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Längst bist du abgerückt

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von dem alten Mann, der einst so plötzlich vor dir erschien, sich formte vor deinen Augen aus ETWAS und ALLEM, was immer es auch war, der dich zu sich winkte und dir alles erzählte.

Nun ist mehr Distanz zwischen ihm und dir.

Doch wie seltsam, weder er noch du, keiner von uns, denkst du, bewegte auch nur ein Bein. Es ist, als wärest du einfach geräuschlos zurückgefahren, als wäre deine Bewegung nur ein Zoom in einem Film gewesen.

Und doch ist er dir noch immer so nah: der alte Mann, der da nun sitzt so klein und - allein. Eine dicke, nein, keine Brille auf der großen Nase - wie komm’ ich nur darauf? -, nicht mehr allzu viel Haare und das, was blieb, ist weiß. Groß war er wohl einst in jungen Jahren, doch heute ist sein Rücken krumm.

Jetzt schaut er auf.

Falten im Gesicht, denkst du, graue Bartstoppeln - könnte sich mal rasieren. Wage erinnerst du dich. Lang ist’s her, dass er dir zum ersten Mal erschien, aus den Nebeln trat, in einer warmen Sommernacht war das.

Oder flog die Zeit dahin, weil er dir so viel erzählte, weil einfach so viel geschah?

Du schaust dich um, drehst dich im Kreis, ohne aus dem bläulich leuchtenden Drehstuhl, einem Chefsessel gleich, den jedoch kein Leder bedeckt, aufzustehen, der deinen Nacken stützt und deinen Körper hält und dich zugleich so zart umschmiegt. Deine Arme und Beine hüllt er ein, als wäre er ein Teil von dir. Er ist es.

Du befindest dich im Zentrum des Platzes. Wann kam ich hierher? Warum?, fragst du dich.

Ringsum ist freier Raum. Bänke stehen im Kreis vor Hecken und Platanen. Dahinter liegt die im Kreis herumführende Straße, stehen still die Häuser, führen die anderen Straßen sternförmig nach irgendwohin. Jetzt sind sie alle verlassen. Nur wir sind hier, zu zweit allein im Park der Stadt bei Mondinschein.

Saß dort auf einer Bank nicht einst einmal ein junger Mann und sah empor ins Licht der Vollen Mondin, die ihn rief und rief, die ihn zu sich rief? (Der Ruf der Mondin 1992)

Ein Schatten dort, das könnte alles sein, was von ihm blieb in dieser Welt, sein Geist vielleicht, der noch immer nicht begreift, was längst geschah.

Nachtfalter flattern hin zum Licht der Laternen. Dort müssten auch Spinnennetze sein, denkst du. Bisweilen kommt eine Fledermaus auf der Jagd vorbeigehuscht. Ansonsten ist alles still, jetzt und hier in dieser einen klaren, warmen Sommernacht, denn die meisten Menschen schlafen. Wen wundert’s! Früh müssen sie raus aus dem Haus - zur Schule, zur Arbeit. Denn morgen ist weder Sonn- noch Feiertag noch Ferienzeit noch - damals.

Ist also alles längst vergangen?

Ja! Nein!

Alles vergeht. Nichts vergeht. Alles, was war, das ist.

Also war alles wahr!? Und auch er existiert, heute alt, doch damals jung. Und doch ..., denkst du verwundert und schaust ihn noch immer an. Gebannt, verzaubert lauschst du seinen nie gesprochenen Worten. Die Bilder, die er dir zeigt, die Töne, tausend Gerüche und Gefühle, selbst die Welten und Wesen, die da geboren werden und leben und wieder vergehen, all dies verändert sich - in dir.

Waren da am Anfang nur stottern, erinnern von kurzen Episoden, Splitter nur - Tropfen aus seinem Geist, so tritt nun aus Fels ein Quell, wird Bach und Fluss und Strom. Alles beginnt zu fließen und - zu flimmern. Also verändert sich auch der alte Mann.

Kann das denn sein? - der wird ja merklich jünger! - und das geht rasch! - von einem Augenblick zum andern, als wäre da Magie im Spiel. Schon ist der Wandel vollbracht.

Gegangen ist ein wenig Weiß, auch etwas vom Grau, mehr Farbe ist wieder in seinem noch immer schütteren, doch längeren Haar. Wie es weht im Wind!, den du nicht spürst, der hier nicht ist, den es gar nicht geben kann.

Du schaust ihn an, rückst näher ran, doch fasst du ihn nicht an.

Jetzt ist seine Haut fast faltenlos und ohne Altersflecke. Und dir dämmert - oder flüstert es dir jemand zu?:

Zehn Jahre könnten es gewesen sein.

Aber weshalb, wieso? Als Belohnung gar fürs Erzählen seiner Abenteuer, falls es denn wirklich geschah und nicht nur Dichtung war?

Dies alles fragst du dich noch und hörst ihn auch schon sprechen:

Ja, so ist es: Als alter Mann von 80 kam ich auf die Welt, damals in einer Stadt - der Stadt mit Namen Kaiserslautern. Mit 70 verließ ich den Wald. Nun bin ich 60 Jahre jung geworden.“

Staunend mit offenem Mund versuchst du zu verstehen. Jünger sieht er tatsächlich aus. Doch Schein und Sein sind zweierlei. Ist alles nur Illusion, Traum oder Zauberei?.

Im Zentrum des Platzes, wo einst Rosenhecken blühten, dann Blumenbeete waren, wächst nun überall grünes Gras. Heuschrecken springen - Sommerzirpen.

Dort liegt er schon auf den Rücken, schaut in die Himmel auf, schließt seine Augen.

Du hörst seine Stimme in dir flüstern, es ihm gleich zu tun.

So legst auch du dich ins Gras und schließt die Augen.

Du öffnest sie und findest dich - noch immer neben ihm auf der Wiese liegend wieder. Ein warmer Sommerregen fällt dir kitzelnd aus einer grauen Wolkendecke ins Gesicht. Du schließt deine Augen und - schaust von oben auf die Welt hinab, siehst im Zeitraffer, die Wasser der Erde verdunsten, Nebel am Morgen entstehen und zum Mittag hin vergehen. Überall sind da vom Tau benetzte Gespinste: Baldachine zwischen den Kräutern, spiralige Räder in den Lücken ausgespannt, jetzt noch, bis die Wärme sie wieder fast unsichtbar macht für Beute und Feind. Dann taucht eine andere Welt vor deinen Augen auf, in der die Nebel niemals vergehen, denn ...

Schau und lausche meinen Worten“, flüstert seine Stimme.

In der Ferne hörst du Krähen krächzen.

Sind es die, die du kennst? Rabenkrähen?

Oder sollten es gar die großen Kolkraben sein?

Wandlungen der Drei

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