Читать книгу Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn - Raimund Allebrand - Страница 9
Ich bin dann mal weg
ОглавлениеReichlich Polemik bei der Rezension eines harmlosen Reiseberichtes, möchte man sagen. Noch dazu aus der Feder eines Entertainers, dem auch der Autor dieser Zeilen durchaus einiges an Sympathie entgegenbringt. Das heißt, mit Kanonen schießen, und zwar auf Spatzen. Etwas Toleranz täte gut! Hat nicht jeder längst seinen eigenen Jakobsweg? Oder gibt womöglich ein millionenfach verkaufter Buchtitel Hinweise auf die Mentalität und das Grundgefühl der Gegenwart, auf eine Art postmodernen Mainstream, falls es ihn geben sollte? Die Antwort überlasse ich meiner Leserschaft – und erinnere mich eines Bonmots von Woody Allen: Ich wollte immer mal in mich gehen – aber leider war da auch niemand!
Bei aller Selbstironie des amerikanischen Komikers gibt es hier wenig zu lachen und keinen Grund zu Schadenfreude. Denn dieses Zitat deutet auf ein Dilemma, das alle betrifft. Ein direkter Kontakt mit der inneren Lebenswirklichkeit scheint heute mehr denn je geboten, will man sich nicht verlieren im verwirrenden Angebot der Lebensmöglichkeiten, im Wald der Optionen, im Dschungel der Existenzverwirklichung. Der gelegentliche Besuch bei sich selbst, das Horchen auf eine innere Stimme, ist hier gewiss eine gute Investition, wo immer sie stattfinden mag, und sei es auf dem Jakobsweg. Allerdings bietet ein innerer Monolog wenig Inhalt, sucht er nicht früher oder später eine Brücke zur gemeinsamen Realität, die offenbar immer schwerer zu finden ist.
Dem Psychoanalytiker und Fromm-Schüler Rainer Funk zufolge begegnet uns heute als neuartiger Persönlichkeitstyp der sogenannte Ich-Orientierte. Statt sich einer vorgefundenen Realität unterzuordnen oder auf hergebrachte Vorbilder zu rekurrieren, erzeugt dieser Zeitgenosse selbstbestimmt und frei von Vorgaben seine eigene Realität (Funk 2005). Ein europäischer Wanderweg nach Santiago, der, losgelöst von seinem traditionellen Hintergrund, neuerdings das eigene Selbst zum Pilgerziel erhebt, deutet womöglich in diese Richtung: die Orientierung am eigenen Ich als Grundzug der postmodernen Kultur?
Bald Mitleid und bald Ärgernis heischen Zeitgenossen, die sich selbst wichtig nehmen ohne hinreichenden Grund. Bedauerlicherweise bleibt unsere Egozentrik für die nähere und weitere Umgebung nur interessant, solange das Ego auch für andere etwas hergibt. Vor allem Künstler und Kulturschaffende wissen um diesen Engpass, wenn sie aus dem kreativen Potenzial ihrer Persönlichkeit nicht allein neue Wirklichkeiten schöpfen, sondern diese einem Publikum erfolgreich präsentieren und somit verkaufen müssen.
Demgegenüber zeigt ein Blick auf die Inszenierungen der heutigen Medienlandschaft, dass ein exklusiver Selbstbezug bald an gewisse Grenzen stößt. Das Ergebnis heißt dann Langeweile. Allerdings muss man nicht einen millionenfach verkauften Buchtitel als Referenz bemühen, diese These zu erhärten – es genügt ein Blick ins abendliche Fernsehprogramm.