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Schein-Riesen der Medienlandschaft

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Die Zuschauer öffentlich-rechtlicher Sender werden hier bereits Anfang der 1990er-Jahre von einem neuartigen Format überrascht, das den Auftrag des Fernsehens als Dokumentator gesellschaftlicher Realitäten in bislang ungeahnter Weise erfüllt. In langen Einstellungen wird dem Publikum eine Alltagserfahrung präsentiert, die jeder aus eigenem Erleben kennt, aber bislang kaum für berichtenswert hielt: Ein Mann mittleren Alters im Trainingsdress, modisch frisiert mit damals aktuellem Minipli, von der Kamera in der kleinbürgerlichen Umgebung seines heimischen Schlafzimmers überrascht, spekuliert in unverfälscht rheinischem Dialekt minutenlang über die Herausforderungen eines arbeitsfreien Tages: Erst noch eine Zigarettenpause lang aus dem Fenster schauen oder unverzüglich die Betten aufdecken und den Teppich säubern, das ist hier die Frage.

Wer die Einstellung zunächst für ein Amateurvideo halten muss, das unverdient seinen Weg in ein Massenmedium gefunden hat, wird bald eines Besseren belehrt. Es handelt sich um eine Folge der Dokumentarserie Die Fussbroichs (WDR ab 1990), Episoden aus dem Alltag einer Kölner Arbeiterfamilie, deren Staffeln monatelang von sich reden machten und aufgrund hoher Einschaltquoten inzwischen Kultstatus beanspruchen können.

Bald war nicht mehr zu unterscheiden, was hier distanzlos berichteter Alltag einer deutschen Durchschnittsfamilie ist oder aber eine ironisch kolportierte Inszenierung aus dem Milieu der unteren Mittelschicht. Diese Begegnung mit einer banalen Realität, die gleichsam im Verhältnis eins zu eins alles abbildet, was jeder täglich erlebt oder in seinem eigenen begrenzten Umfeld erfahren kann, ist allerdings nur Startsignal einer Vielzahl ähnlicher Formate, die seither über ein geduldiges Publikum hereinbrechen – und zwar keineswegs ausschließlich im Privatfernsehen, das seinen Ruf konkurrenzloser Seichtheit zu verteidigen hat.

Die 1999 in den Niederlanden entwickelte und heute bereits legendäre Serie Big Brother (erst RTL, dann Premiere) wird schnell zum Vorbild für andere Sendekonzepte. Ihre Staffeln beobachten bekanntlich das scheinbar alltägliche Leben und Lieben normaler junger Leute, die im engen Raum eines Wohncontainers ständig unter visueller Kontrolle und dabei im gegenseitigen Wettbewerb stehen.

Hier präsentiert sich die einmalige Chance, aus dem Nichts in kurzer Zeit zum Fernsehstar zu avancieren. Man wird berühmt, indem man sein intimes Leben vor der Republik ausbreitet beziehungsweise vor einem Publikum, das bei jeder Ausstrahlung rund drei Millionen Zuschauer zählt. Besonders hohe Zuschaltquoten verbucht die Sendung, wenn sich ein bekannter Gesangsinterpret oder Sportler in den Container verirrt und die Inszenierung mit einer Aura jener Prominenz vergoldet, die andere über ihre Teilnahme am Wettbewerb erst erreichen wollen.

Die ursprünglich in Großbritannien erfundene Erlebnisshow Ich bin ein Star – holt mich hier raus! wird seit 2004 auf RTL ausgestrahlt und in der fünften Staffel 2011 mit dem Untertitel Prominente im Dschungel zu besten Sendezeiten am Samstagabend zelebriert. Wer auch immer aus gleich welchem Grund zeitweise von sich reden macht, kann hier mithilfe einer saftigen Gage seine Privatinsolvenz hinauszögern, indem er Ekelgefühle niederkämpft und sich unter den konstruierten Bedingungen eines exotischen Dschungelcamps endgültig lächerlich macht.

Der Reiz des Formats besteht im schnellen Aufstieg in die Prominentenriege, wie er etwa im hautengen Kontakt mit Spinnen oder Kröten erreicht werden soll. Die Sendung wird im Durchschnitt von fünf bis acht Millionen Zuschauern verfolgt. Der Psychiater Mario Gmür erläutert dazu in der Frankfurter Allgemeinen, die Sendung künde von einer regrediert-infantilen Verfassung. Das Sadistische werde längst nicht mehr sozial geächtet: Die Zuschauer wollten bei der Geburt und der Hinrichtung von Helden dabei sein. Wer aber für ein Honorar von 50.000 Euro Maden und Mäuse verzehrt – was wird der wohl für die doppelte oder die zehnfache Summe tun?

Auf anderen Frequenzen zelebriert man die Einladung zu einem vorgeblich privaten Dinner, dessen Tischgenossen unter dem Vorwand vermeintlicher Bekanntheit vor die Kamera gezerrt werden (Zur Erläuterung: Die Teilnehmer eines so genannten Promi-Dinners sind Prominente, weil sie am Promi-Dinner teilnehmen – Tautologie, die uns sagen will: Eigentlich sind wir alle Promis). In langen Sequenzen wird der Zuschauer Zeuge eines häuslichen Ablaufs vom Erwerb der Zutaten bis zur Zubereitung der Speisenfolge, vom Tafeldecken und Kredenzen des Menus über ein animiertes Tischgespräch (Thema ist das Dinner selbst) bis zur abschließenden Bewertung der gastronomischen Leistung durch die illustren Teilnehmer eines Gastmahls, die ihrerseits demnächst ihre lukullischen Qualitäten offenbaren sollen; womit die nächste Folge einer nicht enden wollenden Gastgeberstory bereits programmiert ist (Das perfekte Dinner seit 2006 auf VOX).

Aber nicht allein Alltagsrituale des Lifestyles unter besser Verdienenden sind den Sendern lieb und teuer, auch die gegenteilige soziale Dimension verdient großformatige Beachtung. Ein wachsender Kreis von Deutschen kehrt seiner gewohnten Umgebung den Rücken auf der Suche nach wirtschaftlich lukrativeren Horizonten. Folglich finden sich abendfüllende Fernsehformate, die hoffnungsvolle deutsche Emigranten auf dem Weg in die neue Heimat (SAT1 ab 2007) begleiten und deren ungewohnte Alltagserfahrung detailverliebt per Kamera dokumentieren. Situationen mithin, die man von zu Hause bestens kennt, die allerdings jetzt unter veränderten Bedingungen einer fremden Auslandsumgebung neu inszeniert werden: Von der Jobfindung oder der Eröffnung des eigenen Restaurants über die Einschulung des Nachwuchses bis hin zur Suche nach einer neuen Bleibe, entsprechender Papier- und Behördenkrieg inbegriffen.

Wer hätte gedacht, dass man es ohne entsprechende Sprachkenntnis in Kanada oder Südspanien anfänglich und womöglich auf Dauer schwerer hat als zuvor in Wanne-Eickel? Mit der Generalbotschaft Alles nicht so einfach! binden entsprechende Serien in der Endlosschleife das Publikum ganzer Fernsehabende. Falls man nicht zum konkurrierenden Nachbarsender umschaltet, der mit dem neu erfundenen Berufsbild eines Finanzcoachs (WDR ab 2007) näher bleibt an der neuen deutschen Realität.

Die finanziell prekäre Situation wachsender Bevölkerungsgruppen, die sich durch Arbeitslosigkeit, Schicksalsschläge oder eigene Unfähigkeit in der Überschuldung finden und ein Leben auf Hartz-IV-Niveau gewärtigen, wird hier zum Anlass einer voyeuristischen Inszenierung. Gezeigt werden kleinere und größere Probleme von Zeitgenossen, deren Haushaltsbudget nicht bis zum Monatsende reicht. Dabei spekulieren die Macher derartiger Pseudo-Dokumentationen und Unterhaltungsshows (Raus aus den Schulden seit 2007 bei RTL) weniger auf die Solidarität einer Zuschauergemeinde, der es durchweg besser geht als den porträtierten Opfern der Wohlstandsgesellschaft. Man baut eher auf den sogenannten Underdog-Effekt: Angesichts brüchiger sozialer Realitäten scheint es zumindest tröstlich, wenn anderen widerfährt, was man für sich selbst nicht als wahrscheinlich erachtet, aber insgeheim doch befürchtet.

Gott sei Dank braucht man ja nicht selber einen Trödel-King, wie er auf dem benachbarten Kanal (WDR ab 2007) ins heimische Wohnzimmer dringt. Wenn man ihn ruft, durchforstet dieser robust tätowierte Herr mit Lederweste in Begleitung eines Sendeteams die Keller und Garagen seiner Mitmenschen auf der Suche nach vermeintlichem Sperrmüll, den man bei souveräner Kenntnis entsprechender Absatzmärkte im Trödlerumfeld noch zu Geld machen kann. Anlass genug zu wöchentlichen und gleich mehrstündigen Expeditionen durch die Rumpelkammern der Nation, die bei aller Banalität reichlich Gelegenheit bieten zu persönlicher Ansprache des Zuschauers: Hand aufs Herz, horten wir nicht alle irgendwo auf dem Dachboden neben Omas Truhe auch des verstorbenen Onkels Briefmarkensammlung, die womöglich ungeahnte Werte birgt – wer weiß das schon so genau wie unser medialer Trödelberater?

Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn

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