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Holzweg nach Santiago

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Kerkelings flüssig erzählte Erlebnisschilderung gerät zu einer Mischung von Ausgleichssport, Zufallsbekanntschaften und einer tieferen Bedeutung, die sich bald im Banalen verliert. Ein wochenlanger Fußmarsch bietet dazu reichlich Anlass, wenn mürrische Gastwirte, skurrile Weggenossen und lädierte Fußsohlen farbig geschildert werden: Jakobsweg light, Pilgerschaft als zeitgemäße Kulisse einer Selbstbespiegelung, die aufgrund der Prominenz des Autors mit millionenfacher Beachtung rechnen darf.

Wenn sich etwa Lieschen Müller beim Wandern eine Blase läuft, so handelt es sich um eine Banalität, die man eher schamhaft nur im engsten Freundeskreis erzählt. Geschieht ebendies jedoch einem sogenannten Prominenten, wird ein vorübergehender Muskelkrampf schnell zum Kulturereignis.

Doch wird der Leser auf Kerkelings Weg durchaus mitgenommen, denn was ihm widerfährt, könnte jedem von uns ebenfalls geschehen. Nicht das Außergewöhnliche oder Einzigartige scheint hier mitteilenswert, sondern das, was jedem passiert und was im Grunde jeder schon weiß oder ahnt. In diesem Sinn läuft Hape Kerkeling als pilgernder Marathon-Man auf internationalem Asphalt stellvertretend für Deutschland.

Anders steht es etwa um den Bergsteiger und Autor Reinhold Messner, der in seinen Büchern über extreme Erfahrungen berichtet und uns darüber staunen lässt, wozu ein Mensch, aus welchen Motiven auch immer, fähig ist. Von ihm sind wir aber meilenweit entfernt und wir werden ihn niemals einholen, schon gar nicht auf einem Achttausender. Wenn jedoch Kerkeling, der sympathische Prominente von nebenan, nur das erlebt, was auch ich so ähnlich erleben kann, dann bin ich selbst dadurch ebenfalls ein Stück weit prominent.

Deshalb macht es nichts aus, wenn Kerkeling am Ende nichts Besonderes zu sagen hat, denn ich hätte auch nicht mehr zu berichten aus diesem Wanderurlaub auf den Spuren mittelalterlicher Pilger, und dieses Wenige wird gleichsam geadelt von Kerkeling. Durch die Lektüre des Buches erfahren auch wir durchschnittliche Leser den Ritterschlag einer gewissen Prominenz. Hier überschneidet sich das Interesse des Autors mit dem seines Publikums, was vielleicht erklären mag, warum ein Buch mit wenig Inhalt viel gelesen wird oder zumindest weit verbreitet ist.

Daneben beruhen dieser Effekt und sein Erfolg auf dem kurzen Gedächtnis eines Medienbetriebs, der sich der authentischen Bedeutung des Pilgerwegs nicht erinnern kann, weil der historische Zusammenhang dem europäischen Kulturbewusstsein abhandenkam. Ihrer Hintergründe entkleidet steht die jüngst erst wiederentdeckte Pilgerstraße recht plötzlich im grellen Scheinwerferlicht einer postmodernen Sinnsuche, deren Bedarf an Wertorientierung immer verzweifelter wird. Der Camino als Symbol einer längst vergessenen Spiritualität signalisiert zumindest die Ahnung einer einstmals vertikal verankerten Gesinnung, die über die eigene Person hinaus weist.

Gewiss waren die mittelalterlichen Pilger aus mancherlei Gründen unterwegs zum Ende der damaligen Welt; in zeitgenössischen Berichten sind diese Anlässe gut dokumentiert. Die lange Wanderung nach Santiago verspricht seit dem Hochmittelalter vor allem die Vergebung von Sündenstrafen, daneben spielen allerlei Ziele eine Rolle: Handel und Wandel, Tourismus, soziale und erotische Erfahrungen fernab heimatlicher Zwänge. Die Suche nach sich selbst zählt allerdings durchaus nicht unter diese oftmals recht weltlichen Motive. Der Sinn des Lebens steht seinerzeit außer Frage, und der spirituelle Kompass weist nicht auf die eigene Person, sondern in die Vertikale.

Demgegenüber geht man heute wie selbstverständlich davon aus, dass sich der Wanderer am Pilgerweg irgendwie auf der Suche befindet. Unterwegs-Sein heißt demnach, ein Ziel suchen, im Zweifelsfall einen Sinn, zumindest aber einen Weg zu sich selbst. Oder eben: Der Weg ist sein eigenes Ziel. Dieses Konzept des Pilgerns als Sinnfindung steht in klarem Gegensatz zur traditionellen Bedeutung eines Pfades, dessen Sinn man nicht erfragen musste, weil sein Ziel jedem bekannt war.

Wer nicht weiß, wohin er will, darf sich nicht wundern, wenn er woanders ankommt, sagt Mark Twain. Soll der Weg ein Ziel haben, muss man um seinen Sinn bereits wissen, sonst bricht man auf, weiß nicht wohin und landet entsprechend wieder bei sich selbst. Zudem: Wege zu sich kann man und muss man immer und überall suchen und findet sie womöglich im heimischen Stadtpark oder auf der Couch des Analytikers besser als im sommerlichen Geschiebe eines Wanderpfads, der inzwischen von Abertausenden belaufen wird. Nicht zu reden von der Weisheit des spanischen Dichters Antonio Machado: Wanderer, deine Spuren sind der Weg, sonst nichts. Es gibt keinen Weg. Weg entsteht im Gehen … und schaust du zurück, dann siehst du einen Pfad – den du nie mehr betreten kannst!

Das postmoderne Konzept des Wanderns auf dem Jakobsweg ist somit das ziemliche Gegenteil seiner ursprünglichen Dimension. Weil er aber Jahrhunderte lang gründlich vergessen wurde, wird der Pilgerweg heute – ganz unbelastet von historischer Erinnerung – neu erfunden. Er führt dann nicht über Santiago in die Transzendenz oder, wie tausend Jahre zuvor, mit einem christlichen Apostel in den Kampf gegen muslimische Spanier, sondern endet in der horizontalen Dimension des eigenen Hörsturzes, den es auf einem Umweg über das Mittelalter zu kurieren gilt.

Das Unverwechselbare des Jakobswegs, seine historische Szenerie und zeitliche Landschaft, die ihn von den Wegen nach Rom oder Altötting unterscheidet, kommt dabei zu kurz. Seine politische Dimension, die Gratwanderung christlicher und muslimischer Bevölkerung in Spanien und darüber hinaus, ist den allermeisten Besuchern heute kaum einen Gedanken wert. Zu Unrecht, denn die historische Wanderung der Iberischen Halbinsel – Terror und Toleranz in einer Jahrhunderte währenden Konfrontation mit dem Islam – wäre vielleicht hilfreich in Zeiten eines religiös bemäntelten Fundamentalismus auf muslimischer Seite. Nachdem die Christenheit zwischenzeitlich ihre totalitären Impulse, geläutert durch die Moderne, weitgehend unterdrücken musste.

Andererseits ist der Patron des christlichen Spanien überall am Wege als Matamoros dargestellt, als Maurentöter, und schon deshalb kein guter Gesprächspartner für den Islam. Jakobus empfiehlt sich unter diesem Aspekt nicht unbedingt als Kandidat für den Friedensnobelpreis und präsentiert sich alles andere als politisch korrekt. Der Pilgerweg als Kriegspfad gegen Muslime! Da ist man schon froh, wenn postmoderne Pilger wie Hape Kerkeling diesen ideologischen Aspekt einfach ausblenden.

Sonst wäre nämlich der Weg nach Santiago längst, seiner historischen Bedeutung entsprechend, zum heutigen Symbol eines Heiligen Krieges gegen den Islam avanciert; statt Hape Kerkeling wäre George W. Bush nach Santiago gepilgert; Attentate nicht der baskischen ETA, sondern der muslimischen Al Kaida wären dort an der Tagesordnung, der Fremdenverkehr am Jakobsweg bräche zusammen – und Kerkeling hätte den Weg zu sich selbst in der Eifel suchen müssen. Oder im Schwarzwald.

Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn

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