweisen.

Kann man gleichzeitig leben und schreiben?

Das Leben greift mit seinen eigenen Themen an.

Worte, die einen in Europa von allen Seiten bestürmen, bedeuten hier nichts.

Worte, die hier auf eine Miniaturwaage gelegt werden, bedeuten Leben oder Tod.

Für andere Menschen bleibt der Schriftstellerin weder Zeit noch Energie. Sie hat beide Hände voll damit zu tun, den inneren Kosmos im Griff zu halten; in ihr leben viel zu viele Welten, und sie verlangen ihr so viel ab.

Lebenslang staunen wie ein Kind, das ist das Ziel.

Dies sind Stunden aus Blei. Über Prag legen sich Streifen von Grau und Blau. Vertikale Striemen in der Ferne schicken bald Regen auf die Erde. Die Schriftstellerin verlässt ihre Wohnung nicht. Jede zwischenmenschliche Begegnung kostet sie viel Energie; ihr sonnendurchwärmtes Gleichgewicht ist zu zerbrechlich, um Gespräche mit Fremden zu riskieren, egal mit wem. Das Schreiben, die beständige Tätigkeit ihres Geistes, gleicht einem schmalen Pfad über dem Abgrund.

In Peking gibt es keine Pfade. Nur Abgründe.

Der Freund hat seit seiner Jugend graue Haare. Sie wirken unschuldig und machen ihn paradoxerweise jünger. Als hätte er die Sterblichkeit überwunden. Mit einer Pinzette reißt er der Schriftstellerin einzelne Haare aus den tigerorangen Locken. Sie ragen am Scheitel grau in die Luft. Sind stärker, härter. Ein Warnsignal von irgendwo; sie hat nicht ewig lang Zeit.

Ein Baum vor dem Fenster. Wie gerne würde sie sich an ihm erhängen.

Als Vogelscheuche die Scharen der schwarzen Krähen verjagen.

Nadeln unter der Haut. Nadeln in der Haut. Der Körper warnt sie vor irgendetwas. Oder er schützt sie. Sie sollte das Haus verlassen, frische Luft schnappen. Dabei könnte sie aber anderen Menschen begegnen. Sie schließt das Leben in die Arme, und die glitschige Schlange schlüpft ihr aus den freien Händen; sie fällt in die Tiefen des Teiches vor dem Pekinger Sommerpalast. Den Körper lässt sie auf der Oberfläche zurück. Steht dort das Zeichen hun für eine Seele, die außerhalb des Körpers existiert? Steht dort das Zeichen po für eine Seele, die zeitgleich mit dem Körper stirbt?

Die Schriftstellerin schläft um Mitternacht ein. Träumt einen chinesischen Traum. Wacht gegen drei Uhr morgens auf. Schluckt eine Schlaftablette. Dem Traum schmeckt die Schlaftablette nicht. Sie träumt einen tschechischen Traum. Wacht gegen fünf Uhr morgens auf. Niedergeschlagen liest sie ihre Nachrichten. Zwischen den gelesenen Zeilen schimmert vergangenes Leben durch, all die Begegnungen, Hoffnungen, ach Mensch, vergieße keine Tränen, solange du hoffen darfst. Der Kopf ist überspannt, arbeitet auf vollen Touren. Sich nicht von Unwissenheit retten zu lassen ist das Ziel; dabei ist Unwissenheit eine Überlebensstrategie, eine äußerst wirksame noch dazu. Eine bestimmte Art von Unwissenheit schützt jede Gesellschaft, jede Nation, jeden Geist. Die eigene Vergangenheit nicht zu kennen.

Die Bösen gewinnen, weil sie sich nicht an die Regeln halten. Das hat Olivie gesagt. Olivie konnte alles auf einfache Art zusammenfassen. Olivie aus der Stadt Peking.

Stunden aus Blei

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